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Patrick Eiden-Offe: Die Poesie der Klasse

Rezensiert von Dr. phil. Kevin-Rick Doß, 07.03.2018

Cover Patrick Eiden-Offe: Die Poesie der Klasse ISBN 978-3-95757-398-8

Patrick Eiden-Offe: Die Poesie der Klasse. Romantischer Antikapitalismus und die Erfindung des Proletariats. Matthes & Seitz (Berlin) 2017. 460 Seiten. ISBN 978-3-95757-398-8. D: 28,00 EUR, A: 28,80 EUR, CH: 34,80 sFr.

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Thema

„Im Vormärz werden alle wesentlichen Weichen für das gestellt, was wir bis heute ‚die Moderne‘ nennen: (.) mit all ihren Aufbrüchen, Normierungen und Spaltungen“ (S. 13). Gelten die beiden Jahrzehnte nach 1830 im Deutschen gemeinhin als Vormärz, ist damit die ge­schicht­li­che Epoche um­rissen, die Eiden-Offe für die vorliegende Studie aufbereitet. Ziel sei es, aus den Verschüttungen dieser Geschichte, eine „Poesie der Klasse“ zu bergen „und sie für die Gegenwart (.) wieder zur De­batte zu stellen“ (S. 17).

Der Begriff „Poesie“ wird von Eiden-Offe ins Feld geführt in Verhältnisbestimmung zu einer „‚bereits zur Prosa geordneten Wirklichkeit‘“ (S. 13). Hegels Vorlesungen über die Ästhetik auf­neh­mend, kon­fli­gieren darin die „‚Prosa der Verhältnisse‘“ mit der „‚Poesie des Herzens‘“ (ebd.), wenn­gleich mit dem auf­kommenden Begriff der sozialen Klasse „parallel eine folgenreiche Neu­be­stimmung des Begriffs der Poesie vonstatten geht“ (S. 14). Poesie und Klassenbegriff sind in dieser Be­stimmung eng ver­wo­ben, verweisen aufeinander insofern, als die Klasse als schreibendes Sub­jekt ihrer eigenen Poesie in Er­scheinung tritt (vgl. S. 16).

Der Literatur und ihrer Sprache eingeschrieben ist das Mal gesell­schaftlicher Wirklichkeit ebenso wie ihre begrifflichen Ausdrucksformen irritierend rückwirken auf die gesellschaftshistorische Ent­wick­lung. „‚Gesellschaftstheorie‘“ wird so als „‚Begriffsgeschichte‘“ betrieben, die, und das macht der Vor­märz deutlich, kein Abhub von Realität ist, sondern die Vermittlung von politischer und sozialer Sprache herstellt (vgl. S. 17). Exemplarisch wird dies am Begriff des Proletariats, den der Au­­tor verstanden wissen will als sozialhistorische Prozesskategorie, an deren Ende die „Her­stell­ung ei­nes sozialen Kollektivs“ steht (vgl. S. 21). Während Proletarisierung zunächst nichts anderes bedeute, als der Zuwachs des Anteils von Lohnarbeitern an der Bevölkerung, supponiert dieser Prozess einen be­wusst-po­li­ti­schen Akt der Subjektivierung, was meint, die „politische Iden­ti­fi­zierung mit der ei­ge­n­en Pro­le­ta­ri­sierung“ (S. 22).

Diese Identifizierung konstituiert sich über die Erfahrungen der Proletarisierung als Bedingung eines ge­meinsamen Wir, woraus Klassenbewusstsein unmittelbar sich ableitet. Als Akt „sozialer Sinn­ge­bung“ äußert sich dieses in zeitgenössischen Erzählungen, Lyrik, Bildersprachen, um dort einen ima­gi­nä­ren Raum zu fundamentieren, der nicht nur realistische Elendsbeschreibung enthält, sondern die Mög­­lichkeit realer Emanzipationsprozesse konserviert (vgl. S. 23). Ohne einen „‚ob­jek­tiven‘ Klassen­be­­griff“ gänzlich auszuschlagen, setzt die vorliegende Studie somit auf die „‚sub­jek­tive‘ Dimension“ von Proletarisierung, „die Art und Weise, wie die ‚objektiven‘ Bedingungen ima­ginär bearbeitet und da­­mit kulturell lebbar, wie sie verstehbar und überhaupt vorstellbar ge­macht werden (.)“ (S. 24).

