Rolf Arnold: Ach, die Fakten! Wider den Aufstand des schwachen Denkens
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 28.03.2018
Rolf Arnold: Ach, die Fakten! Wider den Aufstand des schwachen Denkens. Carl-Auer Verlag GmbH (Heidelberg) 2018. 200 Seiten. ISBN 978-3-8497-0226-7. D: 29,95 EUR, A: 30,80 EUR.
Gegen schwaches Denken
In den Zeiten der Fake News, der populistischen Kakophonien und der ego- und ethnozentrierten, menschenfeindlichen Reduktionen drohen die Wahrheiten auf der Strecke zu bleiben. Hinter der Feststellung: „Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners“) steckt eine intellektuelle Zu-Mutung insofern, als „das Erkennen … nicht zu einem endgültigen Ende (kommt), sondern ( ) einen unendlichen und in ständiger Zirkularität ablaufenden Vorgang dar(stellt)“ (Heinz von Foerster / Bernhard Pörksen, Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Gespräche für Skeptiker, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/13980.php), und das „böse Denken“ scheinbar auf dem Schlachtfeld der Meinungen die Oberhand gewinnt (Bettina Stangneth, Böses Denken, 2016, www.socialnet.de/rezensionen/23593.php; Tali Sharot, Die Meinung der Anderen. Was unser Denken und Handeln bestimmt – und wie wir der kollektiven Dummheit entkommen können, 2017, www.socialnet.de/rezensionen/22651.php; Ingrid Brodnig, Hass im Netz. Was wir gegen Hetze, Mobbing und Lügen tun können, 2016, www.socialnet.de/rezensionen/23719.php).
Entstehungshintergrund und Autor
Es ist das demokratische Bekenntnis, dass „freie Meinungsäußerung, Pressefreiheit und die Freiheit von Forschung und Lehre sowie die Demokratie … ( ) die Diskurse und Resonanzräume (garantieren), in denen über die Evidenz der Fakten gestritten werden kann“. Fakten als menschengemachte und naturgegebene Werte und Normen lassen sich nicht verordnen, sondern sie benötigen „den erkenntnis- und beobachtungstheoretischen sowie selbstreflexiven Blick auf unseren eigenen Subtext der Erkenntnis, um nicht im Brustton der Gewissheit als Faktum auszugeben, was uns immer schon der Fall gewesen zu sein schien“. Mit dieser Kampfansage an die Fake-News- und Faktenverdreher tritt der Erziehungswissenschaftler von der TU Kaiserslautern, Rolf Arnold, als Vertreter des pädagogisch-didaktischen Konstruktivismus an, das in der Aufklärung errungene Bewusstsein im Spannungsboden hin zur Systemtheorie zu entwickeln. Dazu ist die Bereitschaft und Fähigkeit zur Selbstaufklärung, Selbstausrichtung und Selbstveränderung notwendig. Das Dilemma freilich besteht darin, dass es meist sehr leicht und einfach ist, „Faktisches zu behaupten, wo bloß Perspektivisches zu haben ist, was nicht zuletzt eine Reduktion der Komplexität hervorbringt, die durchaus Parallelen zu den Vereinfachungen der im Populismus zu Recht kritisierten Behauptungswahrheiten aufweist“. Diese (scheinbare) Widersprüchlichkeit gilt es, sich bewusst zu machen.
Aufbau und Inhalt
Mit sechs Argumentationslinien baut der Autor seine Auseinandersetzung mit dem rechten, ethnischen, fundamentalistischen und den kritischen Populismus auf. Bei den Texten greift er auf bereits publizierte Veröffentlichungen zurück.
- „Popularisierung gegen Populismus?“ ist die erste Frage;
- „Wie faktisch ist die Wirklichkeit?“ die zweite.
- Im dritten Strang geht es um die Auseinandersetzung um „Aufklärung: Die Karriere der Vernunft“;
- im vierten erfolgen praktische Zugänge zur „spürenden Vernunft“;
- im fünften werden „Wege aus der Gewissensfalle“ aufgezeigt und „Muster des Umgangs mit Ungewissheiten“ entwickelt;
- und im sechsten und letzten Abschnitt geht es um „Auswege aus der Unvernunft“.
Es sind die Imponderabilien, die scheinbares und tatsächliches Faktenwissen so schwierig unterscheidbar machen. Denn die Suche nach der Wahrheit ist ein seltsames Ding, das nicht ohne Selbststabilität, Selbstverständnis und einer ständigen, sich verändernden Identitätssuche zu finden ist. „Schwaches Denken“ nimmt hin, was scheinbar ist, ohne sich des kritischen Bewusstseins zu bedienen.
