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Nick Srnicek: Plattform-Kapitalismus

Rezensiert von Prof. Dr. Dr. Hans-Peter Heekerens, 14.06.2018

Cover Nick Srnicek: Plattform-Kapitalismus ISBN 978-3-86854-321-6

Nick Srnicek: Plattform-Kapitalismus. Hamburger Edition (Hamburg) 2018. 144 Seiten. ISBN 978-3-86854-321-6. D: 12,00 EUR, A: 12,30 EUR.

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Entstehungshintergrund

Das Buch ist die deutsche Übersetzung des bereits 2016 bei Polity Press, Cambridge erschienenen Originals „Platform Capitalisme“. Das verlegerische Risiko hat die Hamburger Edition, der 1994 gegründete Verlag des Hamburger Instituts für Sozialforschung (HIS) auf sich genommen. Das HIS wurde 1984 in Hamburg gegründet von Jan Philipp Reemtsma mit Mitteln aus seinem Erbe. Einer breiten Öffentlichkeit bekannt wurde es ab 1995 durch seine „Wehrmachtsausstellung“. Ohne die Hamburger Edition wäre der kritische Diskurs im deutschsprachigen Raum um Vieles ärmer.

Der Verlag hat für ein ansprechendes Äußeres (Hardcover und Klein-Oktav, sprich Jackentaschenformat) gesorgt und mit Ursel Schäfer eine ausgezeichnete Übersetzerin gewonnen. Bekannt wurde diese einem breiteren Publikum als (Mit-)Übersetzerin von Barack Obamas „Hoffnung wagen“ (München: Riemann, 2007). Sie ist die Übersetzerin des zeitgleich im selben Verlag erschienenen Buches „Die Produktion des Geldes. Ein Plädoyer wider die Macht der Banken“ der britischen Wirtschaftswissenschaftlerin Ann Pettifor, vgl. die Rezension.

Autor

Der gebürtige Kanadier Nick Srnicek, Jg. 1982, ist seit 2017 Dozent für Digital Economy im Department of Digital Humanities des King's College London, des ältesten College der University of London und einer der angesehensten Hochschuleinrichtungen Europas. Er studierte Psychologie und Philosophie an der University of Western Ontario und promovierte 2013 an der London School of Economics.

Unlängst ist sein zusammen mit Helen Hester, Associate Professor of Media and Communications an der University of West London, verfasstes Buch „After Work: The Politics of Free Time“ (London: Verso, 2018) erschienen. Darin geht es nicht um einen in den 1990ern gesellschaftsfähig gewordenen Partytyp, sondern um das Thema „Post-Arbeitsgesellschaft“. Dem war er bereits früher nachgegangen in „Die Zukunft erfinden. Postkapitalismus und eine Welt ohne Arbeit“ (Berlin: Edition Tiamat, 2016), verfasst zusammen mit Alex Williams, Dozent für Digital Media & Society an der University of East Anglia.

Als „die vier Pfeiler der Post-Arbeitsgesellschaft“ benannt werden: „Automatisierung“, „Verkürzung der Arbeitszeit“, „ein bedingungsloses Grundeinkommen“ und „gegen das neoliberale Arbeitsethos kämpfen“ (Srnicek, 2017).

Thema

Das Buch begründet und entfaltet die Zentralthese, „wegen der seit Langem sinkenden Profitabilität der Produktion habe sich der Kapitalismus den Daten zugewandt, als Möglichkeit, wirtschaftliches Wachstum und Vitalität angesichts eines lahmenden Produktionssektors zu erhalten.“ (S. 11)

Noch etwas genauer skizziert der Autor das Thema des Buches mit folgenden Worten:

„Die schlichte Behauptung dieses Buches lautet, dass wir eine Menge über große Technologie-Firmen lernen können, wenn wir sie als wirtschaftliche Akteurinnen in einer kapitalistischen Produktion begreifen. Das bedeutet, dass wir sie nicht als kulturelle Akteurinnen ansehen, die sich von den Wertvorstellungen der kalifornischen Ideologie leiten lassen, oder als politische Akteurinnen, die nach Macht streben. Vielmehr müssen sie nach Gewinn streben, um die Konkurrenz abzuwehren.“ (S. 8) Damit wäre einem grundsätzlichen Missverständnis gewehrt.

