Patrick Eiden-Offe: Die Poesie der Klasse
Rezensiert von Dr. phil. Kevin-Rick Doß, 07.03.2018

Patrick Eiden-Offe: Die Poesie der Klasse. Romantischer Antikapitalismus und die Erfindung des Proletariats. Matthes & Seitz (Berlin) 2017. 460 Seiten. ISBN 978-3-95757-398-8. D: 28,00 EUR, A: 28,80 EUR, CH: 34,80 sFr.
Thema
„Im Vormärz werden alle wesentlichen Weichen für das gestellt, was wir bis heute ‚die Moderne‘ nennen: (.) mit all ihren Aufbrüchen, Normierungen und Spaltungen“ (S. 13). Gelten die beiden Jahrzehnte nach 1830 im Deutschen gemeinhin als Vormärz, ist damit die geschichtliche Epoche umrissen, die Eiden-Offe für die vorliegende Studie aufbereitet. Ziel sei es, aus den Verschüttungen dieser Geschichte, eine „Poesie der Klasse“ zu bergen „und sie für die Gegenwart (.) wieder zur Debatte zu stellen“ (S. 17).
Der Begriff „Poesie“ wird von Eiden-Offe ins Feld geführt in Verhältnisbestimmung zu einer „‚bereits zur Prosa geordneten Wirklichkeit‘“ (S. 13). Hegels Vorlesungen über die Ästhetik aufnehmend, konfligieren darin die „‚Prosa der Verhältnisse‘“ mit der „‚Poesie des Herzens‘“ (ebd.), wenngleich mit dem aufkommenden Begriff der sozialen Klasse „parallel eine folgenreiche Neubestimmung des Begriffs der Poesie vonstatten geht“ (S. 14). Poesie und Klassenbegriff sind in dieser Bestimmung eng verwoben, verweisen aufeinander insofern, als die Klasse als schreibendes Subjekt ihrer eigenen Poesie in Erscheinung tritt (vgl. S. 16).
Der Literatur und ihrer Sprache eingeschrieben ist das Mal gesellschaftlicher Wirklichkeit ebenso wie ihre begrifflichen Ausdrucksformen irritierend rückwirken auf die gesellschaftshistorische Entwicklung. „‚Gesellschaftstheorie‘“ wird so als „‚Begriffsgeschichte‘“ betrieben, die, und das macht der Vormärz deutlich, kein Abhub von Realität ist, sondern die Vermittlung von politischer und sozialer Sprache herstellt (vgl. S. 17). Exemplarisch wird dies am Begriff des Proletariats, den der Autor verstanden wissen will als sozialhistorische Prozesskategorie, an deren Ende die „Herstellung eines sozialen Kollektivs“ steht (vgl. S. 21). Während Proletarisierung zunächst nichts anderes bedeute, als der Zuwachs des Anteils von Lohnarbeitern an der Bevölkerung, supponiert dieser Prozess einen bewusst-politischen Akt der Subjektivierung, was meint, die „politische Identifizierung mit der eigenen Proletarisierung“ (S. 22).
Diese Identifizierung konstituiert sich über die Erfahrungen der Proletarisierung als Bedingung eines gemeinsamen Wir, woraus Klassenbewusstsein unmittelbar sich ableitet. Als Akt „sozialer Sinngebung“ äußert sich dieses in zeitgenössischen Erzählungen, Lyrik, Bildersprachen, um dort einen imaginären Raum zu fundamentieren, der nicht nur realistische Elendsbeschreibung enthält, sondern die Möglichkeit realer Emanzipationsprozesse konserviert (vgl. S. 23). Ohne einen „‚objektiven‘ Klassenbegriff“ gänzlich auszuschlagen, setzt die vorliegende Studie somit auf die „‚subjektive‘ Dimension“ von Proletarisierung, „die Art und Weise, wie die ‚objektiven‘ Bedingungen imaginär bearbeitet und damit kulturell lebbar, wie sie verstehbar und überhaupt vorstellbar gemacht werden (.)“ (S. 24).
