Matthias Preis: Die Sinne im Text
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 15.02.2018
Matthias Preis: Die Sinne im Text. Literarische Sinneswahrnehmung im didaktischen Diskurs. kopaed verlagsgmbh (München) 2018. 600 Seiten. ISBN 978-3-86736-442-3. D: 32,80 EUR, A: 33,80 EUR.
Thema
Die Wahrnehmung ist die erste Stufe der Erkenntnis. Der anthrôpos, das menschliche Lebewesen, ist ein mit Vernunft und Emotion ausgestattetes Lebewesen. Diese Eigenschaften zeigen sich als Akt und Aktion. Bereits in der antiken, aristotelischen Philosophie wird der aisthêsis, der Wahrnehmung, die erkenntnistheoretische und realistische Bedeutung zugeschrieben, sowohl ein „Erleiden“, aus auch ein „Bewegtwerden“ des körperlichen und seelischen Daseins zu sein (Otfried Höffe, Aristoteles-Lexikon, 2005, S. 10ff). Die philosophische und anthropologische Verwendung des Begriffs „Sinn“ zeigt sich in vielfältiger Weise: Als die Fähigkeit, Reize von Außen aufzunehmen, um bestimmte Wahrnehmungsleistungen zu benennen, um auf Ereignisse, Situationen, Texte, Medien… zu agieren oder zu reagieren, um natürliche Gegebenheiten in das eigene, existentielle Denken und Handeln einzubeziehen und Zeichen, Gesten… (Jos Schnurer, Am Anfang war die Geste. Ein didaktischer Zwischenruf, in: Pädagogische Rundschau, 5/2017, S. 565ff) richtig deuten zu können.
Die Sinnlichkeit benötigt das Transzendente, das Schöne und Sublime, um sich von der Animalität und Perversität lösen zu können. Sie ist aber auch nicht ohne Kognition und Logik denkbar(Hegel). Im andauernden philosophischen, psychologischen und anthropologischen Diskurs wird der Sinnlichkeit als Tugend und Eigenschaft unterschiedliche Bedeutung zuerkannt. Da wird nach dem „Sinn des Lebens“ (Nietzsche), nach dem „Sinn des Daseins“ (Heidegger), nach dem „Sinn eines Textes“ (Gadamer), und nach dem „Sinn von Zeichen“ (Frege) gefragt, die „weibliche Sinnlichkeit“ von der männlichen unterschieden (Alcira Mariam Alizade, Weibliche Sinnlichkeit, 2014, www.socialnet.de/rezensionen/17558.php), die weltanschauliche, religiöse Bedeutung hervorgehoben (Volker Gerhardt, Der Sinn des Sinns. Versuch über das Göttliche, 2014, www.socialnet.de/rezensionen/18151.php), und der Menschen an sich als mystisches Lebewesen bezeichnet ( Abraham H. Maslow, Jeder Mensch ist ein Mystiker, 2014, www.socialnet.de/rezensionen/18151.php).
Entstehungshintergrund und Autor
Emotionale Einstellungen und Verhaltensweisen zeigen sich vor allem beim kulturellen Denken und Handeln. Im Theater, in der Kunst und Literatur hat die sinnliche Wahrnehmung eine besondere Bedeutung. Durch sie wird der Mensch auf sich selbst bezogen und gleichzeitig mit dem kollektiven Dasein der Menschheit konfrontiert. Die existentielle Frage „Wer bin ich?“ ist ohne die Sinnfrage nicht zu beantworten. Diesen Zusammenhang machen sich auch Werbestrategen zu Nutze. Und im individuellen, lokalen und globalen Diskurs wird kontrovers diskutiert, ob in den Zeiten der Globalisierung, des Egozentrismus, Nationalismus und Populismus die Fähigkeit der Menschen zur Sinnlichkeit gestärkt oder reduziert werden solle. Es sind vor allem die sinnlich-ästhetischen und emotionalen Aspekte, die im Alltagsleben der Menschen wie in ihrem kulturellen und interkulturellen Denken und Tun eine besondere Rolle spielen (sollten).
Die Frage, welche Bedeutung, Zuschreibung und Möglichkeit die sinnlich-ästhetische Wahrnehmung in der Literatur einnimmt und wie sie in der Literaturdidaktik und -methodik des Deutschunterrichts aufgenommen und umgesetzt werden kann, thematisiert und analysiert der Bielefelder Literaturwissenschaftler Matthias Preis in seiner 2016 vorgelegten Dissertation. Sie erscheint mit dem Titel „Die Sinne im Text“. Der Autor verweist darauf, dass die differenzierten Aspekte in der literaturdidaktischen Forschung bisher kaum untersucht worden sind. Sein Zugang: Das didaktische Konzept von der Schrift her denken! Es ist der Anspruch zur Wahrnehmungsbildung, die sowohl fachdidaktisch wie fächerübergreifend und ganzheitlich heute, in den Zeiten des Momentanismus, des „Ich-will-alles-und-das-sofort“-Denkens und der scheinbar unendlich vorhandenen Medienpräsenz, eine aufgeklärte, alltagspraktische Bedeutung gewinnt. Der Literaturunterricht erhält dabei eine besondere Bedeutung und Herausforderung.