Ein zweites ebenso basales Missverständnis wäre, unter „Technologie-Firmen“ ausschließlich facebook, google & Co zu verstehen. Dem Autor geht es um „Digitalwirtschaft“. Damit gemeint ist das Insgesamt der Unternehmen, „die bei ihren Geschäftsmodellen zunehmend auf Informationstechnologie, Daten und das Internet setzen. Dieser Bereich geht quer durch alle traditionellen Sektoren – einschließlich Produktion, Dienstleistungen, Verkehr, Bergbau und Telekommunikation – und wird für die heutige Wirtschaft immer wichtiger.“ (S. 10)

Bliebe noch zu klären, was der Autor unter „Plattform-Kapitalismus“ versteht. Die Kernthese des Buches lautet, dass der Kapitalismus infolge historischer Ereignisse seinen Erhalt nicht mehr auf traditionelle Weise sichern kann. Im Zuge der Entwicklungen seit Ende des Zweiten Weltkrieges hat sich der Kapitalismus des 21. Jahrhunderts zu einer Wirtschaftsform transformiert, die zunehmend auf Daten aufbaut und diese nutzt, um das Wirtschaftswachstum aufrechtzuerhalten und damit einem trägen Produktionssektor entgegenzuwirken. Diese neue Logik des Kapitalismus mündet in der Entstehung von Plattformen als neues Geschäftsmodell.

Aufbau und Inhalt

Die vorstehenden Referierungen stammen aus der Einführung, die neben bedeutsamen Klärungen, von denen die wichtigsten oben referiert wurden, eine knappe Zusammenfassung der sich anschließenden drei Kapitel enthält. Die beiden ersten sollen die Argumentations- und Verstehensvoraussetzungen für das dritte schaffen.

In Der lange Niedergang (1. Kapitel) „geht es um die verschiedenen Krisen, die die Grundlagen für unsere heutige Wirtschaft in der Ära nach 2008 gelegt haben. Die neuen Technologien werden als Ergebnis tiefer liegender kapitalistischer Tendenzen in die geschichtliche Entwicklung eingeordnet; dabei wir gezeigt, wie sie in das System von Ausbeutung, Exklusion und Wettbewerb hineinverwoben sind.“ (S. 12) Das Kapitel endet mit Schlussfolgerungen aus der Wirtschaftsentwicklung vom Ende des 2. Weltkriegs bis heute; der beobachtende Blick gilt vor allem den USA.

Die Wirtschaftsentwicklung vom Ende des 2. Weltkriegs bis heute ist nach Darstellung des Autors gekennzeichnet durch drei Zäsuren: das Ende der Nachkriegsausnahmejahre in den 1970ern, das Platzen der Dotcom-Blase im Jahr 2000 und das der Immobilienblase von 2008.

Im 2. Kapitel Plattform-Kapitalismus unternimmt der Autor den Versuch, die Diskussion zu den technologischen Entwicklungen, die das Sammeln, Speichern, Analysieren und Weitergeben von Daten zunehmend mehr möglich und fortlaufend billiger gemacht haben, zu ordnen und abschließend zu bewerten. Geboten wird ein Überblick über die Entstehung von Plattformen und ihre unterschiedlichen Erscheinungsformen: Werbe-, Cloud-, Industrie-, Produkt- und „Schlanke“ Plattformen.

„Schlanke“ Plattformen (Lean Platforms) sind neben Produktplattformen (wie Zipcar, Spotify oder Pandora) ein weiterer Typ von On Demand-Plattformen, deren Entwicklung seit Ende der Finanzkrise boomt. Auch bei diesem Typ werden Daten wichtig, um sich gegen Konkurrenten durchzusetzen; als Beispiele nennt der Autor Uber und Airbnb. Die bekanntesten Vertreter von Werbeplattformen sind Google und Facebook, während Amazon der Prototyp einer Cloud- oder E-Commerce-Plattform ist. Ein Beispiel für eine Industrieplattform bietet MindSphere von Siemens, das Produkte, Anlagen, Systeme und Maschinen verbindet sowie ermöglicht, die Fülle von Daten aus dem „Internet der Dinge“ (Internet of Things / IoT) mit umfangreichen Analysen zu nutzen. Wenn man in Deutschland von „Industrie 4.0“ spricht, ist IoT stets mitgedacht.