Da gerade im deutschen Vormärz und im Zuge der Etablierung kapitalistischer Strukturprozesse Bruch­­­­linien mit tradierten Lebensmustern besonders deutlich werden, ist diese historische Epoche noch ge­­prägt von enormen Anpassungsschwierigkeiten an die neuen Verhältnisse. Inte­gra­tions­ver­suche ins neue Lohnarbeitersystem, denen gewaltsame Prozesse der Enteignung und Desintegration vor­aus­gin­gen, verbinden sich hier mit einem „romantischen Antikapitalismus“, einer „ro­man­ti­schen Kritik“, die sich „‚gründet in der Erfahrung eines Verlustes, in der schmerzhaften Über­zeu­gung, dass in der mo­der­nen Realität etwas Wertvolles verloren gegangen sei‘“ (S. 31).

Während in der literarischen Reflexion auf das gerade im Verschwinden Befindliche sich ebenfalls das reale Verlangen nach Veränderung erhalten kann, ist so abgesteckt das Desiderat des vor­lie­gen­den Werkes: „Es geht nicht länger nur darum, ‚wie es eigentlich gewesen ist‘, sondern um das, was hätte geschehen können, was zufällig oder notwendig nicht geschehen ist, aber dadurch vielleicht doch Auswirkungen hatte, um Denkmöglichkeiten, Unterstellungen und imaginäre Überschüsse“ (S. 31 f.).

Aufbau und Inhalt

Der Vormärz beschreibt eine „diskursive Gemengelage“, in der eine „noch ungeordnete pro­le­ta­ri­sche Klassenbewegung“ ihren Ausdruck findet (S. 33). Konkret wird dies an der Vielzahl von unter­schied­lichsten Publikationen und literarischen Experimenten, welche über Gattungsgrenzen und Dis­zi­pli­nen hinweg die Proletarisierung offen thematisieren (vgl. S. 35). Wer seinerzeit über soziale Verhältnisse sich artikulieren wollte, konnte dies noch unvermittelt über verschiedenste Kanäle tun: Von der Gründung einer eigenen Zeitschrift, über Erzählungen und Romane, bis hin zu wissenschaftlichen Methoden einer noch im Entstehen begriffenen Soziologie oder Volkskunde (vgl. S. 33). Die Erfahrungswirklichkeit des Proletariats erschöpft sich nicht in einem Organ, son­dern, im Sinne eines „buntscheckigen Haufens“, in einer weitestgehend „wilden Schreibszene“, deren Formen der Autor als Medien be­greift, „in denen sich die imaginäre Formierung von Klas­sen­­identitäten und -bewusstseinsformen voll­­zieht und nachvollziehen lässt“ (S. 34).

Was theoretisch als Klassensubjekt nicht verarbeitet werden kann, das lässt sich entsprechend als „Klassenfigur“ narrativ bewerkstelligen und als Erzählung lebendig halten (vgl. S. 38 f.). Der Er­fahr­ung von Klassenidentität, ihrer Imagination als romantische Erinnerung und Erwartung, geht der Autor in insgesamt sieben Hauptkapiteln nach. Im Sinne einer engen literarisch-historischen Textanalyse von Primärquellen wird die Vormärzliteratur als romantische Kritik aufbereitet und aktualisiert. Die Studie selbst schließt mit einem Schlussteil und Epilog.

Kapitel I hat zur Grundlage Ludwig Tiecks Großnovelle „Der junge Tischlermeister“, in der das ehe­ma­lige Zunftwesen mit dem modernen Fabrikleben und der Gewerbefreiheit kontrastiert wird (vgl. 41 ff.). Ging von den Zünften und ihren tradierten Arbeitsformen sowie familiären Unterbau eine In­te­grationskraft aus, die ein Maß an Sicherheit und fassbarer Perspektive schuf, wird das „über Tra­di­tion gewährleistete gesellschaftliche Kontinuum aufgesprengt“ (S. 48). Mit dem Eingehen der Zün­fte und des alten Handwerks findet ein Zerfallsprozess der gesamten Gesellschaft statt, eine Ver­pöpelung (Hegel) der abhängig Arbeitenden (vgl. S. 49 f.). Indem Tieck den Unterschied zwi­schen dem Alten und Neuen festhält im Verlust ehemals stabiler und für die Menschen fest in­te­grier­ter Ordnungen und Rituale, falle die Kritik an den Zuständen der Gegenwart, so Eiden-Offe, um­so schärfer aus, allerdings nicht um der reinen Klage willen, sondern immer nach den Kosten dieser Verlusttendenzen fragend (vgl. S. 58; 51). Irreversibel ist die Entwicklung des auf­kom­men­den Kapitalismus, das weiß der „romantische Handwerker-Dichter“ auch, weshalb er kei­nerlei Rück­­kehrillusionen zu einer verklärten Vergangenheit hegen kann; vielmehr greift er als Tischler zur Kunst­form als „Mittel der Kompensation“ (S. 65). In der Kunst des Handwerks steckt das Not­wen­dige aber auch ein Überschuss, die Möglichkeit eines ästhetischen Schaffens, Ausdruck da­von, dass alte Begriffe sich nicht mehr auf die neue Wirklichkeit übertragen lassen; dies gebe An­lass zu „einer gesteigerten sprachpoetischen und sprachpolitischen Kreativität und Produkti­vi­tät“ (S. 74).

