Ali Türk, Ramazan Salman (Hrsg.): Betreuung von Menschen mit Migrationshintergrund
Rezensiert von Dipl.-Soz.Arb. Michael Fischer, 18.09.2018
Ali Türk, Ramazan Salman (Hrsg.): Betreuung von Menschen mit Migrationshintergrund. Ein Leitfaden für die Betreuungspraxis. Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft (Köln) 2018. 420 Seiten. ISBN 978-3-8462-0724-6. D: 39,00 EUR, A: 40,10 EUR.
Thema
Aktuell wird der Begriff Migration in der öffentlichen Wahrnehmung vor allem mit der sog. ‚Flüchtlingskrise‘ in Verbindung gebracht. Dabei hat die Einwanderung nach Deutschland eine lange Tradition. Auch wenn keine allgemeingültige Definition besteht, wird unter Migration gemeinhin die langfristige oder dauerhaft angelegte Verlagerung des Lebensmittelpunktes über Landesgrenzen hinaus verstanden. Nach der Definition des statistischen Bundesamtes hat eine Person einen Migrationshintergrund, wenn sie selbst oder mindestens ein Elternteil nicht mit deutscher Staatsangehörigkeit geboren wurde. Nach dieser Definition hatten im Jahr 2015 rund 21 % der Bevölkerung einen Migrationshintergrund.
‚Betreuung‘ meint im vorliegenden Buch die rechtliche Betreuung iSd. § 1896 Abs. 1 BGB, also die Besorgung der rechtlichen Angelegenheiten einer Person, die diese aufgrund einer Behinderung oder psychischen Erkrankung nicht selbst besorgen kann. Die Folgen von Migration, insbesondere im Falle von Flucht, können für die rechtliche Betreuung von großer Bedeutung sein; die psychosozialen Auswirkungen einer Migrationserfahrung werden von der Aufnahmegesellschaft häufig nicht ausreichend beachtet. Nicht nur traumatische Erfahrungen im Herkunftsland oder während der Flucht können Auslöser von psychischen Krankheiten sein, sondern auch die Migration als solche – das Verlassen einer vertrauten Umgebung, Trennung von Angehörigen und das Zurechtfinden in einem neuen sozialen und kulturellen Bezugssystem. Beispielsweise zeigen Migranten der ersten Generation eine höhere Prävalenz depressiver Symptome als Nicht-Migranten, ebenfalls treten Posttraumatische Belastungsstörungen häufiger auf. Neben spezifischen Krankheitsbildern sind vor allem Sprachbarrieren, Unkenntnis des deutschen Rechts- und Sozialsystems sowie Berührungspunkte mit ausländischem Recht als Spezialprobleme in der rechtlichen Betreuung von Migranten zu nennen.
Das hier besprochene Buch geht gezielt auf diese Besonderheiten ein, wobei sowohl theoretische als auch sehr praxisorientierte Beiträge ihren Platz finden. Aufgrund seines Aufbaus, seines interdisziplinären Zugangs und der doch ganz überwiegend praxisorientierten Perspektive richtet sich „Betreuung von Menschen mit Migrationshintergrund“ in erster Linie an Betreuer, die einen Einblick in migrationssensible Betreuungsarbeit erlangen möchten, aber auch an Praktiker in den verschiedenen Bereichen der Ausländerberatung mit Berührungspunkten zum System der rechtlichen Betreuung.
Herausgeber und AutorInnenteam
Das Werk wird herausgegeben von Ali Türk, Geschäftsführer des Instituts für transkulturelle Betreuung e.V. (ItB) und Ramazan Salman, Geschäftsführer des Ethno-Medizinischen Zentrums e.V. (EMZ).
Neben ausgewiesenen Experten des Betreuungsrechts, wie Prof. Dr. iur. Werner Bienwald, Peter Winterstein und Horst Deinert besteht das Autorenteam aus erfahrenen Praktikern, die in unterschiedlicher Weise mit dem Betreuungsrecht bzw. der Betreuungspraxis in Berührung sind. Komplettiert wird das Team durch Angehörige angrenzender Professionen wie der Medizin und der Psychologie.
