Rupert Graf Strachwitz: Der kritische Blick. 50 Kolumnen
Rezensiert von Dr. Thomas Kowalczyk, 23.02.2018
Rupert Graf Strachwitz: Der kritische Blick. 50 Kolumnen. Maecenata Verlag (München) 2017. 100 Seiten. ISBN 978-3-935975-57-5. D: 14,80 EUR, A: 15,30 EUR.
Entstehungshintergrund und Thema
Rupert Graf Strachwitz schreibt seit Herbst 2009 regelmäßig eine Kolumne im Magazin DIE STIFTUNG. Dieses Magazin erscheint 6 mal im Jahr in einer Auflage von 16.000 Exemplaren. So kamen bis Ende 2017 insgesamt 50 Kolumnen zusammen, die im vorliegenden Band veröffentlicht sind. Der Autor beschreibt: „Ganz ist mir dennoch nie klar geworden, wer hier letztlich meine Leserinnen und Leser sind, denn in großen Stiftungen, Unternehmen und Kanzleien wandert das Magazin von Hand und Hand, da unterschiedliche Themen unterschiedliche Führungskräfte und Mitarbeiter ansprechen. … In der zusammengefassten Form soll der ‚kritische Blick‘ … ein paar Leserinnen und Leser mehr erreichen.“ (S. 10)
Autor
Dr. Rupert Graf Strachwitz, 1947 in Luzern geboren, ist Politikwissenschaftler und Historiker. Als Sohn eines Diplomaten und einer Schriftstellerin wuchs er in Mendoza, Rom und Berchtesgaden auf. Er studierte in den USA und in München und lebt heute in Berlin. In seiner Selbstbeschreibung konzentriert er sich in seiner Herkunft auf: „Ich bin ein katholischer Europäer schlesischer Herkunft mit deutschem Pass.“
Graf Strachwitz hat zahlreiche renommierte Haupt- und Ehrenämter in verschiedenen Zweigen der Zivilgesellschaft durchlaufen. Er ist Vorstandsvorsitzender der Maecenata Stiftung und Direktor des Maecenata Instituts für Philanthropie und Zivilgesellschaft. Er arbeitet als Praktiker, Berater und Forscher.
Er bekleidet zahlreiche Ehrenämter und nennt dazu auf seiner Homepage: „Stellv. Vorsitzender Deutsch-Britische Gesellschaft, Berlin. Stellv. Vorsitzender des Stiftungsrats, ADAC Stiftung, München.Vorsitzender des Stiftungsrats, Stiftung Fliege, Feldafing. Stellv. Vorsitzender des Stiftungsrats, Wilhelm-Kempff-Kulturstiftung, München/Positano. Member of the Board, Philanthropy Impact, London.“ (www.strachwitz.info, abgerufen am 14.01.2018)
Aufbau
Die 50 Kolumnen sind zeitlich geordnet von V 2009 bis zu VI 2017. Die Kolumnen greifen mehr grundsätzliche als rein zeitlich aktuelle Themen auf.
Der Autor berührt in den Kolumnen eine große Vielfalt von Themen. In der Regel beinhaltet eine Kolumne dabei einen Informationsblock, einen Meinungsblock und oft noch einen Block, der Perspektiven aufzeigt. Trotz thematischer Vielfalt werden die Kolumnen in diesem Band inhaltlich zusammengehalten.
Ich möchte sie entsprechend diesem inhaltlichen Zusammenhalt mit drei Überschriften versehen, entlang derer ich die Kolumnen bespreche.
- Stiftungen und Philanthropie
- Zivilgesellschaft und Gemeinnützigkeit
- Europa
Strachwitz wendet in seinen Kolumnen die alte Rechtschreibung an. Im Rahmen von Zitaten wurde das beibehalten.