Schließt Eiden-Offe das Kapitel mit zwei weiteren Unterkapiteln zu Wilhelm Weitlings und Georg Weerths Beiträgen zu einer imaginären Selbstfindung der Klasse (S. 77-105), widmet sich Kapitel II der „Identitätsfindung der Klasse in Zeitschriftenprojekten“. Exemplifiziert wird diese neben dem „Hülferuf“ am Publika­tions­organ „Gesellschaftsspiegel“, der das Versprechen einer „‚proletarischen Öffentlichkeit‘“ for­mu­liert und die Heterogenität des vormärzlichen Proletariats abbildet (vgl. S. 124). Themen kreisen dort detailreich um die Proletarisierung, behandeln aber die arbeitenden Klassen nicht direkt als Adressaten, sondern als Gegenstand der Betrachtung, weshalb eine po­li­ti­sche Subjektivierung nicht stattfindet (vgl. S. 125 f.). „Das Proletariat bleibt stummes Objekt, weil die Macher der Zeitschrift sich nicht selbst als Proletarier zu begreifen willens (.) sind“ (S. 126 f.).

Wer zur Klassengesellschaft gehört und wer nicht, wird auch über die zeitgenössischen Sozial­statistiken versucht einzuholen, die ebenfalls im „Gesellschaftsspiegel“ referiert werden (Kapitel III). Zahlen werden dort „sinnfällig aufbereitet“ und der Leserschaft „vorstellbar“ gemacht, so­dass der deskriptive Charakter der Statistiken oftmals ergänzt wird durch anschauliche Be­schrei­bun­gen, Er­­zählungen und Gedichte (vgl. S. 137). Neben aller politischer Agitation soll objektives Be­las­tungs­material gesammelt und die Leser überzeugt werden von der Notwendigkeit einer Über­win­dung der gegenwärtigen Verhältnisse (vgl. S. 152). Zugleich stellt sich mit der Aufbereitung des Da­tenmaterials auch die poetische Frage, wie soziales Elend ohne Larmoyanz und zusätzliche Er­nie­drigung der Opfer dargestellt werden soll.

Diese Frage, aufgenommen in Kapitel IV, umkreist die Möglichkeit einer „politisch-theoretischen Kri­tik der sozialen Misere“ (S. 163), erweitert um die Problematik, wie tief die romantische Li­te­ra­tur in sozialstrukturelle Widersprüche überhaupt einzudringen imstande ist, was Engels in seiner Po­lemik „Deut­scher Sozialismus in Versen und Prosa“ schon kritisch thematisierte (vgl. S. 166). Fähig sei romantische Kritik lediglich, Gegensätze wie Arm und Reich zu beschreiben, zu skan­da­li­sieren, wo doch eigentlich der widersprüchliche Konstitutionszusammenhang, das Ver­hält­nis des Ein­zelnen zum Allgemeinen klargemacht werden müsste (vgl. S. 168 f.). Stattdessen würde das Ein­zel­ne nicht nur nicht an das gesellschaftliche Allgemeine gebunden, sondern die Unterscheidung zwi­­schen beidem gar nicht erst gemacht (vgl. S. 169). Engels, der hier den Protagonisten eine Erzähl­schwäche attestiert, fundamentiert seine Begründung mit der Analyse, dass die „‚all­ge­mei­ne[n] Verhältnisse‘ der Klassengesellschaft sich nicht mehr erzählen lassen, (.) [da] diese Ver­hält­nisse als allgemeine vom Einzelnen auch nicht mehr erfahren werden können; das System hat sich von der Erfahrung und Erfahrbarkeit entkoppelt“ (S. 237), was von ihm später in der Methode der Sozial­re­por­tage reflektiert ist (Kapitel VI).