Da gerade im deutschen Vormärz und im Zuge der Etablierung kapitalistischer Strukturprozesse Bruchlinien mit tradierten Lebensmustern besonders deutlich werden, ist diese historische Epoche noch geprägt von enormen Anpassungsschwierigkeiten an die neuen Verhältnisse. Integrationsversuche ins neue Lohnarbeitersystem, denen gewaltsame Prozesse der Enteignung und Desintegration vorausgingen, verbinden sich hier mit einem „romantischen Antikapitalismus“, einer „romantischen Kritik“, die sich „‚gründet in der Erfahrung eines Verlustes, in der schmerzhaften Überzeugung, dass in der modernen Realität etwas Wertvolles verloren gegangen sei‘“ (S. 31).
Während in der literarischen Reflexion auf das gerade im Verschwinden Befindliche sich ebenfalls das reale Verlangen nach Veränderung erhalten kann, ist so abgesteckt das Desiderat des vorliegenden Werkes: „Es geht nicht länger nur darum, ‚wie es eigentlich gewesen ist‘, sondern um das, was hätte geschehen können, was zufällig oder notwendig nicht geschehen ist, aber dadurch vielleicht doch Auswirkungen hatte, um Denkmöglichkeiten, Unterstellungen und imaginäre Überschüsse“ (S. 31 f.).
Aufbau und Inhalt
Der Vormärz beschreibt eine „diskursive Gemengelage“, in der eine „noch ungeordnete proletarische Klassenbewegung“ ihren Ausdruck findet (S. 33). Konkret wird dies an der Vielzahl von unterschiedlichsten Publikationen und literarischen Experimenten, welche über Gattungsgrenzen und Disziplinen hinweg die Proletarisierung offen thematisieren (vgl. S. 35). Wer seinerzeit über soziale Verhältnisse sich artikulieren wollte, konnte dies noch unvermittelt über verschiedenste Kanäle tun: Von der Gründung einer eigenen Zeitschrift, über Erzählungen und Romane, bis hin zu wissenschaftlichen Methoden einer noch im Entstehen begriffenen Soziologie oder Volkskunde (vgl. S. 33). Die Erfahrungswirklichkeit des Proletariats erschöpft sich nicht in einem Organ, sondern, im Sinne eines „buntscheckigen Haufens“, in einer weitestgehend „wilden Schreibszene“, deren Formen der Autor als Medien begreift, „in denen sich die imaginäre Formierung von Klassenidentitäten und -bewusstseinsformen vollzieht und nachvollziehen lässt“ (S. 34).
Was theoretisch als Klassensubjekt nicht verarbeitet werden kann, das lässt sich entsprechend als „Klassenfigur“ narrativ bewerkstelligen und als Erzählung lebendig halten (vgl. S. 38 f.). Der Erfahrung von Klassenidentität, ihrer Imagination als romantische Erinnerung und Erwartung, geht der Autor in insgesamt sieben Hauptkapiteln nach. Im Sinne einer engen literarisch-historischen Textanalyse von Primärquellen wird die Vormärzliteratur als romantische Kritik aufbereitet und aktualisiert. Die Studie selbst schließt mit einem Schlussteil und Epilog.
Kapitel I hat zur Grundlage Ludwig Tiecks Großnovelle „Der junge Tischlermeister“, in der das ehemalige Zunftwesen mit dem modernen Fabrikleben und der Gewerbefreiheit kontrastiert wird (vgl. 41 ff.). Ging von den Zünften und ihren tradierten Arbeitsformen sowie familiären Unterbau eine Integrationskraft aus, die ein Maß an Sicherheit und fassbarer Perspektive schuf, wird das „über Tradition gewährleistete gesellschaftliche Kontinuum aufgesprengt“ (S. 48). Mit dem Eingehen der Zünfte und des alten Handwerks findet ein Zerfallsprozess der gesamten Gesellschaft statt, eine Verpöpelung (Hegel) der abhängig Arbeitenden (vgl. S. 49 f.). Indem Tieck den Unterschied zwischen dem Alten und Neuen festhält im Verlust ehemals stabiler und für die Menschen fest integrierter Ordnungen und Rituale, falle die Kritik an den Zuständen der Gegenwart, so Eiden-Offe, umso schärfer aus, allerdings nicht um der reinen Klage willen, sondern immer nach den Kosten dieser Verlusttendenzen fragend (vgl. S. 58; 51). Irreversibel ist die Entwicklung des aufkommenden Kapitalismus, das weiß der „romantische Handwerker-Dichter“ auch, weshalb er keinerlei Rückkehrillusionen zu einer verklärten Vergangenheit hegen kann; vielmehr greift er als Tischler zur Kunstform als „Mittel der Kompensation“ (S. 65). In der Kunst des Handwerks steckt das Notwendige aber auch ein Überschuss, die Möglichkeit eines ästhetischen Schaffens, Ausdruck davon, dass alte Begriffe sich nicht mehr auf die neue Wirklichkeit übertragen lassen; dies gebe Anlass zu „einer gesteigerten sprachpoetischen und sprachpolitischen Kreativität und Produktivität“ (S. 74).
