Kim Scheunemann: Expert_innen des Geschlechts?
Rezensiert von Prof. Dr. Heinz-Jürgen Voß, 07.02.2018

Kim Scheunemann: Expert_innen des Geschlechts? Zum Wissen über Inter*- und Trans*-Themen.
transcript
(Bielefeld) 2018.
203 Seiten.
ISBN 978-3-8376-4149-3.
D: 32,99 EUR,
A: 34,00 EUR,
CH: 40,30 sFr.
Queer studies, Band 16.
Thema
Welches Wissen ist im wissenschaftlichen Kontext und gesellschaftlich legitim? Kim Scheunemann diskutiert diese Frage hinsichtlich des Geschlechterwissens und fordert, orientiert an qualitativer Forschung, ein, dass das Wissen von Expert_innen ihrer selbst wichtiger genommen werden muss, als es bislang geschieht. Scheunemann eröffnet einen Zugang dazu, dass Trans*- und Inter*-Personen durch die eigene Biografie und Erfahrungen mit verschiedenen Institutionen viel „Sonderwissen“ zu Geschlecht angesammelt haben – und ihre Expertise für gesellschaftliche (und also auch wissenschaftliche) Fragen zu Geschlecht genutzt werden sollte.
Herausgeber_innen
Kim Scheunemann, Jg. 1984, Dr. phil., Dipl.-Soz., wurde mit der vorliegenden Arbeit an der Universität Kassel promoviert. Neben dem akademischen Kontext (Fachbeiträge u.a. in der Zeitschrift für Sexualforschung und im von Cornelia Koppetsch und Sven Lewandowski herausgegebenen Band „Sexuelle Vielfalt und die UnOrdnung der Geschlechter“ (Bielefeld 2015) ist Scheunemann in der pädagogischen Antidiskriminierungsarbeit und queer aktivistisch engagiert.
Entstehungshintergrund
Der Druck der Publikation wurde von der Max-Träger-Stiftung gefördert.
Aufbau
„Expert_innen des Geschlechts: Zum Wissen über Inter*- und Trans*-Themen“ ist wie eine konventionelle Dissertation gegliedert, wobei die Einzelüberschriften sehr kleinteilig im Inhaltsverzeichnis festgehalten sind. Im Folgenden werden nur die Hauptüberschriften wiedergegeben (das vollständige Inhaltsverzeichnis findet sich unter https://d-nb.info/1144970393/04):
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I Theoretische Zugänge
- Vom Wissensmonopol Professioneller zu vielfältig anerkanntem Wissen
- Geschlechterwissen in der Gegenwartsgesellschaft II Methodische Zugänge
- Teilnehmende Beobachtung
- Die Auswahl von und Interaktion mit den Interviewpartner_innen
- Das Forschungstagebuch
- Expert_inneninterviews
- Die Deutungsmusteranalyse III Empirische Rekonstruktion des Geschlechterwissens von Expert_innen
- Deutungsmuster des Geschlechts
- Über die Bedeutung der Anerkennung des Geschlechts und Geschlechtersonderwissens
- (Un-)Sicherheit – Vom Ringen mit unterschiedlichem Geschlechterwissen
- Einsamkeit – Chancen und Risiken des Alleinseins
- Fremdheit – Facetten der Faszination IV Abschlussbetrachtungen
Es schließt sich ein Anhang mit dem Leitfadenkatalog der Interviews und einem Literaturverzeichnis an.
Inhalt
Kim Scheunemann untersucht in der vorliegenden Arbeit die Bedeutung des Wissens von Trans*- und Inter*-Personen für wissenschaftliche Betrachtungen im Besonderen und den gesellschaftlichen Diskurs insgesamt. Scheunemann konstatiert, dass das Wissen von Trans*- und Inter*-Personen von Angehörigen medizinischer, juristischer etc. wissenschaftlicher Professionen zunehmend wahrgenommen und anerkannt werde. Allerdings werde es „häufig mit dem Wissen von Aktivist_innen gleichgesetzt und daher als nicht-fachlich bewertet“ (S. 15). „Aktivist_innen sowie Inter*- und Trans*-Personen seien alle von dem Thema selbst ‚Betroffene‘ und würden daher nur im Eigeninteresse handeln“ (ebd.), so laut Scheunemann die Wahrnehmung in den theoretisch und praktisch ausgerichteten akademischen Settings. Die cis-männlichen und cis-weiblichen Professionellen würden sich hingegen als nicht von Fragen zu Geschlecht „betroffen“ einordnen.