Zu 1. Stiftungen und Philanthropie
„Seit rund 30 Jahren werden jedes Jahr so viele Stiftungen gegründet wie im ganzen vorausgegangenen Jahrzehnt. Setzt sich dieser Trend bis zum Jahr 2100 fort, wird es dann 6,5 Millionen Stiftungen geben. Und selbst wenn nur die Zahl der Neugründungen konstant bleibt, werden es 100.000 sein, wohlgemerkt ohne die Kirchen- und Kirchenpfründestiftungen, von denen es schon jetzt rd. 100.000 gibt.“ (S. 13) Allein 21.806 rechtsfähige Stiftungen zeigt der Bundesverband Deutscher Stiftungen aktuell in einem Counter auf seiner homepage. (www.stiftungen.org/stiftungen/zahlen-und-daten/statistiken.html, abgerufen 21.01.2018)
Strachwitz steckt in seiner Kolumne VI/2009 den quantitativen Rahmen ab und erläutert „Auf den ersten Blick erstaunt ihre Popularität in einem gesellschaftlichen Umfeld, das als geschichtslos, traditionsvergessen, volatil und bindungsscheu charakterisiert wird. Nun mag gerade dieses Umfeld zu alternativen Gestaltungen herausfordern; gerade in Zeiten, in denen lebenslange Planungen zur Ausnahme geworden sind, kann es eine Minderheit geben, die gegen diesen Strich bürstet und ihren Willen weit über ihren Tod hinaus binden will.“ (S. 13)
Zu den unterschiedlichen Formen von Stiftungen schreibt Strachwitz 2010: „Noch vor 10 Jahren galt die selbständige Kapitalförderstiftung – historisch gesehen zu Unrecht – als Regelform, andere bestenfalls als Ausnahmen. Dann trat die nicht rechtsfähige treuhänderische Stiftung wieder stärker in das Bewußtsein potentieller Stifter, ebenso die operative, also selbst tätige Stiftung als Gegenstück zur fördernden. Vor 10 Jahren kamen die Bürgerstiftung und die Gemeinschaftsstiftung auf. Neben Stifter und Stifterin traten Initiator und Initiatorin, die eine gute Idee mitbringen, aber die Ressourcen von Mitstreitern einwerben. Immer mehr Vereine wollen Förderstiftungen zu ihren Gunsten gründen, Teile ihrer Arbeit in Stiftungen umgliedern, oder sogar ihre gesamte Arbeit in eine Stiftungsstruktur überführen. All dies ist möglich, und so stehen heute ganz unterschiedliche Ausformungen von Stiftungen im Wettbewerb zueinander.“ (S. 25)
In seiner Kolumne V/2010 beschäftigt ich Strachwitz mit alten und neuen Philanthropen. „Alexander dem Großen wurde als 14-jährigem Kronprinzen gehuldigt, er sei ein Philanthrop. Viel kann er bis dahin nicht gespendet haben. Das Lob mag eher damit zusammenhängen, daß er, wegen eines zu großen Geschenks getadelt, Philanthropie nicht daran gemessen sehen wollte, was benötigt, sondern daran, was dem Gebenden gemäß sei. Seit Bill Gates und Warren Buffet die Welt am 4. August mit ihrer Ankündigung aufgeschreckt haben, Amerikas Milliardäre würden die Hälfte ihres Vermögens spenden, ist dies offenkundig wieder aktuell, nachdem der Zehnte der christlichen und selbst der Zakat von 5 % [2,5 %] des Vermögens der muslimischen Lebenswirklichkeit in den letzten Jahrhunderten weithin abhanden gekommen und durch das Konzept des Wohlfahrtsstaates ersetzt worden waren.“ (S. 23)
Strachwitz setzt sich in seinen Kolumnen – wie im Titel vorgegeben – kritisch mit Stiftungen ebenso wie mit den Reaktionen auf Stiftungen auseinander.
