Britta Baumeister, Paul Brandl et al.: Gewalt im Jugendstrafvollzug
Rezensiert von Prof. Dr. phil. Sigrid Haunberger, 27.04.2018

Britta Baumeister, Paul Brandl, Stephanie Schuller: Gewalt im Jugendstrafvollzug. Nomos Verlagsgesellschaft (Baden-Baden) 2017. 218 Seiten. ISBN 978-3-8487-3368-2. D: 54,00 EUR, A: 55,60 EUR.
Entstehungshintergrund, Autorin, Thema
Das vorliegende Buch ist die Dissertation von Britta Baumeister, die in ihrer Frankfurter Zeit in den Jahren 2013 und 2016 entstand und auf der Datengrundlage des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Projekts „Gewalt und Suizid im Jugendstrafvollzug“ des Instituts für Kriminologie der Universität zu Köln besteht. Die Autorin ist 2014 in den Richterdienst eingetreten und wurde mittlerweile in Bonn zur Richterin am Landgericht ernannt. Gewalt in Haftanstalten ist ein drängendes Problem, welches durch Gewaltexzesse wie im Jahr 2006 in Siegburg (Foltermord von Siegburg) oder in den Jahren 2001 und 2011 in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Ichtershausen in den Fokus der medialen Aufmerksamkeit geraten ist. Bei diesen Gewaltexzessen, die sich meist durch eine besondere Grausamkeit der Taten charakterisieren lassen, handelt es sich um die vielzitierte „Spitze des Eisberges“, diese bilden nicht den Alltag in den Vollzugsanstalten in Deutschland ab. Dennoch ähneln sich diese Gewaltexzesse hinsichtlich Hintergründe, Durchführung und Aufdeckung, sodass eine Analyse dieser gemäß der Autorin zu wirkungsvollen Präventionsstrategien in der Zukunft beitragen kann (S. 89-121).
Baumeister schließt von vornherein aus, dass sich Gewalt im Gefängnis jemals gänzlich verhindern lässt, postuliert aber, dass diese aus verschiedenen Gründen nicht als gegeben hingenommen werden darf. Zunächst stellt Gewalt im Strafvollzug schon aufgrund des Schutzauftrags staatlicher Institutionen ein schwerwiegendes, behandlungsbedürftiges Problem dar. Dies gilt insbesondere für den Jugendstrafvollzug, der in erheblicherem Masse als der Erwachsenenvollzug von anstaltsinterner Gewalt betroffen ist und gemäß dem Jugendstrafrecht dem normierten Erziehungsgedanken Rechnung tragen muss. Zudem beanstandet Baumeister, dass die nationale Forschung zum Bereich Gewalt im Jugendstrafvollzug, insbesondere hinsichtlich Dunkelfelddaten und einer längsschnittlichen Betrachtung, als dürftig eingestuft werden kann.
Aufbau und Inhalte
Die Arbeit umfasst inklusive dem Literaturverzeichnis 218 Seiten und gliedert sich in vier stimmig aufeinander aufgebaute Kapitel.
Nach der Einleitung folgt ein
umfassenderes Kapitel „Grundlagen und theoretischer Hintergrund“,
es folgt der empirische Teil ihrer eigenen Untersuchung mit der Datenbasis aus dem Forschungsprojekt „Gewalt und Suizid im Jugendstrafvollzug“,
schließlich werden Konsequenzen aus den gefunden Ergebnissen zu kriminalpolitischen Schlussfolgerungen zusammengefasst.
Zu Kapitel B
In Kapitel B werden zunächst für die Arbeit zentrale und wiederkehrende Begrifflichkeiten definiert, die Jugendliche, Gewalt, das strafrechtliche Gewaltverständnis, das kriminologische Gewaltverständnis sowie die Unterscheidung zwischen Hell-/Dunkelfeld umfassen. Während das strafrechtliche Gewaltverständnis „im Strafrecht ausschließlich Strafens wertes Verhalten berücksichtigt werden soll“, umfasst das kriminologische Gewaltverständnis „die gesamte Bandbreite der möglichen Phänomene (…) und beinhaltet auch psychische Erscheinungsformen der Gewalt und entsprechende Auswirkungen auf Opferseite“ (S. 24). Hellfelddaten beinhalten Informationen, die offiziell registriert wurden, die der Anstaltsleitung, der Polizei oder der Staatsanwaltschaft in irgendeiner Form offiziell mitgeteilt wurden. Baumeister betont, dass diese Daten keinerlei Auskunft über das tatsächliche Ausmaß der Gewalt hinter Gittern geben sollen und können (S. 25).
