Thomas Macho: Das Leben nehmen
Rezensiert von Prof. Dr. med. Hans Wedler, 01.10.2018
Thomas Macho: Das Leben nehmen. Suizid in der Moderne. Suhrkamp Verlag (Berlin) 2017. 530 Seiten. ISBN 978-3-518-42598-5. D: 26,00 EUR, A: 26,80 EUR, CH: 36,50 sFr.
Thema
In diesem umfangreichen, nahezu überbordenden Werk knüpft der Autor an eine Bemerkung Walter Benjamins an: danach sei der Suizid „die Eroberung der Moderne im Bereich der Leidenschaften“. Nach eigenem Bekunden in seinem Nachwort hat sich der prominente, zuvor in Berlin, jetzt in Wien tätige Kulturwissenschaftler und Philosoph über mehrere Jahre intensiv mit der „radikalen Umwertung“ des Suizids in unserer Zeit befasst und ist auf 450 Druckseiten der Frage nachgegangen, wie sich der Suizid zu einem „zentralen Leitmotiv der Moderne“ entwickeln konnte.
Macho präsentiert eine große Fülle an Informationen, wie die Gesellschaft in verschiedenen Zeitepochen die jedem Menschen gegebene Möglichkeit, dem eigenen Leben ein Ende zu setzen, bewertet und genutzt hat. Der Buchtitel spielt mit der Doppeldeutigkeit des Begriffs „sich das Leben nehmen“ – einerseits sich das Leben bewusst nutzbar zu machen, andererseits es zu beenden. Ins Zentrum gerät dabei eine Frage, die bereits auf der letzten Umschlagseite den angehenden Leser offensiv anspricht: „Wem gehört mein Leben?“.
- Gehört es, wie in monotheistischen Religionen gefordert, einem Gott?
- Gehört es der Mutter, die mich geboren hat?
- Gehört es der Gesellschaft, der ich verpflichtet bin, wie bereits Aristoteles seine Ablehnung des Suizids begründete?
- Oder steht es jederzeit allein in meinem Ermessen, über mein Leben zu verfügen?
Aufbau und Inhalt
In dreizehn Kapiteln (vgl. das vollständige Inhaltsverzeichnis) schildert Macho die wechselvolle Entwicklung menschlicher Einstellung zum Suizid, die sich im Wesentlichen auf die Beantwortung dieser entscheidenden Frage konzentriert, vornehmlich bezogen allerdings auf die alte, die westliche Welt. Eigene Abschnitte sind beispielsweise dem Suizid im Fin-de-Siècle, im Krieg und im Holocaust, dem politischen Suizid und dem heute grassierenden suizidalen Terrorismus gewidmet. Auch der Suizid in der Schule und die drohende Vernichtung der Menschheit durch die Atombombe kommen ausführlich zur Sprache, ebenso die aktuelle Debatte um den assistierten Suizid.
Die Wende, den Suizid als menschliche Option zu akzeptieren und nicht nur zu verachten und zu bestrafen, vollzog sich in Europa bekanntlich im Zuge des aus der Aufklärung folgenden Humanismus. Dass in anderen Kultgemeinschaften das Verdikt gegen den Suizid nach wie vor gilt, wird von Macho eher am Rande erwähnt (und gar nicht, dass selbst in einem aufstrebenden Staat wie Indien noch immer ein strafrechtliches Verbot Gültigkeit hat).
Hierzulande sieht Macho in unserer Zeit eine Entwicklung, weniger den Tod zu fürchten als die Langlebigkeit, das Nicht-sterben-können. Er belegt das mit zahlreichen Zitaten und Dokumenten, bis hin zu der Tendenz, selbst die Auslöschung der gesamten Menschheit in Erwägung zu ziehen: „Wie leben in einer suizidfaszinierten Welt, die gar nicht selten davon träumt, dem eigenen Untergang zuschauen zu können“.
Die von Macho herangezogenen Belege sind vielfältig: Schriften, Buch-Publikationen, philosophische Kernprodukte, aber auch künstlerische Werke, vor allem Romane und in großer Zahl Spielfilme, die sich mit der Suizidthematik befassen und die teilweise sehr ausführlich dargestellt werden, einschließlich ihrer schauspielerischen Besetzung. Weit über tausend Namen von Autoren und sonstigen Personen, die im Text Erwähnung finden, sind im angehängten Register aufgeführt, darunter auch einige – ganz wenige – Wissenschaftler, die sich in der Suizidprävention engagiert haben. In der heute dominierenden Pathologisierung des Suizids, seiner Deutung als Folge einer therapierbaren psychischen Erkrankung, sieht Macho ohnehin nur eine zeit- und gesellschaftsgebundene Einstellung, die an die Stelle der durch das christliche Verbot entstandenen Tabuisierung getreten sei. Die von Beginn an dem Menschen anhaftende Option bedarf sozusagen einer allgemein verständlichen und akzeptablen Zuordnung – sei es die Gottesbezüglichkeit, sei es die Krankhaftigkeit –, um ihr nicht lebenslang orientierungslos ausgesetzt zu bleiben.