Das dritte und letzte Kapitel Große Plattform-Kriege gilt der Thematisierung aktueller Tendenzen und Herausforderungen von Plattformen und der Aufstellung von Prognosen zu ihnen. Ferner wird der Frage nachgegangen, welche Rolle der Wettbewerb in einer zunehmend von Monopolen geprägten Wirtschaft einnimmt. Zwar stellen Daten, Netzwerkeffekte und Pfadabhängigkeit (vgl. den entsprechenden Wikipedia-Eintrag) Hürden dar, um ein Monopol zu überwinden. Das bedeutet aber keineswegs das Ende des kapitalistischen Wettbewerbs, es hat sich lediglich dessen Gestalt verändert.

Im Wesentlichen, so die Einschätzung des Autors, wird Wettbewerbsfähigkeit nicht mehr allein und zunehmend weniger durch das Kriterium einer maximalen Differenz zwischen Kosten und Preisen bestimmt. Vielmehr tragen Datenerhebung und -analyse wesentlich zur Beurteilung der Wettbewerbsfähigkeit eines Unternehmens bei. Um wettbewerbsfähig bleiben zu können, müssen Plattformen deshalb Zweierlei tun: Die Abschöpfung, Analyse und Kontrolle von Daten intensivieren und in ihr Anlagevermögen investieren.

Diskussion und Fazit

Man merkt den Ausführungen des Autors an, dass er seinen Marx gelesen hat. Und er hält auch nicht hinter dem Berg mit seiner Sympathie für Menschen, die nicht zur „Kapital-Seite“ gehören. Aber all dies bedeutet doch nicht, man könne oder solle das Buch links liegen lassen. Fabian Ebeling (2017) hat in seiner Besprechung des englischen Originals das Buch mit „fordernd, nüchtern, eine gute Bestandsaufnahme“ charakterisiert. Dieser Bewertung schließe ich mich an. Weiter geben möchte ich seinen anschließenden Warnhinweis: „Die empfohlene Dosierung, angesichts der Materialfülle, die hier dargeboten wird: fünf Seiten am Tag.“ Für die deutsche Version dürfen es nach meiner Leseerfahrung aber auch 15 – 30 Seiten sein, abhängig von der Vorbildung in den Materialien, die in den beiden ersten Kapiteln abgehandelt werden. Dann ist man nach fünf bis zehn Tagen durch – und um viel wertvolles Wissen reicher.

Fazit: Wer von Plattformen ebenso wenig Kenntnis hat wie der Rezensent vor der Lektüre und mehr darüber wissen möchte, sollte dieses Buch kaufen, lesen – und danach an Freunde und Bekannte weitergeben.

Literatur

  • Ebeling, F. (2017). Alle auf der Plattform. taz vom 3.3.2017 (online verfügbar unter www.taz.de/!5385991/; letzter Aufruf am 24.5.2018).
  • Srnicek, N. (2017). „Arbeiten ist nichts Erstrebenswertes“ – Interview. taz vom 1.5.2017 (online verfügbar unter www.taz.de/!5399523/; letzter Aufruf am 23.5.2018).

Rezension von
Prof. Dr. Dr. Hans-Peter Heekerens
Hochschullehrer i.R. für Sozialarbeit/Sozialpädagogik und Pädagogik an der Hochschule München
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Es gibt 174 Rezensionen von Hans-Peter Heekerens.

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Zitiervorschlag
Hans-Peter Heekerens. Rezension vom 14.06.2018 zu: Nick Srnicek: Plattform-Kapitalismus. Hamburger Edition (Hamburg) 2018. ISBN 978-3-86854-321-6. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/23773.php, Datum des Zugriffs 07.06.2023.


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