Um dieses Problem dreht sich im Ausruf „Ach, die Fakten!“ das Bemühen des Autors. Er baut es in zehn Schritten auf, denen er die jeweils in einem Fragekasten eingeschmolzenen Bedingungen und Konsequenzen zur Vermeidung des schwachen Denkens formuliert: Akzeptanz – Beteiligung – Selbstbeteiligung – Uneindeutigkeit – Strukturdeterminiertheit – Zirkularität – Interesse – Weltbildstatus – Reflexivität – Kontemplation. Die sich den jeweiligen Postulaten anschließenden Fragen an die Leserschaft laden ein zum Selbst- und Mitdenken und zur Obacht, nicht Andere für sich denken zu lassen (Karl Heinz Bohrer).
Die Vertracktheiten, wie sie sich bei den Fragen um Wirklichkeiten, Selbstverständlichkeiten, Risiken, Zufälligkeiten und Paradoxien ergeben, werden ja phänomenologisch, literarisch und alltäglich immer wieder bedacht: „Ist ein Tisch ein Tisch?“, oder ergibt die eine, mögliche Antwort: „Ein Tisch ist ein Tisch, ist ein Tisch, ist ein Tisch“ Erkenntnis? Welche Antworten und Lösungen sind dabei denkbar? Und zwar sowohl für das individuelle, als auch für das Weltbewusstsein: „Wenn das faktenbezogene Erkennen sowohl von der Strukturdeterminiertheit des Gegenübers und der mit dieser möglichen Resonanz absieht als auch die sich im Erkennen ausdrückende Kontingenz der Perspektive übersieht und die Dinge einfach… auf den Begriff bringt und mitteilt sowie überliefert, dann verlieren diese ‚Fakten‘ viel von der notwendigen Resonanz, um als Fakten überhaupt wirksam werden zu können“. Es liegt auf der Hand (im Mund und im Gestus), dass „Faktensprechen“ mental, bestimmend und streuend, direkt und indirekt, emotional und rational determiniert ist. Die Kommunikationswissenschaftler und Hermeneutiker bezeichnen diese Reaktion als „metafaktische Reflexion“. Es ist die systemische Annahme, dass „alles, was wir wissen können, sprachlich induziert zu sein scheint“. Es sind die populären Erkenntnisse, dass die Dinge und Situationen (aktuell) nicht mehr das sind, was sie einmal waren, die sich im Zustand von Unsicherheit, Unbestimmtheit und Undeutlichkeit äußern und veränderungs- und wandlungsunfähige Einstellungen und Haltungen äußern: „Das haben wir schon immer so gemacht“ – „Das haben wir noch nie so gemacht!“ – „Da könnte ja jeder kommen!“. Die Bestärkungen und Bestätigungen dieses Denkens und Tuns führen in die verführerische und bequeme „Kontinuitätsfalle“; wie auf der anderen Seite die „Fallstricke der Evidenz“ bewirken können, dass gegenwartsbezogenes, in die Zukunft projiziertes „Noch-nicht“Faktenwissen Phantasmen und Illusionen produziert.
Fazit
Das „schwache Denken“ erleben wir als Fingerzeig, bei dem drei Finger auf einem selbst zurückverweisen. Es ist deshalb angezeigt zu erkennen, das Wissen ohne Fakten nicht möglich ist; gleichzeitig aber auch, dass „weiche“ und „harte“ Fakten richtig oder falsch, ehrlich oder manipuliert, evident oder ideologisiert sein können. Wie kommt man aus dem Dilemma heraus? Mit der „Beobachtungstheorie, die der eigenen Beobachtung systematisch misstraut. Die Beobachtung wird dabei zur Selbstbeobachtung, und die Kritik bleibt in ihrem Kern Selbstkritik“. Der als „Pionier des pädagogisch-didaktischen Konstruktivismus“ benannte Erziehungswissenschaftler Rolf Arnold führt mit seinen gesammelten Texten nicht in erster Linie ein Duell gegen die Kakophonisten der Fake-News-Ära; dazu gibt es mittlerweile zahlreiche, seriöse und überzeugende gesellschaftswissenschaftliche Entgegnungen ( vgl. z.B.: www.sozial.de/fake-news.html ); es geht ihm vielmehr darum, „schwaches“ und „starkes“ Denken erkenntnistheoretisch, reflexiv und systemisch aus dem historischen, geisteswissenschaftlichen Diskurs herzuleiten und mit der öffentlichen Debatte um „Fake News“ und Populismus zu konfrontieren. Die zehn „Observer-Checks“ können dazu beitragen, die ideologisierten Provokationen und Aggressionen um „Fakten“ zu versachlichen, aus dem Bauch, von den Fäusten und dem Aus- der- Hand-Schütteln in den Kopf zu bringen!
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 28.03.2018 zu:
Rolf Arnold: Ach, die Fakten! Wider den Aufstand des schwachen Denkens. Carl-Auer Verlag GmbH
(Heidelberg) 2018.
ISBN 978-3-8497-0226-7.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/23890.php, Datum des Zugriffs 08.12.2024.
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