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Nina Berding, Wolf-Dietrich Bukow et al. (Hrsg.): Die kompakte Stadt der Zukunft

Rezensiert von Dr. Rainer Neef, 06.07.2018

Cover Nina Berding, Wolf-Dietrich Bukow et al. (Hrsg.): Die kompakte Stadt der Zukunft ISBN 978-3-658-18733-0

Nina Berding, Wolf-Dietrich Bukow, Karin Cudak (Hrsg.): Die kompakte Stadt der Zukunft. Auf dem Weg zu einer inklusiven und nachhaltigen Stadtgesellschaft. Springer VS (Wiesbaden) 2017. 349 Seiten. ISBN 978-3-658-18733-0. D: 34,99 EUR, A: 35,97 EUR, CH: 36,00 sFr.

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Thema

Die Beiträge diskutieren aus verschiedenen Blickwinkeln die Potenziale von Stadtquartieren – fast durchweg gemeint: die eines Typus von innenstadtnahem gemischtem Quartier – zur sozialen Eingliederung (Inklusion) von kulturell und herkunftsmäßig sehr unterschiedlichen BewohnerInnen. In einer globalisierten und hochmobilen Gesellschaft wächst die Diversität nicht nur innerhalb der Stadtbevölkerung, sondern auch und gerade innerhalb der Wohnquartiere von MigrantInnen und Armutsgruppen, und deren Chancen, einen Platz in der Gesellschaft zu finden, werden schlechter.

Herausgeberinnen und Herausgeber

  • Nina Berding ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Forschungskolleg „Zukunft menschlich gestalten“ der Universität Siegen und arbeitet im Bereich Stadt- und Migrationsforschung.
  • Wolf-Dietrich Bukow war Professor an der Universität Köln (Humanwiss. Fakultät) und ist seit 2011 Forschungsprofessor am Forschungskolleg der Universität Siegen, wo er über Mobilität, Diversität und Regionalentwicklung arbeitet.
  • Dr. Karin Cudak war an den Universitäten Köln und Hamburg – dort im Projekt „Qualitätsoffensive Lehrerbildung“ – tätig, ist derzeit im Vorbereitungsdienst für Sonderpädagogik in Hamburg und arbeitet in Stadt- und Migrationsforschung und der Mehrsprachigkeits-, Schul- und Bildungsforschung.

Aufbau

In einem ersten Abschnitt werden Inklusion, Diversität und die Rolle des besagten Quartierstypus, daneben auch der Stellenwert von ‚fordistischen‘ bzw. Sozialwohnungs-Quartieren, das Angebot einer kulturellen Einrichtung und die Notwendigkeit kommunaler Autonomie bestimmt. Dies geschieht eher in gesellschaftstheoretischer Perspektive mit einigen Blicken auf empirische Befunde.

Der zweite Abschnitt präsentiert eine Vielzahl von Konzepten und einige empirische Untersuchungen zu Schul- und Bildungseinrichtungen, zu Partizipationsangeboten, und zu sozialen Netzwerken mit Bezug auf bestimmte Bewohnergruppen oder einzelne Sozial- oder Kultureinrichtungen.

Die Deutsche Nationalbibliothek bietet Einblick in das vollständige Inhaltsverzeichnis.

Inhalt

Die Einleitung (Bukow, Berding, Cudak) verdeutlicht die These einer großen Rolle von Stadtquartieren für soziale Inklusion, also für eine gesellschaftliche Eingliederung, die nicht aus Anpassungsleistungen der Betroffenen (v.a. von MigrantInnen) entsteht, sondern durch kommunikativen Austausch und systemische (wirtschaftliche und politische) Einflüsse. Das Quartier sei ein „längst dominierendes Gesellschaftsformat“ (S. 13). Den AutorInnen geht es vor allem um den Typus des verdichteten sozial und kulturell gemischten Quartiers mit Nutzungsmischung; es fördere am ehesten Inklusion, dies allerdings unter dem Einfluss globalisierter Wirtschaft, politischer Diskurse und sozialer Milieus.