Anknüpfend an die Stiftungsgründungen der Milliardäre in den USA: „Selbst in den USA, wo die Bürger und Bürgerinnen ohnehin 400 Milliarden $ spenden – in Deutschland sind es rd. 5 Milliarden € – rückt sie durch diese [vorgenannt beschriebene] Aktion in eine Größenordnung ein, in der die gute Absicht kein alleiniger Erfolgsmaßstab sein kann. … Das Gefühl, ein Philanthrop zu sein, kann sich erst einstellen, wenn ein Projekt nicht nur gut gemeint oder gut finanziert, sondern auch konzeptionell gut und gut umgesetzt ist. Für die Philanthropen – und Bill Gates weiß das sehr genau – ist die Zeit des sorglosen Spendens vorbei. In der Zivilgesellschaft, bei den oft kleinen, meist armen, überall verstreuten Initiativen und Gruppen sitzen meist das kreative Potential, die Erfahrung, die Modelle, die im praktischen Experiment zur Erprobung anstehen.“
„Philanthropen brauchen gute Konzepte und kluge Berater. Mehr denn je zuvor sind sie als innovative Mitspieler im Team, weniger denn je als Besserwisser gefragt. Gemeinwohlproduktion als Strategie und Abenteuer: nicht jedem Philanthropen mag dies gefallen aber darauf läuft es hinaus.“ (Beide S. 24)
In der Kolumne I/2011 setzt sich Strachwitz u.a. mit dem (Kapital-)Wert von Stiftungen auseinander. „Doch zeichnen sich Stiftungen typischerweise … dadurch aus, daß sie über Kapital verfügen; dieses sollte sich messen lassen…. Tatsächlich müssen wir sie [die Antwort] auch hier, was die deutschen Stiftungen betrifft, schuldig bleiben. Warum das so ist, ist leicht zu beantworten: weil die Stiftungen hierzulande fast jeden denkbaren Vermögensgegenstand ihr Eigen nennen können und es keine Regeln dafür gibt, wie er zu bewerten ist. … Eine Vorstellung von Stiftungskapital, die letztlich von einem jederzeit veräußerbaren Anlagevermögen ausgeht, entspricht nicht der Realität der deutschen Stiftungen.“ Und weiter. „Die Robert-Bosch-Stiftung hält rd. 92 % an der Robert-Bosch-GmbH, einem Weltunternehmen, das jährlich knapp 50 Milliarden Euro Umsatz erwirtschaftet. Ist es realistisch, wenn der Wert dieser Anteile in Stiftungsrankings mit unter 5 Milliarden aufscheint? Sicher nicht! … Das Stiftungsrecht im engeren Sinn oder auch das Gemeinnützigkeitsrecht kennt keine Bilanzierungsrichtlinien. Allenfalls könnten die Vorgaben des Instituts der Wirtschaftsprüfer greifen, an die die Prüfer gebunden sind, doch erfassen diese bei weitem nicht alle denkbaren Fälle.“ (S. 27)
„So gibt es zwar internationale Register, die anhand der Marktvorgänge und Versicherungswerte den aktuellen Wert von Kunstwerken in etwa einschätzen. … Doch sollte etwa die Stiftung Preußischer Kulturbesitz (SPK) alle ihre Kunstwerke danach bewerten und gar diese Werte in ihre Bilanz übernehmen? Sicher nicht, schon deswegen, weil sie, von ganz geringen Ausnahmen abgesehen, nicht fungibel sind! Überdies bilanziert die SPK als Stiftung öffentlichen Rechts überhaupt nicht, sondern ermittelt ein eventuelles Vermögen nach ganz anderen Kriterien.
Oder wie ist es mit den Bodelschwinghschen Anstalten in Bethel, die rd. 14.000 Mitarbeiter beschäftigen [bei ca. 1,14 Milliarden Jahresumsatz 2016] und ihre Leistungen selbstverständlich im Wesentlichen von öffentlichen Kostenträgern bezahlt bekommen? Ihr betriebsnotwendiges Vermögen … steht gewiß weder bilanziell noch tatsächlich in einem Verhältnis zu den Leistungen der Stiftung, stellt man etwa eine Kapitalförderstiftung mit liquidem Anlagevermögen daneben.“ (S. 28)
„Was folgt daraus: Aufstellungen über Stiftungsvermögen, die auf deren Buchwert basieren, sind völlig wertlos. Daran läßt sich auch nichts ändern. … Ein Regelwerk zu erfinden, das der Realität näher käme, erschiene mir also als lohnende, wenngleich mühevolle Aufgabe. Vielleicht nimmt sich ihrer mal jemand an.“ (S. 28f)
Zu 2. Zivilgesellschaft und Gemeinnützigkeit
Der Autor teilt das Bild, wonach Staat, Markt und Zivilgesellschaft die drei Arenen öffentlichen Handelns beschreiben. In zahlreichen Kolummen bespricht er dann gemeinnützige Organisationen – und die Stiftungen darunter – als Teil der Zivilgesellschaft im Sinne einer größeren Grundgesamtheit. „Noch vor wenigen Jahren wußten viele Stiftungen nicht, daß sie zur Zivilgesellschaft gehören. Heute ist das den meisten bewußt, und nicht wenige arbeiten solidarisch in ihr mit.“ (S. 30) Strachwitz thematisiert die Vereinnahmung durch Staat und Markt und empfiehlt in beide Richtungen Abgrenzung.