Während Kapitel V unter dem Topoi „Lohnarbeit und Sklaverei“ sich befasst mit der romantischen Gesellschaftsanalyse unter Verwendung „alter Bildersprache“ (S. 205), thematisiert Kapitel VII den Klassenkampf. Über Texte von Tieck, Börne, Weitling, Willkomm, Weerth und Otto-Peters folgt Eiden-Offes Typologie von Formen des Klassenkampfes der Hypothese, „dass Klassen nicht schon als fertige in den Kampf eintreten, sondern erst durch den Kampf konstituiert werden“ (S. 253). „Klasse“ stelle damit ein durch und durch polemisches Konzept dar, da es sinnlos sei, nur von einer Klasse zu sprechen, ohne die gegnerische Seite zu benennen (vgl. S. 253 f.), was der Autor am Zusammenhang von Rache und Klasse im Anschluss problematisiert: An Willkomms Roman „Weisse Sclaven“ wird deutlich, wie ein politisch handelndes Kollektivsubjekt sich aus dem Gefühl der Rache konstituiert (vgl. S. 276) und zugleich diejenige Seite des romantischen Antikapitalismus offenbart, die als restriktiv und reaktionär zu bestimmen wäre, aber von Eiden-Offe, wie er im Epilog erklärt, zugunsten der Analyse bewusst zurückgestellt wurde (vgl. S. 349).

Das Schlusskapitel, betitelt als „Die Rückkehr des romantischen Antikapitalismus“, hält fest, dass auch die Bewegungen des Luddismus und der Maschinenstürmer immer ein Moment des Imaginären ent­­halten, das nicht auf Ideologie reduziert werden kann, sondern auf Emanzipation verweist (vgl. S. 320). Vor allem die Propagandisten der Maschinenstürmerei seien als politische Bewegung da­rum romantisch, da sie sich „der Macht selbstfabrizierter Mythen überlassen und diese als Waffe im politischen Kampf einsetzen“ (S. 321). Abgesteckt ist damit eine Geschichte von sozialen Ge­stal­ten, die jenseits der aufkommenden klassischen Arbeiterbewegung wirkmächtig und mit an­hal­ten­der Virulenz Kampfformen konservieren: „eine Geschichte der Arbeitsscheuen und Va­gan­ten, die sich der herrschenden (.) Vergottung der Arbeit entzogen haben“ und als Figuren bis heu­te bloß in ihren „poetischen Manifestationen“ greifbar sind (S. 324 f.).

Eine zunehmende Prekarisierung, nebst massiver Ausbeutungspraktiken und Zwängen zur „rast- und heilloseren Hyperaktivität“, konvergiert mit dem Fehlen einer gemeinsamen Bildersprache, „in der sich die Gegenwart mit sich selbst verständigen könnte“ (S. 329 f.). Dieser Befund ist für Eiden-Offe und der Analyse heutiger sozialer Wirklichkeit zentral, wo das mutmaßliche Ausbleiben des „revolutionären Subjekts“ (Marx) relevant bleibt und (scheinbar) entkoppelt ist von der klassischen Arbeiterbewegung. Für den Autor, und das soll seine Studie zeigen, ist eine „Klasse für sich selbst“ nur zur haben über eine gemeinsame Bildersprache, an der die erfahrene Lebenswirklichkeit des Pre­kariats sich verständigen und organisieren kann (vgl. S. 332). Gebunden wäre diese an die Tra­di­tion des romantischen Vormärz und ihre antikapitalistischen Imaginationen insofern, als sie die Klasse im Kampf nicht nur als wirkmächtigen Mythos hervorbringt, sondern zugleich ein Mo­ment der Unvorhersehbarkeit enthält, der über die gegebenen Verhältnisse hinaus weisen könnte (vgl. S. 333 f.).

Diskussion

„Das dichterische Gewinsel dieses Jahrhunderts ist nichts als Sophismus“, so pointiert Lautréamont in seinem Werk Poésies. Und weiter: „Die Verzweiflung, die sich mit Vorbedacht von ihren Phan­tas­magorien nährt, führt den Literaten unerbittlich zur (.) theoretischen und praktischen Schlech­tig­keit“.

