Andreas Mühlichen: Privatheit im Zeitalter vernetzter Systeme
Rezensiert von Dr. Antje Flade, 12.04.2018

Andreas Mühlichen: Privatheit im Zeitalter vernetzter Systeme. Eine empirische Studie.
Verlag Barbara Budrich GmbH
(Opladen, Berlin, Toronto) 2018.
281 Seiten.
ISBN 978-3-8474-2145-0.
D: 36,00 EUR,
A: 35,00 EUR.
Bonner Reihe der empirischen Sozialforschung, Band 2.
Thema
Das Verhältnis zwischen Freiheit und Sicherheit in einer digitalisierten Welt wird analysiert. Privatheit als Voraussetzung von Freiheit wird durch Überwachung und das Sammeln und Speichern persönlicher Daten geschmälert. Es wird in einem theoretischen und einem empirischen Teil der Frage nachgegangen, inwieweit bei jungen Erwachsenen ein Bedürfnis nach Privatheit besteht und ob es in einer digital vernetzten Gesellschaft überhaupt noch Privatheit geben kann.
Autor
Andreas Mühlichen, M.A. ist Lehrbeauftragter im Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie der Universität Bonn. Die Publikation wurde von ihm als Dissertation eingereicht.
Aufbau
Das Buch ist übersichtlich gegliedert, es beginnt mit einer Einleitung, der sechs Kapitel folgen.
Die ersten drei Kapitel enthalten allgemeine Überlegungen über Privatheit und die Auswirkungen der Digitalisierung auf Privatheit, in den Kapiteln 4 bis 6 wird eine eigene empirische Untersuchung geschildert.
Inhalte
In der Einleitung wird auf die Problematik der digital basierten Überwachung eingegangen, die anfangs mit dem Kampf gegen Terroristen begründet wurde. Die individuelle Privatheit wird zunehmend durch die schwindenden Möglichkeiten unterminiert, sich der mit den digitalen Technologien möglich gewordenen weitreichenden Überwachung zu entziehen. Es gilt, die Nützlichkeit vernetzter Systeme gegenüber einer lückenlosen Überwachung abzuwägen. Eine grundsätzliche Frage ist, ob Privatheit in einer digital vernetzten Gesellschaft überhaupt noch den Stellenwert aus vordigitaler Zeit besitzt.
Im ersten Kapitel wird dargestellt, was Privatheit meint und warum es Sinn macht, ein Bedürfnis nach Privatheit anzunehmen. Diesem Bedürfnis steht jedoch zunehmend das Bedürfnis nach Sicherheit entgegen, womit der Ausbau der Überwachungsinfrastruktur begründet wird. Der Autor bezieht sich auf das Konzept von Beate Rössler, die individuelle Privatheit als Konstrukt mit einer lokalen, informationellen und dezisionalen Dimension definiert hat. Die dezisionale Privatheit bezieht sich auf individuelle Entscheidungen und Lebensweisen. Informationelle Privatheit ist die Kontrolle über Informationen, die andere von einem bekommen. Lokale Privatheit bezieht sich auf geschützte Räume. Nach Rössler wird Privatheit geschätzt, weil sie es ermöglicht, ein autonomes Leben zu führen. Das Verhältnis von Freiheit bzw. Autonomie und Sicherheit ist höchst komplex, wobei durchaus fraglich ist, ob mehr Überwachung zu mehr Sicherheit beiträgt. Feststeht, dass Überwachung bei der Herstellung und Festigung von Machtverhältnissen eine zentrale Rolle spielt. Bekannte und abschreckende Beispiele einer totalen Überwachung sind das Panoptikum von Bentham und der Big Brother in Orwells „1984“ sowie Kafkas Buch „Der Prozess“, in dem in literarischer Form der Verlust informationeller Kontrolle und die dadurch bewirkte vollkommene Machtlosigkeit des einzelnen Menschen gegenüber einer unsichtbaren und undurchschaubaren Macht beschrieben wird.
Im informationsreichen zweiten Kapitel werden digitale Technologien vorgestellt und erläutert. In der digitalen Welt wird kein physisches Trägermedium mehr gebraucht; große Datenmengen können enorm schnell verarbeitet werden. Die Fachbegriffe elektronisches Gehirn, Speicher, Vernetzung, web 2.0, Cloud, Metadaten, Sensordaten, user generated content usw. werden erklärt. Mühlichen unterscheidet zwischen drei Gruppen, die an digitalen Daten interessiert sind: staatlichen und privatwirtschaftlichen Akteuren und Individuen. Angesichts der vielfältigen Möglichkeiten der Identifizierung einer Person aufgrund der über sie gesammelten Daten greift die klassische Methode der Anonymisierung, um die Privatsphäre zu schützen, nicht mehr. Dass auch vermeintlich geschützte Daten nicht immer sicher verschlossen sind und dass auch Überwachungssysteme angreifbar sind, hat der Fall Snowdon gezeigt. Eine Antwort auf die Frage, wie alles, was uns umgibt, Teil einer umfassenden Datensphäre werden kann, ist die RFID (Radio Frequency Identification) Technik. Sie beruht auf der Kennzeichnung von Dingen wie z.B. Lesegeräten, die bestimmte Signale aussenden.