Quartiersentwicklung und soziale Inklusion

Feldtkeller, ein guter Kenner (und Kritiker) des westdeutschen Städtebaus, plädiert für Quartiere mit kleinteiliger Nutzungs- und Sozialmischung, real sind es fast nur Altbauviertel. Die Mischung vermittle gesellschaftliche Erlebbarkeit, trage bei zu Toleranz und zur Reduzierung von Konflikten und minimiere den Wegeaufwand. Seit 60 Jahren wurde aber fast nur ‚fordistisch‘, also funktionsgetrennt gebaut. Zu erstreben sei ein „Mosaik“ unterschiedlicher Quartierstypen, aber die Chancen dafür seien gering, auch seit den 1990er Jahren gab es nur ganz vereinzelte Versuche, funktions- und sozialgemischt zu bauen. Kiepe betont kommunale Autonomie als wichtiges Element des (verkürzt dargestellten) „europäischen Stadtmodells“. Die Städte hätten an Steuerungsfähigkeit verloren, zum Teil durch Auslagerung vorheriger Zuständigkeiten; dem setzt er eine Vielzahl von Forderungen entgegen, die, im Behördensprech gehalten, die LeserInnen etwas ratlos lassen.

Nach Bukow ist im Zeitalter der Globalisierung „Supermobilität und Superdiversität“ (S. 88) unumkehrbar. Sowohl die Politik als auch die Bewohner nähmen dem gegenüber und vor allem gegenüber Neu-Zuwanderern positive oder abwehrende Haltungen ein. Individualisierung löse soziale Milieus und damit sozial geprägte Haltungen auf, „Kapitalstarke“ könnten noch eher Haltungen aus einer fundierten Identität heraus entwickeln, kapitalschwache Gruppen würden immer stärker von äußeren Narrativen beeinflusst. Nicht die immer unübersichtlicheren Städte, nur die – diskreditierten und politisch eher vernachlässigten – sozial und nutzungsmäßig gemischten Quartiere vermittelten ein erlebbares Bild der Gesellschaft und damit Chancen für Identitätsbildung und Inklusion. Schon durch die hohen Migrantenanteile verknüpfe sich dies mit „globalen Milieus“.

Diesen eher thesenhaften Beiträgen folgen vier Artikel mit empirischen Bezügen.

  • Aus Berdings Untersuchung des ehemaligen Arbeiter- und heutigen Migrantenviertels Düsseldorf-Oberbilk wird ein Nebeneinander verschiedener Bewohnergruppen deutlich, von „Pennern“ bis zu verschiedenen nordafrikanischen Communities (für die das Quartier vor allem medial verschrien ist). Sie akzeptieren sich zwar gegenseitig, aber führen in Gruppen und Lokalen ein Eigenleben. Auf Polizeikontrollen, auf das mediale Stigma, auf sinkende Inklusionschancen reagieren nordafrikanische Jugendliche mit einer „Umkehrung“: Sie identifizieren sich mit ihrem Quartier gerade, weil es ‚nicht-deutsch‘ ist. Das ist sehr interessant und wäre noch interessanter, wenn mehr über gegenseitige Beziehungen (und Stigmatisierungen?) der Bewohnergruppen mitgeteilt würde.
  • Eckart relativiert zunächst die von der Sozialarbeit verklärten Vorstellungen einer solidarischen Nachbarschaft; Solidaritäten in früheren Arbeitervierteln seien aus existenzieller Not geboren, „die neue Nachbarschaft“ sei unbeständig (S. 155). Er untersuchte Sozialwohnungsviertel in Thüringen und Hamburg, die wegen ihrer Bewohnervielfalt und ihren günstigen Mieten auch von Geflüchteten bevorzugt würden. Diese seien angesichts von Leerständen oft auch Verwaltungen willkommen, aber sie erführen dort vielfach eine – zum Teil rassistisch getönte – Ablehnung als Fremde. Ihre Hauptorientierung richte sich aber auf Arbeiten und Wohnen, weniger auf räumliche Platzierung – eine berechtigte Feststellung, aber verwirrende Volte der Argumentation.
  • Nach Yildiz sind Migrationsgesellschaften und -Quartiere grundsätzlich von Diversität und dem Leben zwischen Kulturen bestimmt. Ihre Alltagspraxis und wirtschaftlichen Entwicklungspotenzialen böten einen positiven Lernanlass. Aus dem Altstadtviertel Innsbruck-St. Nikolaus stellt er zwei Personen vor, die eine Kultur der Weltoffenheit, eines grenzüberschreitenden Lebens und einer ökonomischen Selbstständigkeit „positiv in Szene“ setzten (S. 172) – mehr Plädoyer für eine positive Sichtweise denn empirische Analyse.
  • Das gilt erst recht für Meiers Beitrag, in dem allgemein zugängliche Orte – in diesem Fall: öffentliche Bibliotheken – als Chance für offene Kommunikation dargestellt werden für ein geregeltes Miteinander von Menschen, die sich gegenseitig unbekannt sind; Voraussetzung: es werden viele offene Angebote vorgehalten.