Besonders erwähnenswert ist – auch gerade für den in der Suizidprävention Tätigen – die von Macho mehrfach hervorgehobene Persönlichkeitsspaltung, die den Suizid überhaupt erst ermögliche: die Spaltung in einen Täter und in ein Opfer. Illustriert werde diese Spaltung beispielsweise in den Bildern von Frida Kahlo und Man Ray.
Diskussion
Thomas Machos Werk, den Suizid aus kulturwissenschaftlicher Perspektive zu betrachten, ist derzeit einmalig. Es lenkt den Blick auf Aspekte, die im alltäglichen Diskurs meist verdunkelt sind oder überhaupt unerwähnt bleiben und die zu beleuchten für jeden Leser ein Gewinn ist.
Dass in einem solchen Mammut-Werk das Eine oder Andere unter den Tisch fällt, wird kaum verwundern. Die sehr knappe Erwähnung der Bemühungen um Suizidprävention wurde bereits angedeutet. Unverständlich bleibt, weshalb im Philosophie-Kapitel Karl Jaspers so gut wie ungenannt bleibt – ein Philosoph, der zur Wertung des Suizids in unserer Zeit Wesentliches beigetragen hat und zudem selber, ganz am Ende des Nazi-Regimes, beinahe einen gemeinsamen Suizid mit seiner jüdischen Ehefrau begangen hätte.
Unter den beigezogenen Schriftstellern bleibt überraschenderweise einer der größten amerikanischen Autoren unerwähnt, der sich an vielen Stellen seines Werks so eingehend mit dem Suizid befasst hat, wie wohl kein anderer in den letzten Jahrzehnten: der im Jahr 2008 durch Suizid verstorbene David Foster Wallace. Er hatte ebenso wie die von Macho zitierte englische Dramatikerin Sarah Kane jahrelang an einer biphasischen Psychose gelitten.
Aus dem Bereich der Musik benennt Macho lediglich einige Opern, die den Suizid thematisieren, wie Leos Janaceks großartiges Werk „Die Sache Makropoulos“, in dem die Frage des Nicht-sterben-könnens ganz ins Zentrum des Geschehens rückt. Franz Schubert aber bleibt vollständig unerwähnt. Dabei dürfte es kaum ein Kunstwerk geben, das sich derart intensiv mit Suizidalität und der damit verbundenen Befindlichkeit befasst, wie die beiden großen Liederzyklen Schuberts, die „Winterreise“ und – mehr noch – „Die schöne Müllerin“.
Die Nichterwähnung Schuberts mag ein Indiz sein für den Umstand, dass der Leser Machos Buch in seiner umfassenden Fülle zwar bestaunen und bewundern wird und dennoch, je länger er sich in die fortlaufenden Kapitel vertieft, eine Art Unbehagen spürt. Der Suizid ist für jeden, wie immer er dazu steht, kein freudiges, kein das Leben bereicherndes Ereignis. Oftmals ist er nichts anderes als die finale Katastrophe, der Schlussstrich unter ein Scheitern, auch wenn er dann am Ende bisweilen als Erlösung empfunden wird.
Gewiss, Macho schreibt aus der Sicht des am Lebendigen und allen seinen Perspektiven interessierten Kulturwissenschaftlers, nicht aus der eines Psychologen. Die Befindlichkeit dessen, der vor seinem eigenen Suizid steht oder mit dem Suizidtod eines Nahestehenden konfrontiert ist, mag für den Autor außen vor bleiben. Die damit verbundene Emotionalität aber lässt sich von der Suizidthematik nun mal in keiner Weise trennen. Hatte nicht schon Walter Benjamin, als er von der Eroberung der Moderne durch den Suizid sprach, von den „Leidenschaften“ gesprochen?
Fazit
Ein umfangreiches, außerordentlich gut und umfassend redigiertes Buch, das zweifellos zur rechten Zeit erscheint und dem am Kulturgeschehen interessierten Leser Orientierung gibt in einer Zeit vielfältiger Umwertungen. Ob sich die gesellschaftliche Entwicklung weiter in Richtung auf eine derartige Liberalisierung fortsetzen wird, wird sich – angesichts der vielerorts sich bereits abzeichnenden Restriktionen – allerdings erst in Zukunft zeigen.
Rezension von
Prof. Dr. med. Hans Wedler
Ehem. Ärztlicher Direktor Medizinische Klinik 2 - Klinik für Internistische Psychosomatik
Bürgerhospital Stuttgart
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Zitiervorschlag
Hans Wedler. Rezension vom 01.10.2018 zu:
Thomas Macho: Das Leben nehmen. Suizid in der Moderne. Suhrkamp Verlag
(Berlin) 2017.
ISBN 978-3-518-42598-5.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/23778.php, Datum des Zugriffs 03.10.2024.
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