Das ausführliche dritte Kapitel behandelt die Auswirkungen der Digitalisierung auf das Individuum und seinen Lebensraum. Der Autor schildert die soziale Falle, welche die Digitalisierung voran treibt: Zeitersparnis und Bequemlichkeit, die Dienste und Services bieten, werden unmittelbar positiv erlebt, der Verlust an Privatheit – wenn überhaupt – mit zeitlicher Verzögerung. Die gezielte Beeinflussung des Konsumverhaltens sowie mangelnde Transparenz, z.B. weiß man nicht, warum man von einem Arbeitgeber oder Vermieter abgelehnt wird, sind Anzeichen eines Privatheitverlusts. Mühlichen beschreibt die schleichende Funktionserweiterung (function creep) wie die Weitergabe von Daten, die eigentlich für einen begrenzten speziellen Zweck erhoben wurden (z.B. um Mautgebühren zu erfassen), als eine Möglichkeit, persönliche Daten weiter zu verwenden, wodurch Privatheit verloren geht. Durch Mobiltelefone wird die Balance zwischen Sicherheit und Privatheit massiv verändert, denn die mit einem solchen Gerät ausgestatteten Petsonen können durchgehend geortet werden. Durch Speicherung der Daten gibt es kein Vergessen. Informationen sind öffentlich dauerhaft verfügbar
Datenschutz, das Pochen auf das Recht des Vergessenwerden, ein Sich verstecken hinter verschiedenen Identitäten und Anonymisierung reichen nicht aus, um den weitreichenden Verlust an Privatheit aufzuhalten. Datenschutzgesetze lassen sich umgehen oder schlichtweg ignorieren. Hinzu kommt noch, dass durch das Spiel mit verschiedenen Personae als Konstruktionen des Selbst nicht mehr klar ist, wer man eigentlich ist. Ein Verzicht auf digitales Equipment würde eine Störung der gesellschaftlichen Teilhabe nach sich ziehen. Ebenfalls keine Lösung ist ein Verhalten in Form einer „Flucht nach vorn, d.h. eine Strategie der völligen Offenheit, die als Freiheit deklariert wird.“ Der Autor bezeichnet diese Strategie als „Post Privacy“ (S. 166). Ohne Privatheit gibt es jedoch keine Autonomie, sodass eine solche völlige Freiheit letztlich völlige Unfreiheit bedeutet.
Im vierten Kapitel liefert Mühlichen eine Einführung in die von ihm durchgeführte empirische Untersuchung. Er entwickelt ein Messinstrument, um das Bedürfnis nach Privatheit zu operationalisieren und Reaktionen auf den Verlust an individueller Kontrolle zu erfassen. Individuelle online und offline Praktiken, die Erscheinungsformen des Privatheitsbedürfnisses sowie die Deutungen von Privatheit und Privatheitsverlust werden ermittelt. Der eine nimmt z.B. die Kameraüberwachung als eine Sicherheit erhöhende Maßnahme wahr, der andere sieht darin einen Eingriff in die Privatsphäre.
Im fünften Kapitel „Empirie“ werden das methodische Vorgehen und die Ergebnisse geschildert. Schriftlich befragt wurden Studierende des Fachs Politik und Gesellschaft an der Universität Bonn, d.h. junge Erwachsene, die ausnahmslos Onliner sind. Ausgewertet wurden insgesamt 1555 vollständig ausgefüllten Fragebögen. Gefragt wurde nach Praktiken im Hinblick auf Privatheit, dem Bedürfnis nach Privatheit und nach den Deutungen einer erlebten Diskrepanz zwischen dem Bedürfnis nach Privatheit und der Verletzung der Privatsphäre. Als sensible Informationen werden gesundheitliche Belange sowie persönliche Bilder und Fotos angesehen. Als störend würden die meisten die Veröffentlichung des Lebenslaufs und der E-Mail Adresse im Internet finden. Die faktorenanalytisch ermittelten Dimensionen: Sorge um die Privatsphäre, der Kontrollverlust im Hinblick auf informationelle Daten, die Privatsphäre im unmittelbaren sozialen Umfeld und die wahrgenommene Notwendigkeit von Privatheit, wertet der Autor als Hinweis, dass es ein Bedürfnis nach Privatheit gibt. Wird dieses Bedürfnis im digitalen Kontext nicht befriedigt, wird das individuell unterschiedlich interpretiert: Man vertraut den maßgeblichen Institutionen, man hat Datenschutzbedenken oder man verzichtet auf eine gesellschaftliche Teilhabe und resigniert, was zugleich ein Verzicht auf Freiheit ist.