Im Weiteren gibt die Autorin einen Überblick über bedeutsame Studien aus dem nationalen und internationalen Forschungsstand (S. 26-72). Die Leserschaft erfährt zu jeder der genannten Untersuchungen die wichtigsten Eckdaten, nämlich ob es sich um eine Hell- oder Dunkelfeldstudie handelt, die Ziele der Untersuchung, die Stichprobengröße und welches die zentralen Ergebnisse und Besonderheiten sind.
Auf den Seiten 73-79 werden die Ergebnisse aus der Übersicht des Forschungsstandes bilanziert. Baumeister weist insbesondere darauf hin, dass in Hellfelduntersuchungen bekannt gewordenes Gewaltverhalten verzerrt sein kann, da davon auszugehen ist „dass die Gewalthandlungen unter den Gefangenen deutlich überwiegen, jedoch viel seltener gemeldet werden“ (S. 73). Den größten Teil der registrierten Taten machen in den genannten Hellfelduntersuchungen Körperverletzungen und Schlägereien aus; zudem treten Jugendliche oder jüngere Gefangene bei den registrierten Gewalthandlungen häufiger auf. Die DIPC- basierenden Dunkelfelduntersuchungen (Direct and Indirect Prison Behavior Checklist) weisen auf eine Viktimisierungserfahrung von mehr als 50 % hin, was mit der Zahl an Tätererfahrungen in etwa korrespondiert, so die Autorin.
In der Spezialgruppe der sonstigen Untersuchungen finden sich erheblich abweichende Gefängnisrealitäten, was sich insbesondere in der niedrigeren Opferrate niederschlägt. Nach Baumeister lassen sich diese Studien nicht miteinander vergleichen, da sie sich auf besondere Fragestellungen spezialisiert haben; Poole und Regoli suchten nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden verschiedener Unterbringungsformen, McCorkle fokussierte auf die möglichen Vorsichtsmaßnahmen der Insassen, Lahm beleuchtete die Importations- und Deprivationseinflüsse näher und der NSYC konzentrierte sich auf die sexuelle Viktimisierung. Die wichtigsten Erkenntnisse aus den vorgestellten Studien sind, „dass Gewalt in Haftanstalten keinesfalls selten, sondern vielmehr allgegenwärtig ist“, dass körperliche Gewalterfahrungen in besonderem Masse für die Insassen (und wenigen Insassinnen) von Jugendstrafanstalten gelten sowie „dass Nötigung und Körperverletzungen den größten Teil der anstaltsinternen Gewalt ausmachen“ (S. 78-79).
Weiterhin liegen gemäß Baumeister Hinweise auf die Bedeutung subkultureller Strukturen im Haftalltag vor sowie Hinweise auf „den situativen Charakter der meisten Vorfälle und die Tatsache, dass eine Meldung von Gewalttätigkeiten durch die Gefangenen selbst äußerst selten ist“ (sog. „Zinker“-Problematik, die nachfolgend weiter erläutert wird, S. 78-79).
Im Weiteren stellt die Autorin Überlegungen zur Bedeutung von Gewalt in der Gefangenensubkultur an und bezieht sich dabei auf die folgenden Begrifflichkeiten, die kurz erläutert und diskutiert werden: Subkultur, Deprivation oder Importation, besondere Bedeutung in Jugendanstalten, Gewaltbedeutung und -entstehung, „Zinker“-Problematik, Gewaltexzesse in deutschen Haftanstalten. Besonders erwähnenswert ist, dass sich aus einem Vergleich der Gewaltexzesse, die zweifellos Ausnahmecharakter haben, deutliche Gemeinsamkeiten ableiten lassen, die typisch für die massiven Gewaltvorkommen in Jugendanstalten sind (S. 104-110). Erstens scheint es in der Subkultur des Gefängnisses Personen zu geben, die einem „Opfertypen“ entsprechen; zweitens führen offensichtlich gruppendynamische Prozesse zu den im Buch geschilderten Gewaltexzessen, von denen sich potenziellen Täter aber grundsätzlich entziehen könnten.