Poesie ist nicht gleich Poesie und das poetische Prinzip, so unterschiedlich in der An­spruchs­hal­tung, ist unerbittlich zu führen auf seinen Vergesellschaftungszusammenhang. Während bereits im Heinrich von Ofter­dingen, dem Prototyp des romantischen Romans, eine enge Bindung von Dichtung und un­mittelbarer sozialer Wirklichkeit hergestellt wird, heben nicht ohne Grund die poetologischen Über­legungen eines A. E. Poe hervor, die erhebende Erregung der Seele durch Äs­the­tik, welche „stets ganz unabhängig von jener Leidenschaft ist, die das Herz berauscht, oder von der Wahrheit, die dem Verstand Genüge tut“. Wie im Werk Baudelaires drückt sich hier aus die Re­flexion auf eine Mythologisierung von Literatur, die der bürgerlichen Gesellschaft trotz Kritik an ihr auf den Leim geht. Auch wenn zumindest Baudelaire z.T. den Massen treuer war, als alle „Ar­meleutepoesie“ (Adorno), grundsätzlich verdächtig ist diesen Au­to­ren eine allzu positivistische Nähe der eigenen Literatur zur Wirklichkeit, da sie sich unverblümt und bar ihrer Form­en­wan­dlungen auf dieselbe Tatsache der Gewalt stützt, die sie doch eingehend be­klagt. In Carl Gustav Jochmanns Text „Die Rückschritte der Poesie“, datiert noch vor dem Vor­märz, ist von einer parallel ex­istierenden „kranken Phantasie“ gesprochen; Phantasie hätte in der Ver­gangenheit und Ge­gen­wart ihren Grund, was ihre schlichte Identifizierung mit der Realität be­gün­stigt: „wir denken knech­tisch, weil wir uns schwach fühlen, und unsre Urteile sind in der Regel so beschränkt, als un­sre Lage“.

Es ist das Fortbestehen von Widersprüchen der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft selbst, die hier Emanzipation kompromittiert. In seiner „Rede über Lyrik und Gesellschaft“ führt Adorno deshalb aus, dass Lyrik versucht, über die Sprache eine unabdingbare Beziehung zur Gesellschaft her­zustellen. Schöngeistige Literatur zeige sich dort am tiefsten gesellschaftlich verbürgt, „wo sie nicht der Ge­sell­schaft nach dem Munde redet, wo sich nichts mitteilt, sondern wo das Subjekt, dem der Aus­druck glückt, zum Einstand mit der Sprache selber kommt, dem, wohin diese von sich aus möch­te“. Ist damit das einzelne Schicksalsleid verdrängt durch die Wahrnehmung auf ka­pi­ta­lis­ti­sche Moderne schlechthin, verfolge die Romantik „programmatisch eine Art Transfusion des Kol­lek­tiven ins Individuelle, kraft deren die individuelle Lyrik eher der Illusion allgemeiner Ver­bind­lich­keit technisch nachhing, als dass ihr jene Verbindlichkeit aus sich selbst heraus zugefallen wäre“. Der Hinweis Adornos trägt Relevanz, da in Sprache und Poesie nicht nur solidarische Er­fahr­ung sich materialisiert, sondern auch auf Verdinglichung (Marx) schon verwiesen ist, worauf zu refle­k­tieren Romantik sich nie anschicken musste. Nach Valéry ermöglicht uns die Sprache eben auch, nicht hinschauen zu müssen, was damit zusammenhängt, dass zu jeder Erhöhung des ly­ri­schen Subjekts als Schatten gehört „dessen Erniedrigung zum Austauschbaren, zum bloßen Sein für an­­deres“ (Adorno). Vereidigt auf die gegebenen Verhältnisse, wird die nicht notwendige Idealisierung der Vergangenheit (vgl. S. 29) so zum Ex­empel auf den hoffnungslosen Globalisierungsrealismus der Gegenwart und ihre re­na­tio­na­lis­ti­schen Ambitionen.

Hier schließt sich auch der Problemkreis an, wo Subjekte der Politik zu pathologischen Objekten von Demagogen werden. Nicht zwangsläufig, und das zeigt die bisherige Geschichte der Ar­bei­ter­klasse, sofern sie sich als Subjekt gebiert, mündet das Suchen einer gemeinsamen Sprache in em­an­zi­patorisch-solidarischer Einheit. Ist romantische Kritik untrennbar verbunden mit einem Pro­gramm der Rettung oder Restitution (vgl. S. 31), wäre nicht nur zu fragen, worüber sich ‚Rettung‘ ein­stellt, sondern warum sie sich oft als autoritäre inthronisiert, gemeinsame Sprache über Klassen­gren­zen hinweg als Volksgemeinschaft imputiert wird. Jenes „Staunen über jenen ver­schwen­der­i­schen Reichtum an sozialen, an kulturellen und literarischen Formen, in denen sich Menschen his­to­risch mit diesen Problemen auseinandergesetzt und in denen sie gegen diese Probleme gekämpft ha­ben“ (S. 16), imaginiert dort selbst zum verdinglichten Narrativ, wird nutzbar für politische Zwecke, deren sich Literatur radikal zu verwehren hätte. Das „Bedürfnis nach dem Mythos“ der Arbeiterklasse verspricht so eben nicht gefährlich zu werden für die herrschenden Verhältnisse (vgl. S. 330), sondern es tritt als Hypostasierung in den Dienst des Repressiv-Allgemeinen.