„Wenn zivilgesellschaftliches Handeln in Ägypten maßgeblich dazu beiträgt, ein korruptes, diktatorisches Regime zu stürzen, dann wird dies – freilich erst, wenn es erfolgreich war – als ‚Tag der Freude‘ apostrophiert. Doch im Land wird mit anderen Maßstäben gemessen. Zivilgesellschaft so etwa das Verständnis des zuständigen Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend taugt als ‚Koproduzent sozialer Dienstleistungen‘. Eine eigenständige Arena kollektiven Handelns in der Gesellschaft mit politischem Mandat zu sein, wird ihr bestritten.“ Und weiter „Aus diesem Würgegriff muß sich die Zivilgesellschaft befreien, indem sie wirtschaftlich vom Staat unabhängiger wird. Dies ist schwer, denn zur Zeit überwiegt, insgesamt gesehen, wenn auch mit deutlichen Ausnahmen, der Staatsanteil an der Finanzierung.“
„Raum für positive Entwicklungen gibt es hingegen bei den Stiftungen. Gewiß reichen ihre Möglichkeiten bei weitem nicht an die Größenordnung heran, die die Gemeinschaft der Bürger mit ihren Steuern aufbringt. Aber an entscheidenden Stellen können Stiftungen durch eigene Tätigkeit, ihre Fördermittel und die Art, wie sie sie gewähren, dem zivilgesellschaftlichen Handeln ermöglichen, kreative Leistungen zu erbringen und seine Wächter- und Anwaltsfunktion auszuüben. Und sie können es ihnen erleichtern, staatliche Gelder auszuschlagen, wenn die Bedingungen nicht stimmen.
Viele Stiftungen arbeiten mit staatlichen Stellen zusammen und fördern deren Projekte. Es ist an der Zeit, daß sie sich auf ihre nächsten Verwandten, auf die in derselben Arena kämpfenden Engagierten besinnen auch wenn ihnen diese keine öffentlichen Ehrungen verschaffen können.“ (Beide S. 31)
An anderer Stelle: „Ohne Fallstricke bleibt diese Entstaatlichung der Politik aber nicht. Sie kann nur gelingen, wenn sich die Stiftungen – ebenso wie alle anderen Akteure – an Kriterien orientieren, an denen ihre Akzeptanz – und damit auch ihre Legitimität – abgelesen werden kann. Dazu gehören eine über alle Zweifel erhabene Qualität der Aussagen und Transparenz zu Mittelherkunft und Interessen. Dazu gehört vor allem ein Bekenntnis zu Pluralität. Gerade dieses ist für große Stiftungen eine hohe Hürde.“ (S. 75)
Einige Kolumnen beschäftigen sich u.a. mit dem wirtschaftlichen und organisatorischen Führung von gemeinnützigen Organisationen. Ob der manchmal einseitigen Ausrichtung auf wirtschaftliche Unternehmensführung und Effektivität in gemeinnützigen Organisationen mahnt Strachwitz: „Insbesondere wissen zivilgesellschaftliche Organisationen, Stiftungen ebenso wie Vereine, zunehmend, daß sie nicht nur eine Leistung abzuliefern oder ein Thema zu vertreten, sondern auch einen zivilgesellschaftlichen Mehrwert zu erbringen haben, der sich aus einer von der in anderen Arenen unterscheidbaren, eigenen Handlungslogik ergibt. Dazu gehören die Schaffung von sozialem Kapital ebenso wie die Bildung von Gemeinschaft, das Bemühen um Inklusion, die Kooperation in Netzwerken und die deliberative Teilhabe an den öffentlichen Angelegenheiten.“ Und weiter: „Effizient arbeitende Nonprofits sind noch lange keine gute Zivilgesellschaft! Schon gar nicht können sie das partizipative Mandat wahrnehmen, das ihr zukommt. Hier ist viel Raum für Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft, zivilgesellschaftlicher und Governance-Praxis. Wird er nicht gefüllt, bekommen wir einen Para-Markt, den wir genauso wenig brauchen wie den Para-Staat, von dem wir uns lösen wollen.“ (S. 54f)