Damit zusammenhängend ist die sog. „Zinker“-Problematik; damit ist gemeint, dass eine Meldung zugunsten des Opfers aufgrund der damit verbundenen Selbstgefährdung in der Gefängnishierarchie beinahe unmöglich erscheint. Der nicht zu unterschätzenden „Zinker“-Problematik entgegenzuwirken kann nach Baumeister „durch besonders aufmerksame, gründliche Vollzugsbedienstete möglich sein, die angespannte Verhältnisse erkennen und aktiv auf mögliche Betroffene zugehen“ (S. 110). Baumeister weist weiterhin auf die besondere Stellung des Jugendstrafvollzugs hin, die sich daraus ergibt, dass die Jugendstrafe die „ultima ratio“ des Jugendgerichtsgesetzes (JGG) darstellt (S. 110-121). Obwohl das für erstrebenswert gehalten wurde und erhebliche qualitative Unterschiede der Jugendstrafvollzugspraxis existierten, gelang eine bundesweite Abstimmung des Jugendstrafvollzugsgesetzes nicht, und die meisten Länder schufen eigene Jugendstrafvollzugsgesetze. Gemäß Baumeister wurde der Schutz vor „wechselseitigen Übergriffen“ nur selten ausdrücklich in die Ländergesetze aufgenommen.
Zu Kapitel C
In Kapitel C folgt der eigenständige empirische Teil der Autorin. Besonderheit des von der DFG geförderten Forschungsprojektes „Gewalt und Suizid im Jugendstrafvollzug – Phänomen, Ursachen, Prävention“ ist, dass es sich um eine Längsschnittstudie handelt und qualitative und quantitative Methoden eingesetzt wurden. Ziel war es, den Anpassungsprozess jugendlicher Gefangener in Haft zu ergründen. Am Projekt beteiligt waren Jugendstrafanstalten der Länder Nordrhein-Westfalen und Thüringen, Daten wurden in den Anstalten Ichtershausen, Heinsberg und Herford erhoben.
Baumeisters Analysen beschränken sich lediglich auf die Gewaltkomponente und klammern die Suizidkomponente aus. Mit einem an den DIPC-Scaled angelehnten Fragebogen wurden die inhaftierten Jugendlichen u.a. nach Täter- und Opfererfahrungen, Männlichkeitsvorstellungen, Gewaltakzeptanz, Melde-/Sanktionsverhalten und Subkultur zu vier Messzeitpunkten im Abstand von jeweils drei Monaten befragt (S. 124). Ergänzend zur quantitativen Erhebung wurden 36 problem- bzw. themenzentrierte Interviews geführt, die nach bestimmten Samplingkriterien aufgeteilt werden konnten (Erst- bzw. Folgeinhaftierung, gewaltsames bzw. gewaltloses Inhaftierungsdelikt). Weiterhin wurde nach der schriftlichen Einwilligung der Inhaftierten eine Stichprobe der Gefangenenpersonalakten ausgewertet, um die Hell-/Dunkelfeldrelation einzuschätzen (S. 125-127). Zudem wurden innerhalb des Projektes zwei Kontrollgruppen erhoben, einmal Schüler und Studenten, einmal verurteilte Jugendliche, deren Strafe zur Bewährung ausgesetzt wurde. Dies sollte Rückschlüsse ermöglichen, „ob die haftspezifischen Faktoren tatsächlich zur Gewaltentstehung beitragen“ (S. 128).
Die zentralen Ergebnisse werden auf den Seiten 128-175 thematisch geordnet und ausführlich erörtert. Baumeisters ergänzende Fragebogenauswertung lässt sich folgendermaßen zusammenfassen:
- Beinah drei Viertel der Befragten geben an, dass sie keinerlei Sanktion aufgrund von Gewalt gegenüber Mitgefangenen erhalten haben, was daran liegen mag, dass die entsprechenden Gewalthandlungen nicht vom Vollzugspersonal bemerkt wurden. Weiterhin wird die anstaltsinterne Gewalt als eher spontan eingeschätzt.
- Darüber hinaus scheint es einige Insassen zu geben, die wiederholt Opfer von voneinander unabhängig agierenden Tätern werden.
- Ein weiteres Ergebnis der Opferbefragung betrifft den Ort der Viktimisierung; die Autorin ermittelt, dass sich insbesondere der Hof/Hofgang sowie die Freistunde als Haupttatort bzw. zeit von gefängnisinterner Gewalt darstellen.
- Aus den Analysen der Gefangenenpersonalakten wurde ersichtlich, dass es sich bei den registrierten Gewalttaten „fast ausschließlich um leichte Gewaltformen, die auch und vor allem der subkulturellen Statusbildung zu dienen scheinen“ handelt (S. 178), so Baumeister.
- Ebenso bestätigen Hell- und Dunkelfelddaten gleichermaßen, dass die in diesem Buch beleuchteten Gewaltexzesse eine Ausnahmeerscheinung darstellen. Die Autorin hebt besonders hervor, dass sich die registrierten Gewalttaten, die sich überwiegend zwischen den Gefangenen abspielen und nicht gegen Bedienstete richten, „fast ausschließlich durch Bedienstete oder ‚externe‘ Dritte zur Anzeige gebracht werden, selten hingegen durch die Opfer selbst und fast nie durch unbeteiligte Mitgefangene“ (S. 179).