Mit dieser Wirklichkeit wird auch Theorie nicht fertig, woraus aber nicht folgt deren Abgeltung durch narrative Bewirtschaftung (vgl. S. 39). Stellt Wahrheit über Realität sich ein ausschließlich über die Anstrengung des Begriffs (Hegel), trägt immanente Kritik daran ihre Aktualisierung. Auch weil der Zusammenhang von Gewalt und Erfahrung mutmaßlich zerrissen ist, fasst Ro­man­tik den Klassenantagonismus eher als Entität, womit seine Vermittlung durchs Kapital­ver­hält­nis unkenntlich wird. Dass unter der „formellen Subsumtion des Kapitals“ (Marx) Gewalt sich un­mittelbar, und über Schichtzugehörigkeiten hinweg, weiterhin und tiefgreifend durchsetzt, dieser Lo­gik ist im Vormärz wie heute allein durch romantischen Antikapitalismus nicht beizukommen. Theo­re­tisch zu in­sistieren ist auf das Kapitalverhältnis selbst, das notwendig auf emanzipatorische Praxis schon ver­weist. Hierüber wäre eigentlich und nach wie vor Klassenerfahrung zu fun­da­men­tieren, was frei­hielte von „metaphorischen“ und „ideologischen“ Anleihen (vgl. S. 238).

Kenntlich gemacht ist dann auch, dass das Werk des ‚reifen‘ Marx mitnichten durchweht ist durch ein „revolutionäres Pneuma einer letztlich moralischen Empörung“ (S. 218). Das Wertgesetz, die Herstellung des Tauschwerts über „gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit“ (Marx), trifft keine moralische Metaphorik sondern den Kern des kapitalistischen Vergesellschaftungszusammenhangs, die objektiven Konstitutionsbestimmungen von (Klassen-)Bewusstsein, die es unter Rekurs neuer Erscheinungsformen heute zu analysieren gilt.

Verdinglichtes Bewusstsein in seiner notwendigen Falschheit verhindert reflexiven Ungehorsam (Foucault), die Analyse von der Rechenschaft der eigenen Stellung im kapitalistischen Pro­duk­tions­prozess. Die Dechiffrierung von Bewusstsein als notwendig Falsches verweist auf Theorie, die auszufalten hätte, warum bisher keine Selbstverständigung einer proletarischen Klasse zustande kommt, durch die die Wirklichkeit von Lohnarbeit und Ausbeutung zu ihrem Recht, d.h. auf den Weg ihrer Abschaffung käme (Benjamin).

Kritik, die nicht durch Theorie geht, bleibt beugsam vor der Geschichte.

Fazit

Eiden-Offes literaturhistorische Studie „Poesie der Klasse“ bietet ein fundiertes und ausführliches Konglomerat romantischer Kapitalismuskritik und ihrer literarischen Artikulation. Anknüpfend an ku­lturwissenschaftliche Diskussionen, welche Literatur auf ihre imaginären Potenziale hin unter­su­chen, in ästhetischen Gebilden die Wirksamkeit von kulturellen Vorstellungen und Selbstbilder frei­legen, bleibt sie theoretisch anschlussfähig auch im polnischen Wissenschafts­dis­kurs, der be­kannt­lich eine weitreichende romantische Forschungstradition aufbieten kann (u.a. Maria Janion). Die darin nicht nur implizit aufgeworfene Frage nach der Möglichkeit eines neuen sozialen Kollek­tivs, das sich über eine gemeinsame Sprache verständigt und Widerstand gegenüber Herrschafts­ver­hält­­nis­sen erzeugt, stellt dabei eine weitergehende Analyse zur Disposition, die über die Ima­gi­na­tions­­be­we­gungen des Vormärz hinaus in die kapitalistische Gegenwart hineinreicht und, im Sinne Kritischer Theorie, als immanente Kritik an ihr auszuformulieren wäre.

Rezension von
Dr. phil. Kevin-Rick Doß
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ISSN 2190-9245