Strachwitz verbreitet hinsichtlich der Entwicklung und Wirkung der Zivilgesellschaft viel, gut begründete Zuversicht. Ganz im Sinne des Buchtitels (Der kritische Blick) mahnt er aber immer wieder Bodenhaftung an. „Ganz problemlos ist diese Zuversicht allerdings nicht: der kritische Beobachter kann nicht darüber hinwegsehen, daß sich im Kreise der Stiftungen gelegentlich schon das Gefühl breitmacht, sie allein seien das ‚auserwählte Volk‘ des 21. Jahrhunderts. Zuweilen hat man den Eindruck, sie sähen sich in der Rolle der amerikanische Kavallerie, des El Cid oder von Blücher in der Schlacht von Waterloo. Es wäre fatal, wenn sich ein solches Selbstverständnis festsetzen würde. Philanthropie durch Stiftungen rettet die Welt nicht; sie leistet allenfalls einen Beitrag dazu.“ (S. 83)
Zu 3. Europa
„Wir wollen in Europa leben; wir sind Europäer; wir können mehrere Loyalitäten ausleben, regionale, lokale und zivilgesellschaftliche, über nationale Grenzen hinweg. Denn Europa ist nicht unser Unglück, sondern unser Glück, auch dann, wenn wir dafür mal ein Opfer bringen müssen. In der Weltgesellschaft von heute ist Europa unsere Heimat.“ (S. 68) Die Zugehörigkeit zu Europa kann man kaum griffiger ausdrücken wie in dieser Kolumne III/2014!
‚Wir sind Europa‘, ‚Wir wollen Europa‘, ‚Hurra wir sind doch Europäer‘ und ‚Europa eine Wertegemeinschaft‘: in vier Kolumnen steht Europa schon in der Überschrift. Strachwitz drückt damit seine eigene Identität als Europäer ebenso aus wie die Bedeutung, die Europa als transnationaler Zusammenschluss für die Zivilgesellschaft hat.
„Vor mehr als 60 Jahren beschlossen weitblickende Staatsmänner, gemeinsam Europa aufzubauen. Was damals hoffnungsvoll begonnen wurde, erscheint uns heute in vielfacher Hinsicht selbstverständlich, in mancher Hinsicht als Ärgernis; vieles ist steckengeblieben. Die Europäische Kommission, von den Mitgliedern der EU als Hüterin der Verträge eingesetzt, steht am Pranger, weil sie die Verträge hütet. Sie ist zum Sündenbock für angeblich gescheiterte und zur Begründung für die nicht mehr gewünschte Einigung geworden. Viele Bürgerinnen und Bürger nehmen Europa als fremde Macht wahr, die uns zu Dingen zwingt, die wir nicht wollen, uns unsere Identität und Gewohnheiten raubt, alles gleichmachen will, uns ins Elend stürzt. … Aber an diesem Bild sind die nationalen Regierungen mehr als mitschuldig. Denn sie haben über den Rat in der EU das Sagen, sie wälzen alles unpopuläre auf die EU ab, sie blockieren die Integration, sie haben vor allem ihre je eignen Machtinteressen im Auge.“ (S. 68)
„Vielleicht muss sich zuerst die europäische Zivilgesellschaft voll entfalten, müssen europäische Parteien und Gewerkschaften entstehen, um die Parlamente und Regierungen vor sich her zu treiben. Vielleicht müssen wir auch noch viel mehr über den europäischen Kulturraum sprechen, und nicht immer nur über den gemeinsamen Markt … Nichts davon wird von allein geschehen. Und von Brüssel werden nicht die Impulse ausgehen, die uns wirklich voranbringen. … Wir Bürgerinnen und Bürger Europas leben und denken nicht in Quartalszahlen und Legislaturperioden, sondern in Generationen. Wir können heute das Haus für unsere Enkel bauen … wie könnte das anders aussehen als europäisch, eingefügt in das global village.“ (S. 107)
In seiner 49. Kolumne beschäftigt sich Strachwitz mit den Werten in Europa. „Heute sprechen wir gern von der Wertegemeinschaft. Diese, so heißt es, würde letztlich Europa zusammenbringen und zusammenhalten. Fragt man aber nach, was damit eigentlich gemeint ist, kann man zwar die Antwort bekommen, das wisse doch jeder, aber so recht erklären kann einem das niemand. Die Tugenden [der Autor bezieht sich hier auf die christlichen Kardinaltugenden Klugheit, Gerechtigkeit, Großherzigkeit und Mäßigung] sind es wohl nicht. Zur Not werden wohlfeile Worthülsen bemüht.“ (S. 108)