Quartiersbezogene Konzepte und Akteure

Texier-Ast untersuchte Netzwerkskontakte in einer Münchener Neubausiedlung, die auf soziale Mischung hin geplant wurde und äußerlich gleichartig gebaute freifinanzierte Wohnungen und zwei Formen geförderten Wohnungsbaus enthält. Die BewohnerInnen ‚klassischer‘ Sozialwohnungen sieht sie – etwas zu schlicht – als ‚Unterschichts‘-Existenzen; ihre Frage ist, ob deren Kontakte mit Mittelschichten „sozial stabilisierend“ wirkten gegenüber Abstiegsgefahren. Über 80 % der örtlichen Kontakte blieben schichtimmanent und wirkten daher „nicht sozial stabilisierend“ (S. 280), ein Fünftel hatte Kontakte zu BewohnerInnen ‚mittlerer Schichten‘, ein Fünftel hatte gar keine Kontakte im Quartier – ein ernüchterndes Ergebnis bei einer etwas simplifizierenden Herangehensweise.

Die weiteren Beiträge fasse ich nach Bereichen zusammen.

  1. Kommunalpolitik. Aus jahrelanger kommunalpolitischer Praxis heraus zeigt Haußmann, dass Kommunen einen größeren Einfluss auf die Realisierung (oder Beschränkung) substanzieller Rechte und auf örtliche Lebensbedingungen von Geflüchteten und MigrantInnen haben als meist angenommen – gleich, ob es um die Unterbringung oder um Fragen von Abschiebung oder Bleiberecht Geflüchteter geht, um Zugang oder Barrieren gegenüber Beratungseinrichtungen oder gegenüber einer Einbürgerung für MigrantInnen. Aus einer empirischen Untersuchung über die Vorgehensweisen von Beauftragten einer „kooperativen Koordination“ verschiedener lokaler Integrationsprojekte zeigt Haji an zwei kontrastierenden Fällen, wie stark der Einfluss von Projekten abhängt von der Verwaltungserfahrung, dem Vorwissen und dem persönlichen – autoritären oder kommunikativen – Stil der Beauftragten. Haji vermerkt nebenbei, dass die Kommunen viel Wert auf administrative Passung und wenig Wert auf inhaltliche Qualifikationen der KoordinatorInnen legen.
  2. Quartiersbezogene Einrichtungen. Noack erläutert ein Konzept von Quartiersmanagement, das zwischen verschiedenen Interessengruppen und Quartiersbewohnern vermittelt und dabei grundsätzlich neutral bleibt. Ein Projekt zur Einbettung einer Altenpflegeeinrichtung in Aktivitäten von QuartiersbewohnerInnen konnte erst dann in der städtischen Politik Gehör finden, als über persönliche Kontakte zu Fraktionsvorsitzenden die kommunalen Spitzen interessiert wurden. Cavallero u.a. entwickeln ein anspruchsvolles Konzept einer inklusiven Schule, die offen ist für ein Miteinander im ‚Anders-Sein‘ verschiedener QuartiersbewohnerInnen. Es wird eine Vielzahl von schon angelaufenen („gelingenden“) und geplanten Vorhaben aufgezählt, die auch als „Korrektiv“ für Exklusionsrisiken von Minderheitsgruppen gedacht sind. Lang u.a. stellen ein Spielplatzprojekt in einem sozial gemischten Mannheimer Quartier vor, in dem jahrelang Kinder verschiedenster Herkunft zusammengebracht wurden im angeleiteten gemeinsamen Malen auf Brandmauern. Es zielt auf Kommunikationsfähigkeit, kognitive Kompetenzen und Verantwortungsbewusstsein – wichtige Fähigkeiten angesichts von Konflikten im Quartier und zunehmender Skandalisierung von Zuwanderung. Weniger begrenzt und empirisch fundiert ist Cudaks Untersuchung zur Inklusion von Roma-Kindern in Schulen einer Stadt in NRW. Sog. Auffangklassen dienten lediglich der Verwahrung dieser Kinder aus Bulgarien und Rumänien; die aufgeführten Interview-Zitate deuten allerdings eher auf Offenheit des Lehrpersonals und Bildungsorientierung betroffener SchülerInnen. Der hoch selektive Charakter des deutschen Schulsystems bleibt dennoch ein zentrales Hindernis für Inklusion. Wichtige Befunde sind auch eine anti-ziganistische Stigmatisierung unter den SchülerInnen, diskriminierende Kontrollpraktiken in den Wohnquartieren, und Ausschlussmechanismen nicht nur in der Bildung, sondern im System sozialer Sicherheit und auf dem Arbeitsmarkt. Der meist prekäre Erwerb erwachsener Roma deckt oft gerade das Überleben und verbindet sich mit „zirkulärer Migration“ zwischen beiden Ländern und Deutschland.
  3. Armut, Wohltätigkeit und Exklusion. Ganz am Schluss steht der theoretisch und empirisch am besten strukturierte Beitrag. Meier und Sowa erläutern, wie mit der Armut vieler Bewohnergruppen ihre Exklusion von Erwerbschancen, sozialen Bürgerrechten und verlässlichen Sozialbeziehungen wuchs, während zugleich viele Leistungen des Sozialstaats abgebaut wurden. Seit Jahren engagieren sich jedoch BürgerInnen für mittlerweile 900 ‚Tafeln‘ und 2.100 Billigläden in Deutschland. Damit wird Armut stärker sichtbar als zuvor, für die Betroffenen geht erfahrene Hilfe mit Beschämung einher. Die Untersuchung der Autoren in Nürnberg ging der Frage nach, ob zwischen helfenden Mittelschichtsangehörigen und Unterschichts-Betroffenen nützliche Kontakte und damit Inklusion entstehen. In der Stadt führte das rasche Wachstum der Armutsbevölkerung zu einer Überlastung der ‚Tafeln‘, die nur durch straffe Rationalisierung und damit auf Kosten von Sozialkontakten zu bewältigen war. Im Landkreis mit mehr Helfenden und weniger Armuts-KundInnen blieben die Kontakte dennoch minimal, die soziale Distanz im ‚Speckgürtel‘ blieb gewahrt. Zwischen den Armutsgruppen in Stadt und Land stifteten die ‚Tafeln‘ Gelegenheitskontakte, aber keine Netzwerke gegenseitiger Hilfe.