Schließt Eiden-Offe das Kapitel mit zwei weiteren Unterkapiteln zu Wilhelm Weitlings und Georg Weerths Beiträgen zu einer imaginären Selbstfindung der Klasse (S. 77-105), widmet sich Kapitel II der „Identitätsfindung der Klasse in Zeitschriftenprojekten“. Exemplifiziert wird diese neben dem „Hülferuf“ am Publikationsorgan „Gesellschaftsspiegel“, der das Versprechen einer „‚proletarischen Öffentlichkeit‘“ formuliert und die Heterogenität des vormärzlichen Proletariats abbildet (vgl. S. 124). Themen kreisen dort detailreich um die Proletarisierung, behandeln aber die arbeitenden Klassen nicht direkt als Adressaten, sondern als Gegenstand der Betrachtung, weshalb eine politische Subjektivierung nicht stattfindet (vgl. S. 125 f.). „Das Proletariat bleibt stummes Objekt, weil die Macher der Zeitschrift sich nicht selbst als Proletarier zu begreifen willens (.) sind“ (S. 126 f.).
Wer zur Klassengesellschaft gehört und wer nicht, wird auch über die zeitgenössischen Sozialstatistiken versucht einzuholen, die ebenfalls im „Gesellschaftsspiegel“ referiert werden (Kapitel III). Zahlen werden dort „sinnfällig aufbereitet“ und der Leserschaft „vorstellbar“ gemacht, sodass der deskriptive Charakter der Statistiken oftmals ergänzt wird durch anschauliche Beschreibungen, Erzählungen und Gedichte (vgl. S. 137). Neben aller politischer Agitation soll objektives Belastungsmaterial gesammelt und die Leser überzeugt werden von der Notwendigkeit einer Überwindung der gegenwärtigen Verhältnisse (vgl. S. 152). Zugleich stellt sich mit der Aufbereitung des Datenmaterials auch die poetische Frage, wie soziales Elend ohne Larmoyanz und zusätzliche Erniedrigung der Opfer dargestellt werden soll.
Diese Frage, aufgenommen in Kapitel IV, umkreist die Möglichkeit einer „politisch-theoretischen Kritik der sozialen Misere“ (S. 163), erweitert um die Problematik, wie tief die romantische Literatur in sozialstrukturelle Widersprüche überhaupt einzudringen imstande ist, was Engels in seiner Polemik „Deutscher Sozialismus in Versen und Prosa“ schon kritisch thematisierte (vgl. S. 166). Fähig sei romantische Kritik lediglich, Gegensätze wie Arm und Reich zu beschreiben, zu skandalisieren, wo doch eigentlich der widersprüchliche Konstitutionszusammenhang, das Verhältnis des Einzelnen zum Allgemeinen klargemacht werden müsste (vgl. S. 168 f.). Stattdessen würde das Einzelne nicht nur nicht an das gesellschaftliche Allgemeine gebunden, sondern die Unterscheidung zwischen beidem gar nicht erst gemacht (vgl. S. 169). Engels, der hier den Protagonisten eine Erzählschwäche attestiert, fundamentiert seine Begründung mit der Analyse, dass die „‚allgemeine[n] Verhältnisse‘ der Klassengesellschaft sich nicht mehr erzählen lassen, (.) [da] diese Verhältnisse als allgemeine vom Einzelnen auch nicht mehr erfahren werden können; das System hat sich von der Erfahrung und Erfahrbarkeit entkoppelt“ (S. 237), was von ihm später in der Methode der Sozialreportage reflektiert ist (Kapitel VI).