Aufbau und Inhalt
Die umfangreiche Studie wird, neben der Einleitung und der Information über die Forschungsziele und Methodik der Arbeit, sowie dem Schluss- und Ausblick-Text, in die folgenden Kapitel gegliedert:
- „Sinnliche Wahrnehmung in der Literaturdidaktik“,
- „Sinnliche Wahrnehmung in der Literatur“,
- „Literarisch-fundierte Wahrnehmungsbildung in Theorie und Praxis“.
„Wahrnehmungsbildung“ als allgemeinbildende und didaktisch-methodische Herausforderung erhält in der literaturästhetischen, schulischen Bildung eine besondere Aufmerksamkeit. Preis zeigt die verschiedenen Theorien und Konzepte anhand von literarischen Texten und Beispielen auf, verweist auf die unterschiedlichen didaktischen und curricularen Zugänge und Kategorien, wie z.B. sich selbst und andere wahrnehmen, bildhaft und körperlich wahrnehmen, visuell und akustisch wahrnehmen, haptisch und aromatisch wahrnehmen, taktil und symbolisch wahrnehmen. In den Textbeispielen vermittelt sich der Alltags-, wie gleichzeitig der personale und interpersonale Wert der direkten und indirekten, theoretischen und praktischen Erfahrung. Dadurch zeigt sich gewissermaßen das Aha-Erlebnis, dass die literarische Auseinandersetzung mit der Wahrnehmung „gezielte Übergänge zwischen den fachdidaktischen Dimensionen…, insbesondere aber zwischen den Gegenstandsbereichen Literatur und Welt“ zustande kommen.
Nicht zu trennen sind die Auseinandersetzungen der didaktischen und der literarischen Bedeutung bei der sinnlichen Wahrnehmung. Sie sind eingebunden in das ästhetische und kreative Lernen als unabdingbare und notwendige Bestandteile von ganzheitlichen Bildungsprozessen. Sie äußern sich und werden angeregt durch „sinnliche Appellsignale“, durch „narrative Strukturen“, durch kognitionspsychologische Anlässe, und durch spontane und reflexive Texte. In der fachdidaktischen Zusammenführung der Bildungsziele – Wahrnehmungsschulung, Vorstellungsbildung, systemisches Verstehen, ästhetische Reflexion – vermittelt der Autor „die Koordinateneiner literarisch fundierten Wahrnehmungsbildung“.
Die Umsetzung der modellhaften und konzeptionellen Theorien einer literarisch fundierten Wahrnehmungsbildung in die Theorie und Praxis des schulischen Literaturunterrichts erfordert sowohl theoretisch- als auch praxisorientierte Begründungen. Sie finden sich in den verschiedenen, inhaltlichen, sprachlichen, strukturellen und kognitionstheoretischen Dimensionen, die der Autor analytisch und exemplarisch aufzeigt und in einer empirischen Studie nachweist. Er hat dazu eine Unterrichtseinheit in der 10. Klasse eines nordrhein-westfälischen Gymnasiums durchgeführt. Die Ergebnisse bringt er als Vorschlag für die Neugestaltung der Bildungsstandards und Kernlehrpläne beim Übergang von der SI in die SII ein. Es sind Methoden, die bisher weniger im Literaturunterricht eingesetzt werden, wie z.B. das „Tagebuch der Sinne“. Die empirisch ermittelten Motivations- und Interessenlagen der SchülerInnen zeigen auf, dass nicht nur „temporäre Veränderungen in der Aufmerksamkeit ablesbar wurden“, sondern ein Effekt auch dadurch zustande kam, dass „nicht allein ein Text, sondern ein Kontext, und zwar ein gleichermaßen thematischer, sozialer und jeweils individueller“ zustande kam.
Fazit
Die Studie „Die Sinne im Text“ nimmt grundsätzlich die pädagogische Herausforderung und Erfahrung auf, dass Lernen auf Verhaltensänderung zielt. Im Literaturunterricht bieten sich dafür die lebensweltliche Wahrnehmungs- und Vorstellungsbildung an. Der Autor begeht zum Glück nicht den Fehler, eine Bildung durch Literatur zu fordern, sondern mit dem Konzept der Wahrnehmungsbildung die Literatur als ein probates Mittel für eine ganzheitliche, humane und menschenwürdige Bildung auszuweisen. Die Forschungsarbeit verdeutlicht „ein Zusammenwirken von literarischer und außerliterarischer Wahrnehmung…, indem sie spezifische Sinne und Gegenstandsbereiche akzentuiert(), Sinneseindrücke imaginativ umfärbt() oder verknüpft(), Alltagsbeobachtungen symbolisch erweitert()“. Die Wahrnehmung und Sorge, dass im schulischen Unterricht humanistisches, kreatives und ästhetisches Lernen zu kurz kommt, muss auch die Fachdidaktiker und Lernplaner aufrütteln, und zwar nicht nur die Literaturdidaktik. Diese aber erhält durch die Studie zum Wahrnehmungslernen eine Fülle von Anregungen.
Neben dem Literaturverzeichnis werden als Anlagen das Tabellen- und Abbildungsverzeichnis und Materialien zur Unterrichtseinheit abgedruckt.
Es scheint, dass die Druckerei mit der Druckfarbe gespart hat. Das schwache Druckbild erschwert das Lesen.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 15.02.2018 zu:
Matthias Preis: Die Sinne im Text. Literarische Sinneswahrnehmung im didaktischen Diskurs. kopaed verlagsgmbh
(München) 2018.
ISBN 978-3-86736-442-3.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/23887.php, Datum des Zugriffs 13.12.2024.
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