Fazit

Für die Begriffsbestimmung zentral sind die Einleitung und der Artikel von Bukow, auf den sich viele nachfolgende Beiträge beziehen. Städte waren immer und sind verstärkt von Immigration und daher von wachsender kultureller und sozialer Diversität bestimmt. „Inklusion“ als Einstieg in die Gesellschaft ohne erzwungene Anpassung soll nicht nur über das Neben- oder Miteinander im städtischen Alltag gemischter Quartiere erfolgen. Sie erfordert auch eine politisch gewollte Öffnung, die das Anderssein und die Vielfalt gerade der Neu-ImmigrantInnen aufnimmt; vorausgesetzt wird, dass dies nur in einem bestimmten Quartierstyp gelingen kann. Hierzu werden allerlei Konzepte, aber wenig überzeugende Realität vorgestellt – das Buch erscheint normativ aufgeladen und inhaltlich recht schmal. Was ist, wenn nicht Inklusion stattfindet, sondern „Exklusion“ – im gegenseitigen Umgang, in andersartigen Stadtquartieren, und in Bildung, sozialen Anrechten, politischer Mitsprache, Erwerbschancen? In den Beiträgen bleibt der Begriff von Exklusion meist vage – er reicht von ablehnenden Haltungen über Diskriminierung im alltäglichen Umgang und durch mediale und politische Diskurse bis zum Ausschluss aus sozialer Kommunikation, bestimmten Bürgerrechten und unterhaltssicherndem Erwerb. Letzteres Verständnis entwickeln Meier und Sowa mit Bezug auf die Diskussion der letzten zwanzig Jahre, die eigentlich für hinreichend Klarheit gesorgt hat (vgl. z.B. Kronauer 2002).

Raumbezogene Kontakte im alltäglichen Umgang sind an sich schon hinreichend erforscht. In der Nachbarschaft erfahren viele Minderheitsgruppen Ablehnung und Diskriminierung, andererseits gibt es auch gegenseitige Solidarität (eher unter Menschen in ähnlicher Lage), hauptsächlich aber eine „reduzierte Distanz“ des höflichen Nebeneinander mit kleinen gegenseitigen Hilfen. Diese Einsichten schlagen sich im Beitrag von Eckart nur als Skepsis nieder, er bestimmt nicht positiv, was Nachbarschaft ‚heute‘ ausmache. Der interessante Beitrag von Texier-Ast folgt zum Stichwort ‚soziale Mischung‘ der sog. Kontakt-Hypothese, wonach ein Nebeneinander von Mittel- und Unterschichten gegenseitige Toleranz und Nutzen stifte; dies wird seit fünfzig Jahren mit empirischen Argumenten bestritten (Chamboredon und Lemaire 1973), insofern bleibt selbst für die wenigen von ihr nachgewiesenen Kontakte die Frage nach ihrem Nutzen offen. Die Skepsis wächst angesichts der Hinweise von Cudak auf die von Romakindern erfahrene Ablehnung durch ihre MitschülerInnen und auf die tendenzielle Exklusion ihrer Eltern vom Arbeitsmarkt.