Mit dieser Einschätzung schließt Scheunemann an aktuelle professionssoziologische Überlegungen an: „So argumentieren beispielsweise Meuser und Nagel (2009), dass der Status einer Person als Expert_in nicht mehr in erster Linie an die Berufsrolle geknüpft ist. Nach der Definition von Meuser und Nagel gilt eine Person dann als Expert_in, wenn ihr von ihrem Umfeld eine ‚Deutungsmacht‘ zugeschrieben wird und sie über ein ‚Sonderwissen‘ […] verfügt.“ (S. 18) Scheunemann führt dabei aus, dass bislang in professionellen Kontexten selbst das Wissen von Mediziner_innen und weiteren Professionellen abgewertete werde, allein aufgrund ihrer eigenen Trans*-Biografie: „Die Praxis der Abwertung des Geschlechterwissens von Menschen mit so genanntem Betroffenenstatus führte über viele Jahre dazu, dass geoutete Trans*personen nicht als Therapeut_innen zugelassen wurden. Noch 2009 spricht Güldenring (2009: 132) von dem ‚Wagnis‘, sich im professionellen Kontext selbst öffentlich als transsexuell zu verorten.“ (S. 39)
Scheunemann wendet sich in der vorliegenden Arbeit diesem Professionsverständnis zu – aus Perspektive eines breiter gefassten Feldes von Expert_innen, die aktivistisch und/oder psychotherapeutisch tätig sind. Nach einer theoretischen Einordnung und der Vorstellung des methodischen Herangehens schließt sich das Hauptkapitel an, in dem acht Interviews entlang dem Vorgehen der Deutungsmusteranalyse ausgewertet werden. Abschließend werden einige Ableitungen getroffen.
Aus dem empirischen Teil der Arbeit wird die große Bedeutung des „Sonderwissens“ ersichtlich, dass Trans*- und Inter*-Personen in die wissenschaftlichen und insgesamt gesellschaftlichen Aushandlungen einzubringen haben, selbst wenn sie keinen beruflichen Abschluss etwa in der Profession Medizin gemacht haben. Personen, die sich nicht so stark mit den gesellschaftlichen Geschlechternormen auseinandersetzen mussten, wie es Trans*- und Inter*-Personen durch den gesellschaftlichen Druck zu tun genötigt sind, brauchten viel Aufgeschlossenheit und Interesse, zu lesen und zuzuhören, um sich nach und nach einen Zugang zu Geschlechterthemen zu erarbeiten. Trans*- und Inter*-Personen würden mit Blick auf Fragen um Geschlechtlichkeit dieses Wissen vielfach durch eigenes Erleben bereits mitbringen. Im Interviewteil leitet Scheunemann ab: „Normal*personen werden von den Interviewten oftmals als eingeschränkt in ihrem Geschlechterwissen beschrieben, weil sie lediglich über ein alltagsweltliches Geschlechterwissen verfügten. Die Interviewten nehmen Normal*personen außerdem als unfrei im Umgang mit dem eigenen Geschlecht wahr…“ (S. 68) Konkret für die pädagogische Praxis sei etwa bedeutsam, wie der „Umgang mit Nichtwissen“ (S. 123) um das Geschlecht der Klient_innen gestaltet werden kann. Eine der Interviewten macht die Richtung klar: Man kann „lernen, Leute auch so zu lesen, wie sie gelesen werden wollen“ (ebd.).
Mitunter ist sowohl in der medizinischen und therapeutischen Profession wie auch in der Sozialen Arbeit diese Einsicht nicht da – und wird in der bisher vorherrschenden Beratungssituation die Möglichkeit geradezu forciert, dass die Grenzen der ratsuchenden Klient_in verletzt werden und diese danach die weitere Beratung meiden könnten. Der im Begutachtungssystem angelegte Zwangscharakter der Beratung für Trans*-Personen und das medizinische System, das Eltern (für ihre intergeschlechtlichen Kinder) zwangsweise zur Befassung mit einer medizinischen Diagnose bringt, lassen Klient_innen aber kaum einen Ausweg, einer grenzverletzenden, gewaltförmigen Beratungssituation zu entkommen. Gerade deshalb ist die Sensibilisierung der Professionellen so wichtig – und sollte das Interesse vorhanden sein, vom Expert_innen-Wissen von Trans*- und Inter*-Personen zu profitieren.