Aufbau
Das insgesamt 419 Seiten umfassende „Betreuung von Menschen mit Migrationshintergrund“ gliedert sich in 23 Kapitel bzw. „Teile“, einen 38 Seiten umfassenden Anhang mit Arbeits- und Informationsmaterialien, Literaturverzeichnis und ein vergleichsweise umfangreiches Stichwortverzeichnis. Ein Autorenverzeichnis wurde in dieser ersten Auflage wohl vergessen, leider werden die Autoren bzw. Bearbeiter auch nicht im Inhaltsverzeichnis genannt – es darf geblättert werden.
Die einzelnen Teile, die in Verantwortung des jeweiligen Autors bzw. der jeweiligen Autoren liegen, bestehen aus eigenständigen Aufsätzen. Diese bauen nicht aufeinander auf, beziehen sich nicht aufeinander und folgen keiner besonderen Ordnung, weshalb sie auch jeweils getrennt betrachtet werden können. Der Buchtitel bildet eine lose Klammer um die Inhalte. Hierdurch erhält der „Leitfaden für die Betreuungspraxis“ den Charakter eines Sammelbands.
Die Deutsche Nationalbibliothek bietet Einblick in das vollständige Inhaltsverzeichnis.
Inhalt
Inhaltlich deckt „Betreuung von Menschen mit Migrationshintergrund“ eine größere Vielfalt ab, als der Titel zunächst vermuten lässt.
Einige Beiträge widmen sich den allgemeinen Grundlagen der rechtlichen Betreuung (ohne unmittelbaren migrationsspezifischen Bezug), z.B. ein Kurzabriss über die Entstehung des Betreuungsrechts sowie dessen Grundzüge und aktuelle Entwicklungen (Teil 2, S. 41 – 52), der Ablauf eines Betreuungsverfahrens aus richterlicher Sicht (Teil 6, S. 85 – 98) oder die Vermeidung von (nicht erforderlichen) Betreuungen durch die Berücksichtigung sog. ‚anderer Hilfen‘ (Teil 18, S. 227 – 234).
Darüber hinaus werden vielfach die Besonderheiten in der Betreuung von Migranten angesprochen, z.B. ausländerrechtliche Bezüge (Teil 22, S. 273 – 328), Teilhabemanagement bei Personen mit Migrationshintergrund (Teil 19, 235 – 246) oder besondere Herausforderungen und Aufgaben rechtlicher Betreuer in der Betreuung von Migranten (Teil 8, S. 107 – 117).
Flankiert wird dies durch medizinisch-psychologische Zugänge, wie die Frage nach der psychischen Gesundheit im Kontext des Migrationsprozesses (Teil 1, S. 27 – 40), Besonderheiten von Betreuungsgutachten bei Migranten (Teil 10, S. 129 – 138) oder Überlegungen zum Themenkomplex Psychiatrie und Migration (Teil 11, S. 139 – 145).
Auch randständigere Themen wie eine Einführung in das deutsche Vormundschafts- und Pflegschaftsrecht (Teil 15, S. 183 – 192) oder die Zusammenfassung einer Dissertation über drogenabhängige Migranten aus der ehemaligen Sowjetunion (Teil 14, S. 171 – 182) erhalten ihren Platz.
Abgerundet wird die Aufsatzsammlung durch die Darstellung von Best Practice-Modellen für die Betreuung von Migranten bzw. die kultursensible Öffnung eines Betreuungsvereins (Teil 4, S. 63 – 77 und Teil 20, S. 247 – 262). Aufgrund dieser thematischen Vielfalt kann hier keine umfassende Darstellung des Inhalts erfolgen, stattdessen werden im Folgenden zwei Beiträge exemplarisch vertieft betrachtet.
Der Themenkomplex Migrationsprozess, psychische Gesundheit und die Schnittstelle rechtliche Betreuung wird von Prof. Dr. Wielant Machleidt und Ali Türk bearbeitet. Sehr umfassend und dennoch allgemeinverständlich wird die phasenhafte Ablaufdynamik von Migrationsprozessen dargestellt. Nach einer kurzen Einführung wird auf die Emotionslogik im Prozess der Migration eingegangen, ausführlich wird die Bedeutung des Wechsels zwischen Trennungsschmerz und Hochgefühl („Honeymoon“, S. 28) dargelegt. Spannend ist hierbei, dass aus einer psychoanalytischen Perspektive die Gewinnung einer neuen bi-kulturellen Identität als „kulturelle Adoleszenz“ (S. 30) verstanden wird – Migration erfordere „die Ablösung von den kulturtypischen Beziehungsobjekten, die als mütterlich/väterliche Ersatzobjekte (z.B. Muttersprache, Vaterland) Stellvertreterfunktion haben“ (S. 32). Migration wird folglich als (nach der Geburt und der Phase der Adoleszenz) dritte Individuation des Menschen begriffen. Auf die Bedeutung dieses kritischen Veränderungsprozesses für einen Menschen mit Migrationserfahrung wird im Folgenden eingegangen. Das Kapitel schließt mit einer Auswertung von Studien zu erhöhten Risiken für die Entwicklung bestimmter psychischer Erkrankungen.