Während Kapitel V unter dem Topoi „Lohnarbeit und Sklaverei“ sich befasst mit der romantischen Gesellschaftsanalyse unter Verwendung „alter Bildersprache“ (S. 205), thematisiert Kapitel VII den Klassenkampf. Über Texte von Tieck, Börne, Weitling, Willkomm, Weerth und Otto-Peters folgt Eiden-Offes Typologie von Formen des Klassenkampfes der Hypothese, „dass Klassen nicht schon als fertige in den Kampf eintreten, sondern erst durch den Kampf konstituiert werden“ (S. 253). „Klasse“ stelle damit ein durch und durch polemisches Konzept dar, da es sinnlos sei, nur von einer Klasse zu sprechen, ohne die gegnerische Seite zu benennen (vgl. S. 253 f.), was der Autor am Zusammenhang von Rache und Klasse im Anschluss problematisiert: An Willkomms Roman „Weisse Sclaven“ wird deutlich, wie ein politisch handelndes Kollektivsubjekt sich aus dem Gefühl der Rache konstituiert (vgl. S. 276) und zugleich diejenige Seite des romantischen Antikapitalismus offenbart, die als restriktiv und reaktionär zu bestimmen wäre, aber von Eiden-Offe, wie er im Epilog erklärt, zugunsten der Analyse bewusst zurückgestellt wurde (vgl. S. 349).
Das Schlusskapitel, betitelt als „Die Rückkehr des romantischen Antikapitalismus“, hält fest, dass auch die Bewegungen des Luddismus und der Maschinenstürmer immer ein Moment des Imaginären enthalten, das nicht auf Ideologie reduziert werden kann, sondern auf Emanzipation verweist (vgl. S. 320). Vor allem die Propagandisten der Maschinenstürmerei seien als politische Bewegung darum romantisch, da sie sich „der Macht selbstfabrizierter Mythen überlassen und diese als Waffe im politischen Kampf einsetzen“ (S. 321). Abgesteckt ist damit eine Geschichte von sozialen Gestalten, die jenseits der aufkommenden klassischen Arbeiterbewegung wirkmächtig und mit anhaltender Virulenz Kampfformen konservieren: „eine Geschichte der Arbeitsscheuen und Vaganten, die sich der herrschenden (.) Vergottung der Arbeit entzogen haben“ und als Figuren bis heute bloß in ihren „poetischen Manifestationen“ greifbar sind (S. 324 f.).
Eine zunehmende Prekarisierung, nebst massiver Ausbeutungspraktiken und Zwängen zur „rast- und heilloseren Hyperaktivität“, konvergiert mit dem Fehlen einer gemeinsamen Bildersprache, „in der sich die Gegenwart mit sich selbst verständigen könnte“ (S. 329 f.). Dieser Befund ist für Eiden-Offe und der Analyse heutiger sozialer Wirklichkeit zentral, wo das mutmaßliche Ausbleiben des „revolutionären Subjekts“ (Marx) relevant bleibt und (scheinbar) entkoppelt ist von der klassischen Arbeiterbewegung. Für den Autor, und das soll seine Studie zeigen, ist eine „Klasse für sich selbst“ nur zur haben über eine gemeinsame Bildersprache, an der die erfahrene Lebenswirklichkeit des Prekariats sich verständigen und organisieren kann (vgl. S. 332). Gebunden wäre diese an die Tradition des romantischen Vormärz und ihre antikapitalistischen Imaginationen insofern, als sie die Klasse im Kampf nicht nur als wirkmächtigen Mythos hervorbringt, sondern zugleich ein Moment der Unvorhersehbarkeit enthält, der über die gegebenen Verhältnisse hinaus weisen könnte (vgl. S. 333 f.).
Diskussion
„Das dichterische Gewinsel dieses Jahrhunderts ist nichts als Sophismus“, so pointiert Lautréamont in seinem Werk Poésies. Und weiter: „Die Verzweiflung, die sich mit Vorbedacht von ihren Phantasmagorien nährt, führt den Literaten unerbittlich zur (.) theoretischen und praktischen Schlechtigkeit“.