Der Autor geht in dieser Kolumne auf die vier Prinzipien Demokratie, Menschen- und Bürgerrechte, Herrschaft des Rechts und kulturelle Traditionen ein, um dann mit Fragen aufzuzeigen, dass in der genaueren Definition aller vier Prinzipien bisher keine gemeinsame europäische Lesart besteht. Sein Schluss: „Wäre es nicht besser, auf all das zu verzichten und Europa erst einmal als das zu sehen was es ist: eine geopolitische Tatsache und geostrategische Notwendigkeit. Oder aber, wir müßten tatsächliche intensiv und ehrlich darum ringen, einen Wertekanon, der uns Europäer eint, zu finden und zu leben.“
Bei aller Leidenschaft in den Kolumnen, die sich zu Europa bekennen, verkennt Strachwitz nicht, dass wir hier trotz aller Erkenntnisse vor einem Machtproblem stehen. „Der deutsche Staat nutzt die Digitalisierung zur Kontrolle der Untertanen und zur Stärkung seiner Macht, die er keinesfalls teilen oder abgeben will – nicht mit Europa, nicht mit Regionen oder Kommunen, schon gar nicht mit der Zivilgesellschaft. Daß das 400 Jahre alte System der Nationalstaaten heute kein adäquates Ordnungssystem mehr darstellt und von vielen Seiten unter Beschuß steht, wird schlichtweg ignoriert, mit absehbar fatalen Folgen.“ Seine Antwort lautet dennoch – so der Schlusssatz des Buches „Wir müssen – und können – Szenarien und Konzepte für die Zukunft entwickeln … Fordern wir das ein, was wir von unserem Staat erwarten!“ (Beide S. 111)
Diskussion und Fazit
Rupert Graf Strachwitz schreibt in diesem Band in Form von 50 Kolumnen für das Magazin DIE STIFTUNG über eine große Vielfalt an Themen. Die Kolumnen sind meist so aufgebaut, dass ein Thema zunächst mit großem Fachwissen eingeführt wird und dann kommentiert. Oft folgt dann noch eine Passage, die Perspektiven aus Sicht des Autors aufzeigt. Trotz großer Themenvielfalt liest sich dieser Band dennoch wie ein zusammenhängendes Buch. Dies beruht auf dem inhaltlichen Zusammenhang, welcher über die Themen hinweg vom Autor immer neu hergestellt wird. Denn Strachwitz ordnet die Kolumnen überwiegend in die großen Themen Stiftungen und Philanthropie, Zivilgesellschaft und Gemeinnützigkeit sowie Europa ein. Entsprechend dieser Überschriften werden die Kolumnen in dieser Rezension besprochen.
Ohne Zweifel ist Strachwitz ein authentischer Vertreter der Zivilgesellschaft, der Philanthropie und zudem ein überzeugter Europäer. Er schreibt aus dieser Position heraus informativ, kritisch und reflexiv.
Besonders hervorzuheben sind aus Sicht des Rezensenten die inhaltlichen Blöcke, die fast jede Kolumne einleiten. Sie haben zweierlei Wirkung. Zum einen ergeben sie in Summe fast ein kleines, leichtgängiges Sachbuch. Zum anderen ermöglichen sie Leserinnen und Lesern stets einen eigenen kritischen Blick auf die nachfolgende Besprechung eines Themas. Insgesamt ermöglicht das Buch einen reichhaltigen gleichermaßen positiv wie kritisch gestimmten Blick auf Stiftungen, Philanthropie, Zivilgesellschaft und Europa.
Rezension von
Dr. Thomas Kowalczyk
Geschäftsführer COMES e.V., Berlin
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Zitiervorschlag
Thomas Kowalczyk. Rezension vom 23.02.2018 zu:
Rupert Graf Strachwitz: Der kritische Blick. 50 Kolumnen. Maecenata Verlag
(München) 2017.
ISBN 978-3-935975-57-5.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/23817.php, Datum des Zugriffs 03.10.2024.
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