Eine Vorstellung ihrer Best practice: Betreuungsverein Insel e.V. nehmen Songül Karaman, Stefan Kinzel, Bärbel Ziesche und Bertram Spieß vor. Es wird geschildert, wie für Harburg, einen Hamburger Stadtteil mit hohem Migrantenanteil, erstmals spezifische Angebote im Bereich des Betreuungsrechts für Menschen mit Migrationshintergrund geschaffen wurden. Betont wird die Bedeutung guter Sprachkenntnisse für die Fälle, in denen Betreute oder Ratsuchende die deutsche Sprache nicht ausreichend beherrschen. Ebenfalls als unerlässlich wird „kulturelle Sensibilität“ (S. 248) angesehen, wobei der Begriff allerdings nicht weiter erläutert wird. Zudem wird auf die Bedeutung von Öffentlichkeits- und Vernetzungsarbeit hingewiesen. Als besondere Herausforderung in der Unterstützung von Migranten wird angeführt, das im Herkunftsland häufig unbekannte System der rechtlichen Betreuung verständlich und mit Blick auf die Zielrichtung – der Schutz und die Durchsetzung der Rechte der Betroffenen – zu erklären. Eine Grundlegende Anforderung an den Betreuer sei die Fähigkeit, „über kulturelle Grenzen hinweg zu kommunizieren“ (S. 251), weshalb der Betreuer am besten Muttersprachler sei und zudem aus demselben Kulturkreis stamme. Insbesondere für Praktiker interessant ist die Darstellung der „interkulturellen Phase“ (S. 253) des Vereins. Hier werden Unterschiede in den Kommunikationsregeln verschiedener Kulturen (direkt vs. indirekt) anschaulich und sensibilisierend erläutert. Die im Folgenden vorgestellte Übung „Albatros“, in welcher die Schwierigkeit erfahren werden kann, einen Sachverhalt ohne implizite Interpretation oder Wertung zu schildern, zeigt bereits beim Lesen stereotype Deutungsmuster auf und lädt zum Ausprobieren ein. Erfreulich ist, dass unter dem Stichwort „Transkulturelle Konfliktfähigkeit“ darauf hingewiesen wird, dass eine Öffnung für andere Kulturen nicht bedeutet, auf Kritik zu verzichten – viele deutschstämmige Menschen hätten hiermit ein Problem, da sie befürchteten, als fremdenfeindlich zu gelten (vgl. S. 260).
Diskussion
Angesichts der aktuellen demographischen Entwicklung ist davon auszugehen, dass der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund an der Gesamtheit der Betreuten in den nächsten Jahren kontinuierlich steigen wird. Bisher haben die besonderen Lebenslagen von Migranten und die daraus resultierenden Herausforderungen an das System der rechtlichen Betreuung in der Literatur nur wenig Beachtung erfahren. Das vorliegende Werk leistet somit einen wertvollen Beitrag, die Lücke zu schließen und das Thema ‚Betreute mit Migrationshintergrund‘ stärker in die betreuungsrechtlichen Diskurse einzubringen.
Die Bezeichnung „Leitfaden“ im Untertitel des Werks ließ zunächst etwas mehr Kohärenz der einzelnen Teile erwarten. Die als „Teile“ bezeichneten Aufsätze stehen kaum integriert nebeneinander. Die Bearbeitungstiefe der einzelnen Themen variiert stark und hängt vom Fokus des jeweiligen Autors bzw. der jeweiligen Autoren ab. Hierdurch kommt es auch zu einigen Redundanzen, bspw. werden die Voraussetzungen zur Einrichtung einer rechtlichen Betreuung nach § 1896 Abs. 1 BGB in etlichen Aufsätzen im Rahmen der jeweiligen Einleitung wiederholt. Der Vorteil dieser Bearbeitungsweise, die dem Werk den Charakter eines Sammelbands verleiht, ist der stets leichte Zugang für den Leser, selbst wenn nur wenige Vorkenntnisse vorhanden oder nur einzelne Teile von Interesse sind. Zudem lädt der Leitfaden so immer wieder zum Blättern und Schmökern ein. Dennoch wäre für eine Folgeauflage zu überlegen, ob nicht bestimmte Teile ‚vor die Klammer gezogen‘ werden können und dem Aufbau insgesamt etwas mehr Struktur gegeben wird.