Poesie ist nicht gleich Poesie und das poetische Prinzip, so unterschiedlich in der Anspruchshaltung, ist unerbittlich zu führen auf seinen Vergesellschaftungszusammenhang. Während bereits im Heinrich von Ofterdingen, dem Prototyp des romantischen Romans, eine enge Bindung von Dichtung und unmittelbarer sozialer Wirklichkeit hergestellt wird, heben nicht ohne Grund die poetologischen Überlegungen eines A. E. Poe hervor, die erhebende Erregung der Seele durch Ästhetik, welche „stets ganz unabhängig von jener Leidenschaft ist, die das Herz berauscht, oder von der Wahrheit, die dem Verstand Genüge tut“. Wie im Werk Baudelaires drückt sich hier aus die Reflexion auf eine Mythologisierung von Literatur, die der bürgerlichen Gesellschaft trotz Kritik an ihr auf den Leim geht. Auch wenn zumindest Baudelaire z.T. den Massen treuer war, als alle „Armeleutepoesie“ (Adorno), grundsätzlich verdächtig ist diesen Autoren eine allzu positivistische Nähe der eigenen Literatur zur Wirklichkeit, da sie sich unverblümt und bar ihrer Formenwandlungen auf dieselbe Tatsache der Gewalt stützt, die sie doch eingehend beklagt. In Carl Gustav Jochmanns Text „Die Rückschritte der Poesie“, datiert noch vor dem Vormärz, ist von einer parallel existierenden „kranken Phantasie“ gesprochen; Phantasie hätte in der Vergangenheit und Gegenwart ihren Grund, was ihre schlichte Identifizierung mit der Realität begünstigt: „wir denken knechtisch, weil wir uns schwach fühlen, und unsre Urteile sind in der Regel so beschränkt, als unsre Lage“.
Es ist das Fortbestehen von Widersprüchen der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft selbst, die hier Emanzipation kompromittiert. In seiner „Rede über Lyrik und Gesellschaft“ führt Adorno deshalb aus, dass Lyrik versucht, über die Sprache eine unabdingbare Beziehung zur Gesellschaft herzustellen. Schöngeistige Literatur zeige sich dort am tiefsten gesellschaftlich verbürgt, „wo sie nicht der Gesellschaft nach dem Munde redet, wo sich nichts mitteilt, sondern wo das Subjekt, dem der Ausdruck glückt, zum Einstand mit der Sprache selber kommt, dem, wohin diese von sich aus möchte“. Ist damit das einzelne Schicksalsleid verdrängt durch die Wahrnehmung auf kapitalistische Moderne schlechthin, verfolge die Romantik „programmatisch eine Art Transfusion des Kollektiven ins Individuelle, kraft deren die individuelle Lyrik eher der Illusion allgemeiner Verbindlichkeit technisch nachhing, als dass ihr jene Verbindlichkeit aus sich selbst heraus zugefallen wäre“. Der Hinweis Adornos trägt Relevanz, da in Sprache und Poesie nicht nur solidarische Erfahrung sich materialisiert, sondern auch auf Verdinglichung (Marx) schon verwiesen ist, worauf zu reflektieren Romantik sich nie anschicken musste. Nach Valéry ermöglicht uns die Sprache eben auch, nicht hinschauen zu müssen, was damit zusammenhängt, dass zu jeder Erhöhung des lyrischen Subjekts als Schatten gehört „dessen Erniedrigung zum Austauschbaren, zum bloßen Sein für anderes“ (Adorno). Vereidigt auf die gegebenen Verhältnisse, wird die nicht notwendige Idealisierung der Vergangenheit (vgl. S. 29) so zum Exempel auf den hoffnungslosen Globalisierungsrealismus der Gegenwart und ihre renationalistischen Ambitionen.
Hier schließt sich auch der Problemkreis an, wo Subjekte der Politik zu pathologischen Objekten von Demagogen werden. Nicht zwangsläufig, und das zeigt die bisherige Geschichte der Arbeiterklasse, sofern sie sich als Subjekt gebiert, mündet das Suchen einer gemeinsamen Sprache in emanzipatorisch-solidarischer Einheit. Ist romantische Kritik untrennbar verbunden mit einem Programm der Rettung oder Restitution (vgl. S. 31), wäre nicht nur zu fragen, worüber sich ‚Rettung‘ einstellt, sondern warum sie sich oft als autoritäre inthronisiert, gemeinsame Sprache über Klassengrenzen hinweg als Volksgemeinschaft imputiert wird. Jenes „Staunen über jenen verschwenderischen Reichtum an sozialen, an kulturellen und literarischen Formen, in denen sich Menschen historisch mit diesen Problemen auseinandergesetzt und in denen sie gegen diese Probleme gekämpft haben“ (S. 16), imaginiert dort selbst zum verdinglichten Narrativ, wird nutzbar für politische Zwecke, deren sich Literatur radikal zu verwehren hätte. Das „Bedürfnis nach dem Mythos“ der Arbeiterklasse verspricht so eben nicht gefährlich zu werden für die herrschenden Verhältnisse (vgl. S. 330), sondern es tritt als Hypostasierung in den Dienst des Repressiv-Allgemeinen.