Im knapp gehaltenen abschließenden sechsten Kapitel nimmt Mühlichen noch einmal Bezug auf Rösslers Konzept von Privatheit, wobei er konstatiert, dass im Zuge der Digitalisierung vor allem die informationelle Privatheit zu einem sehr komplexen Thema geworden ist. Er stellt die Frage in den Raum, was die Macht von Online-Institutionen für liberale Demokratien bedeutet.
Diskussion
Das Buch greift ein hochaktuelles Thema auf, In den ersten drei Kapiteln wird sachkundig über den Stand des Wissens über Privatheit im digitalen Zeitalter berichtet. Dass „Leben“ immer mehr „Leben im Netz“ bedeutet, wird unmittelbar deutlich.
Zentral ist das dritte Kapitel, in dem Mühlichen eine Fülle anschaulicher Beispiele, die Ambivalenz zwischen individueller Kontrolle/ Privatheit und Überwachung/ Sicherheit betreffend, darstellt. Das Konzept von Rössler, mit den drei Dimensionen, auf das der Autor im ersten Kapitel eingeht, wäre hier von Nutzen gewesen, um die Fülle an Informationen, die das dritte Kapitel enthält, zu ordnen. Am Ende dieses Kapitels spricht Mühlichen das Thema „Post Privacy“ an. Gemeint ist die Negierung der die Freiheit vermindernden Konsequenzen des Verlustes von Privatheit. Ein kurzer geschichtlicher Rückblick ins Mittelalter hätte zeigen können, dass Privatheit kein anthropologisches, sondern ein gesellschaftliches Phänomen ist und dass es das Bedürfnis nach Privatheit nicht immer gegeben hat. So wäre auch die Post Privacy Produkt einer sich wandelnden Gesellschaft.
Die empirische Untersuchung belegt, dass es (derzeit noch) ein Bedürfnis nach Privatheit gibt und dass man sich Sorgen über einen Verlust von Privatheit macht. Zu den Reaktionen wie den Verzicht auf gesellschaftliche Teilhabe oder Resignation müsste auch die Negierung der Freiheit vermindernden Folgen des Verlusts an Privatheit (und damit Autonomie) gerechnet werden. Diese Reaktion ist ein Schritt in eine Post Privacy Gesellschaft, in der völlige Offenheit als Freiheit interpretiert wird.
Im empirischen Teil hätte Rösslers Konzept der Privatheit, auf das der Autor zu Beginn des Buches Bezug nimmt, eine brauchbare theoretische Basis abgegeben, die auch bei der Konzeption des Fragebogens und der Darstellung der Ergebnisse von Nutzen gewesen wäre.
Am Schluss seiner sachkundigen Analyse sieht sich der Autor eher als Beobachter bzw. Berichterstatter und weniger als Forscher: „Es wird interessant sein zu beobachten, wie sich soziale Medien in den kommenden Jahren verändern und weiterentwickeln werden und welche Implikationen dies für die Privatheit haben wird“ (S. 261).
Positiv zu werten ist, dass der in der empirischen Untersuchung verwendete Fragebogen im Anhang wieder gegeben ist, sodass der Leser einen direkten Überblick über die Inhalte der Befragung erhält. Begrüßenswert wäre gewesen, wenn dazu auch die in der empirischen Untersuchung ermittelten Antworthäufigkeiten aufgeführt worden wären, sodass man sich als interessierter Leser ein erstes Bild hätte verschaffen können, Online Nutzer Privatheit bewerten.
Fazit
Das verständlich geschriebene Buch greift ein vielschichtiges gesellschaftlich relevantes Thema auf. Privatheit als Voraussetzung individueller Autonomie ist im Zeitalter vernetzter Systeme keine Selbstverständlichkeit mehr. Durch digitale Technologien haben sich die Rahmenbedingungen individueller Privatheit spürbar verändert. Einschränkungen der Privatsphäre durch Überwachung, Sammlung und Speicherung von Daten werden als Sicherheitsmaßnahme deklariert. Wie aus der durchgeführten empirischen Untersuchung hervorgeht, existiert nach wie vor ein Bedürfnis nach Privatheit. Das Buch informiert nicht nur, sondern regt auch dazu an, sich vertiefend mit der Frage auseinanderzusetzen, wie viel Autonomie die digitale Gesellschaft dem Individuum lässt, inwieweit man bereit ist, auf gesellschaftliche Teilhabe zu verzichten oder sich mit einer Post Privacy Gesellschaft anzufreunden. Es ist ein Buch, das alle – nicht nur Fachleute – zum Nachdenken über den Wert von Privatheit und zum Handeln anregt.
Rezension von
Dr. Antje Flade
Psychologin, Sachbuchautorin
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