Wenn das Quartier als dominierendes „Gesellschaftsformat“ postuliert wird, und wenn das sozial und nutzungsmäßig gemischte verdichtete Stadtquartier einen so zentralen Stellenwert hat für die Inklusion diverser Neu- und Alt-ImmigrantInnen und sonstiger Minderheitsgruppen – dann verwundert es, dass Einsichten der reichlichen sozialgeographischen und stadtsoziologischen Forschung über innenstadtnahe Quartiere, über andere Quartierstypen, über Bewohnerbeziehungen und Quartierspolitik (vgl. z.B. Schnur 2014) fast nirgends reflektiert werden. Danach reicht das Erwerbs- und Sozialleben der Mehrzahl der Bewohner weit über ihr Wohnquartier hinaus – selbst in gemischten Altbauquartieren leben nur einige Gruppen vor allem quartiersbezogen. Den HerausgeberInnen ist bewusst, dass es neben besagten gemischten Quartieren auch – nach Feldtkeller ganz überwiegend – andere Typen von Stadtvierteln gibt. Sie sind sozial divers oder segregiert, vernachlässigte Altbauviertel oder solche mit Gentrifizierungstendenzen, im Neubau von Sozialwohnungsblocks oder Eigenheimen dominiert (oder baulich gemischt), sehr unterschiedlich versorgt und enthalten meist nur wenige Arbeitsstätten. Der Frage nach Inklusion in einem Quartier mit sozialer, aber ohne Nutzungsmischung geht nur Texier-Ast nach mit weitgehend negativem Ergebnis. Selbst für den von Bukow u.a. angepeilten Typus eines Mischquartiers sät Berding Skepsis, auch hier könnte der gegenseitige Umgang mit Walter Siebel eher als „resignative Toleranz“ bezeichnet werden und nur punktuell als inklusives Miteinander.

Zur Rolle von Politik vermelden Haußmann und Haji einen erheblichen Einfluss kommunaler Verwaltungen und Entscheider auf die Lebenslage von Alt- und Neu-MigrantInnen und auf Hilfsprojekte – ein überraschender und nützlicher Blick ‚von unten‘ gegenüber der herkömmlichen Klage (auch bei Kiepe) über fehlende kommunalpolitische Spielräume. Lokale Kontrollpraktiken (und mediale Diskurse), von Berding kurz angesprochen, wirken gegenüber Migranten- und Unterschichtsquartieren vor allem diskriminierend. Eine inklusive Wirkung bürgerlichen Engagements erscheint als möglich, aber sehr beschränkt (Meier und Sowa). Lokales Versorgungsangebot und Arbeitsmarktlagen bleiben außer Betracht.

Natürlich kann auch dieses Buch nicht alle maßgebenden Einflussfaktoren einbeziehen bei der Frage nach Inklusionsmöglichkeiten, selbst wenn der Titel auf die „Stadt der Zukunft“ deutet. Nicht die thematische Beschränkung ist ein Negativpunkt, sondern die zu normative Prägung bzw. das Konzeptuelle vieler Beiträge und die unzureichende Abstimmung mit denjenigen Texten, die sich die Realität von Inklusion vornehmen – und aus denen sich hauptsächlich Skepsis ablesen lässt. Schade, dass zum Thema so wenige gesicherte empirische Befunde gebracht werden, an die dann auch Konzepte überzeugender hätten anschließen können.

Literatur

  • Chamboredon, Jean-Claude; Lemaire, Madeleine 1974: Räumliche Nähe und soziale Distanz. In: Atteslander, P. M.; Hamm, B. (Hrsg.): Materialien zur Siedlungssoziologie. Köln: Kiepenheuer & Witsch
  • Kronauer, Martin 2002: Exklusion. Die Gefährdung des Sozialen im hoch entwickelten Kapitalismus. Frankfurt/M./ New York: Campus
  • Schnur, O. Hrsg. 2014: Quartiersforschung. Zwischen Theorie und Praxis. Wiesbaden: Springer VS (2. erw. Aufl.)

Rezension von
Dr. Rainer Neef
bis 2010 akad. Oberrat für Stadt- und Regionalsoziologie am Institut für Soziologie der Universität Göttingen
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Es gibt 10 Rezensionen von Rainer Neef.

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ISSN 2190-9245