Die Stärken des Buches liegen in der Interdisziplinarität des Zugangs – medizinische und psychologische Hintergründe finden genauso ihren Platz wie rechtswissenschaftliche Einblicke oder methodische Überlegungen – sowie in seiner Praxisorientierung. In vielen Beiträgen wird eine langjährige und äußerst umfangreiche praktische Erfahrung der Autoren sichtbar, von welcher praxisorientierte Leser in jedem Fall profitieren können. Die Praxisbezüge werden durch die häufige Verwendung von Beispielen, Verweisungen auf weiterführende Literatur, Schaubilder, Arbeitshilfen usw. vertieft. Vielfach haben die Beiträge einen sensibilisierenden Charakter, was gerade für ‚Anfänger‘ in der Betreuung von Menschen mit Migrationshintergrund sehr hilfreich ist.
Doch trotz des offenkundigen und gut gelungenen Blicks auf die Praxis wäre an einigen Stellen etwas mehr Theorie für weniger in der Materie verankerte Leser hilfreich gewesen. Beispielsweise findet an keiner Stelle eine Auseinandersetzung mit dem nicht leicht handhabbaren Begriff der ‚Kultur‘ statt, obwohl dieser für viele Beiträge etwa in Gestalt von ‚interkulturell‘ oder ‚kultursensibel‘ von grundlegender Bedeutung ist.
Wohl dem aufzeigenden und sensibilisierenden Anliegen des Werks geschuldet und daher auch nicht ganz vermeidbar ist die konsequente Betonung der Bedeutung der ‚Herkunftskultur‘, wodurch manchmal aber ein schmaler Grat hin zu Stereotypisierung und Kulturalismus beschritten wird. Die Bedeutung sub-kultureller Zugehörigkeiten (jenseits der Ethnie) für die Identität eines Individuums findet keine explizite Beachtung. Es besteht daher das Risiko, dass das Individuum hinter all der vermeintlichen Kultursensibilität verschwindet. Zwischen Betreuer und Betreutem besteht bereits aufgrund der die Betreuung erforderlich machenden Anlasserkrankung eine Diskrepanz in Wahrnehmung, Deutung und Verstehen, die sich auch nicht durch Reflexion nivellieren lässt. Die Betreuung eines Menschen mit psychischer Erkrankung oder seelischer Behinderung bedeutet daher immer den Kontakt zu einer fremden Welt, sie ist somit per se ‚interkulturell‘.
Fazit
Primär richtet sich „Betreuung von Menschen mit Migrationshintergrund“ an Betreuer, die einen Einstieg in die migrationssensible Betreuung finden möchten, aber auch an Mitarbeiter von Ausländerberatungsstellen, die Berührungspunkte mit dem System der rechtlichen Betreuung haben. Die überwiegend praxisorientierte Perspektive wird durch einige theoretische Hintergründe aus unterschiedlichen Disziplinen ergänzt und durch die Darstellung von Best Practice-Modellen sowie praxisnahe Arbeitshilfen abgerundet. Durch seinen Sammelbandcharakter lädt das Werk immer wieder zum Blättern ein, das Stichwortverzeichnis erleichtert das nochmalige nachschlagen. Da die Zahl von Betreuten mit Migrationshintergrund in den nächsten Jahren konstant ansteigen wird, ist dieses Buch eine wertvolle Arbeitshilfe für jeden Betreuer.
Rezension von
Dipl.-Soz.Arb. Michael Fischer
Mailformular
Es gibt 6 Rezensionen von Michael Fischer.
Zitiervorschlag
Michael Fischer. Rezension vom 18.09.2018 zu:
Ali Türk, Ramazan Salman (Hrsg.): Betreuung von Menschen mit Migrationshintergrund. Ein Leitfaden für die Betreuungspraxis. Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft
(Köln) 2018.
ISBN 978-3-8462-0724-6.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/23876.php, Datum des Zugriffs 14.12.2024.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.