Mit dieser Wirklichkeit wird auch Theorie nicht fertig, woraus aber nicht folgt deren Abgeltung durch narrative Bewirtschaftung (vgl. S. 39). Stellt Wahrheit über Realität sich ein ausschließlich über die Anstrengung des Begriffs (Hegel), trägt immanente Kritik daran ihre Aktualisierung. Auch weil der Zusammenhang von Gewalt und Erfahrung mutmaßlich zerrissen ist, fasst Romantik den Klassenantagonismus eher als Entität, womit seine Vermittlung durchs Kapitalverhältnis unkenntlich wird. Dass unter der „formellen Subsumtion des Kapitals“ (Marx) Gewalt sich unmittelbar, und über Schichtzugehörigkeiten hinweg, weiterhin und tiefgreifend durchsetzt, dieser Logik ist im Vormärz wie heute allein durch romantischen Antikapitalismus nicht beizukommen. Theoretisch zu insistieren ist auf das Kapitalverhältnis selbst, das notwendig auf emanzipatorische Praxis schon verweist. Hierüber wäre eigentlich und nach wie vor Klassenerfahrung zu fundamentieren, was freihielte von „metaphorischen“ und „ideologischen“ Anleihen (vgl. S. 238).
Kenntlich gemacht ist dann auch, dass das Werk des ‚reifen‘ Marx mitnichten durchweht ist durch ein „revolutionäres Pneuma einer letztlich moralischen Empörung“ (S. 218). Das Wertgesetz, die Herstellung des Tauschwerts über „gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit“ (Marx), trifft keine moralische Metaphorik sondern den Kern des kapitalistischen Vergesellschaftungszusammenhangs, die objektiven Konstitutionsbestimmungen von (Klassen-)Bewusstsein, die es unter Rekurs neuer Erscheinungsformen heute zu analysieren gilt.
Verdinglichtes Bewusstsein in seiner notwendigen Falschheit verhindert reflexiven Ungehorsam (Foucault), die Analyse von der Rechenschaft der eigenen Stellung im kapitalistischen Produktionsprozess. Die Dechiffrierung von Bewusstsein als notwendig Falsches verweist auf Theorie, die auszufalten hätte, warum bisher keine Selbstverständigung einer proletarischen Klasse zustande kommt, durch die die Wirklichkeit von Lohnarbeit und Ausbeutung zu ihrem Recht, d.h. auf den Weg ihrer Abschaffung käme (Benjamin).
Kritik, die nicht durch Theorie geht, bleibt beugsam vor der Geschichte.
Fazit
Eiden-Offes literaturhistorische Studie „Poesie der Klasse“ bietet ein fundiertes und ausführliches Konglomerat romantischer Kapitalismuskritik und ihrer literarischen Artikulation. Anknüpfend an kulturwissenschaftliche Diskussionen, welche Literatur auf ihre imaginären Potenziale hin untersuchen, in ästhetischen Gebilden die Wirksamkeit von kulturellen Vorstellungen und Selbstbilder freilegen, bleibt sie theoretisch anschlussfähig auch im polnischen Wissenschaftsdiskurs, der bekanntlich eine weitreichende romantische Forschungstradition aufbieten kann (u.a. Maria Janion). Die darin nicht nur implizit aufgeworfene Frage nach der Möglichkeit eines neuen sozialen Kollektivs, das sich über eine gemeinsame Sprache verständigt und Widerstand gegenüber Herrschaftsverhältnissen erzeugt, stellt dabei eine weitergehende Analyse zur Disposition, die über die Imaginationsbewegungen des Vormärz hinaus in die kapitalistische Gegenwart hineinreicht und, im Sinne Kritischer Theorie, als immanente Kritik an ihr auszuformulieren wäre.
Rezension von
Dr. phil. Kevin-Rick Doß
Mailformular
Es gibt 15 Rezensionen von Kevin-Rick Doß.