Diskussion und Fazit
Das Buch „Expert_innen des Geschlechts? Zum Wissen über Inter*- und Trans*-Themen“ von Kim Scheunemann wirft die richtigen Fragen zur Bewertung von Wissen im professionellen Kontext auf. Zugleich gibt es über die Auswertung von acht qualitativen Interviews mit Expert_innen aus dem aktivistischen und therapeutischen Kontext erste Antworten. Das Buch ist aber vor allem eine Anregung an Professionelle, das Wissen der Klient_innen und der Selbstorganisationen von Trans* und Inter* ernst zu nehmen, eigenes Nichtwissen zu erkennen und Weisen des Umgangs mit ´den eigenen Unsicherheiten zu entwickeln. Hier sollten weitere Arbeiten und sollte eine breite akademische und insgesamt gesellschaftliche Debatte anschließen. Sie ist nötig, da gerade im medizinischen und therapeutischen System die Position der Klient_innen marginalisiert ist, etwa weil sie – im Kontext von Trans* – auf Gutachten für die Änderung des (geschlechtlichen) Personenstandes angewiesen sind. Unachtsamkeit und bewusstes oder unbewusstes Nichtbeachten der geschlechtlichen Selbstverortung der Klient_innen durch die Beratenden stellt durch den gesetzlich erzwungenen Kontext in besonderer Weise eine gewaltvolle Handlung dar.
Noch vor einigen Jahren war es so, dass Fachtagungen ohne Vertretungen der Selbstorganisationen stattgefunden haben. Das ging gar so weit, dass ein Teil der Sexologen im Jahr 2000 den Raum verließ, weil mit Michel Reiter eine Person sprechen sollte, die von der problematischen medizinischen Behandlungspraxis gegen Intersexuelle selbst betroffen war. [1] Gibt es aktuell zumindest leichte Veränderungen, so ist es noch heute so, dass auf Fachkongressen Akademiker_innen weitgehend unter sich bleiben und Expert_innen aufgrund ihrer eigenen Biografie kaum Zugang erhalten. Dass es Sinn macht, das zu ändern, dafür gibt Scheunemanns Buch einige gute Argumente.
Günstig wäre es gewesen, für das Buch auch die wegweisenden Publikationen von LesMigraS heranzuziehen, die mit ihrer Studie zu Mehrfachdiskriminierung [2] auch hinsichtlich der Betrachtung der Diskriminierung von Trans* wissenschaftliche Maßstäbe gesetzt haben. Aufbauend auf der Studie und auf Scheunemanns Arbeit könnte einerseits über Möglichkeiten nachgedacht werden, wie Professionelle ihr Nichtwissen reflektieren und bearbeiten können, und andererseits darüber, wie Expert_innen ihrer selbst – Trans* und Inter*, of Color – mit ihrem Wissen gesellschaftlich und wissenschaftlich ernst genommen und in professionellen Settings, in denen sie es teilen, dafür entlohnt werden können.
[1] Reiter, Michel (2000): Medizinische Intervention als Folter. (Abdruck des Vortrags vor der European Federation of Sexology.) GiGi – Zeitschrift für sexuelle Emanzipation, 9. Online: www.gigi-online.de (Zugriff: 28.1.2018).
[2] LesMigraS (2012): „…Nicht so greifbar und doch real“ – Eine quantitative und qualitative Studie zu Gewalt- und (Mehrfach-)Diskriminierungserfahrungen von lesbischen, bisexuellen Frauen und Trans* in Deutschland. Berlin. Online: www.lesmigras.de (Zugriff: 28.1.2018).
Rezension von
Prof. Dr. Heinz-Jürgen Voß
Professur Sexualwissenschaft und sexuelle Bildung
Hochschule Merseburg
FB Soziale Arbeit. Medien. Kultur
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