- Kritisch betrachtet Baumeister, dass bei den registrierten Taten oftmals Disziplinarmaßnahmen in Form von Freizeitbeschränkungen für die Jugendlichen verhängt werden, die durchaus kontraproduktiv wirken können, da gerade Freizeitaktivitäten eine gewaltmindernde Funktion zugeschrieben werden.
Zu Kapitel D
Im abschließenden Kapitel D werden aus den bisherigen Ergebnissen kriminalpolitische Schlussfolgerungen gezogen. Dabei geht es der Autorin primär darum, Lösungen anzustreben, die Gewalthandlungen in den (Jugend-)Justizvollzugsanstalten auf ein erträgliches Maß begrenzen.
Die Autorin schlägt Ansatzpunkte auf verschiedenen Ebenen vor. Zunächst wäre eine deutlich restriktive Anwendung der Jugendstrafe eine Maßnahme zur Vermeidung gefängnisinterner Gewalt; gerade bei der Anwendung von offenen Vollzugsformen wird Steigerungspotenzial gesehen. Bei Präventionsbemühungen weiterhin entscheidend ist eine verbesserte Personalausstattung in den Punkten zahlenmäßige Personalsituation, eine verbesserte Ausbildungs- und Fortbildungssituation sowie das Ziel, nach Möglichkeit in bestimmten Abteilungen weitgehend dieselben Vollzugsbediensteten einzusetzen. Auch der Ausbau von vielfältigen Bildungs- und Freizeitmöglichkeiten innerhalb der Anstalten könnte den Präventionsaspekt bedienen.
Zuletzt verweist Baumeister auf verschiedene bereits existierende Präventionskonzepte und -projekte (S. 195-206), die Gewalthandlungen zu reduzieren versprechen.
Diskussion
Baumeister verbindet in ihrem Buch empirische Evidenzen aus bisherigen nationalen und internationalen Studien, eigene empirische Analysen des Forschungsprojekts, und eine systematische Sichtung der Gewaltexzesse in deutschen Haftanstalten gezielt miteinander und leitet daraus kriminalpolitische Schlussfolgerungen ab. Der Autorin gelingt es besonders gut im empirischen (Hell-Dunkelfelddaten, schwierige Vergleichbarkeit der bisherigen Studien) wie auch juristischen Bereich (föderalistische Regelung des Jugendstrafgesetztes) Pro- und Contra Argumente gegeneinander abzuwägen. Hervorzuheben ist auch die besondere methodische Anlage des Forschungsprojektes, gerade ein Mixed-Methods-Ansatz der qualitative und quantitative Daten in verschiedenster Form einbezieht, erlaubt aufschlussreichere Auswertungen.
Das Buch kann als wichtiger Beitrag zum Themengebiet „Gewalt im Jugendstrafvollzug“ gelten, mangelt es doch gerade in diesem Bereich (in Deutschland), wie auch die Autorin selbst anmerkt, an Studien mit ähnlicher Größenordnung und entsprechend validen Erkenntnissen. Grundlagenforschung in diesem Stil kann dazu beitragen, das Thema empirisch fundiert anzupacken und den eingeschlagenen Kurs weg vom Verwahrvollzug beizubehalten. Es bleibt nur zu beanstanden, dass es sich bei den weiterführenden Analysen der Autorin nur um deskriptive Auswertungen handelt.
Fazit
Wer dieses Buch liest erhält umfassende kriminologische, juristische, theoretische und empirische Argumente, wie mit dem Thema Gewalt im Jugendstrafvollzug in Deutschland wie auch international umgegangen wird. Baumeisters Werk zeichnet sich durch einen logischen Aufbau der einzelnen Kapitel und einen angemessen detaillierten Schreibstil aus. Die Leserschaft erhält einen grundlegenden Überblick über zentrale Begriffe, Konzepte und den Forschungsstand wie auch zahlreiche weiterführende Ideen, Gewalt im Jugendstrafvollzug entgegenzuwirken. Aus diesem Grund ist dieses Buch für Forscherinnen und Forscher im Bereich Gewalt im (Jugend-)strafvollzug genauso lesenswert wie für Praktikerinnen und Praktiker im Justizvollzug, die sich mit der Thematik konzeptionell beschäftigen wollen oder ein konkretes Präventionsprojekt planen.
Rezension von
Prof. Dr. phil. Sigrid Haunberger
Dozentin und Projektleiterin Institut für Sozialmanagement, Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW)
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