Martin Lemme, Bruno Körner: Neue Autorität in Haltung und Handlung
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 27.03.2018

Martin Lemme, Bruno Körner: Neue Autorität in Haltung und Handlung. Ein Leitfaden für Pädagogik und Beratung. Carl-Auer Verlag GmbH (Heidelberg) 2018. 240 Seiten. ISBN 978-3-8497-0221-2. D: 27,95 EUR, A: 28,80 EUR.
Führung und Neue Autorität – für eine Pädagogik des Vertrauens
Im pädagogischen Diskurs haben die aus der römischen Staatslehre stammenden Begriffe „auctoritas“ und „potestas“, übersetzt als „Autorität“ und „Macht“ immer schon eine herausragende und für die Theorie und Praxis von Bildung und Erziehung prägende Bedeutung. Sie stellt sich dar in der Entwicklung und Darstellung von Erziehungsstilen und -maßnahmen, wie sie z.B. mit dem Repertorium von Klaus Schaller 1968 ganze Lehrergenerationen beeinflusst haben. Legitime und illegitime Autoritäten stehen auf dem pädagogischen Prüfstand; legitime Machtausübung im Schaufenster und Machtmissbrauch am Pranger. Wie nicht anders zu erwarten, unterliegen die Vorstellungen von und Forderungen an die individuellen und kollektiven Einstellungen und Haltungen gesellschaftlichen Wandlungs- und Veränderungsprozessen. Diese werden von den einen begrüßt und gutgeheißen, von den anderen gefürchtet und abgelehnt. Der Streit um Auctoritas und Potestas bleibt und drückt sich in den Forderungen Selbstständigkeit versus Unterordnung, Anpassung versus Widerstand, Selbst- oder Fremdbestimmung, Frontal- oder Gruppenunterricht… aus.
Entstehungshintergrund und Autorenteam
Die Positionsbestimmungen in den Erziehungswissenschaften chargieren eher unversöhnlich denn ausgleichend und kooperierend zwischen den geisteswissenschaftlichen, transzendental-philosophischen und -kritischen, prinzipienwissenschaftlichen Disziplinen (Marian Heitger) einerseits und den empirisch-natur- und gesellschaftswissenschaftlichen andererseits (vgl. z.B. dazu: Reinhard Mehring, Die Erfindung der Freiheit. Vom Aufstieg und Fall der Philosophischen Pädagogik, 2018, www.socialnet.de/rezensionen/24040.php). Da könnte es sein, dass der neue (alte?) Ansatz der „Systemischen Pädagogik“ zwar nicht als „Auslöscher“, so doch als „Ausputzer“ dienen könnte.
Der „systemische Blick“, wie er von der Systemischen Pädagogik beansprucht wird, richtet sich „ganzheitlich“ auf das Bildungs- und Erziehungsgeschehen. Der Educandus, insbesondere das Kind, wird sowohl in seinem individuellen, insbesondere aber auch in seinem kollektiven Dasein betrachtet. Im Eingebundensein in Familie, Verwandtschaft, Freundeskreis, Kita und Schule vollziehen sich gegenseitig wirkende Einflüsse und Prägungen und bewirken Identitätsbildung und Veränderung. Insbesondere der Carl-Auer Verlag widmet sich mit der „gelben“ Reihe der Publikation von theoretischen und praktischen Schriften zur Systemischen Pädagogik. Es liegt auf der Hand, dass sich die Aufmerksamkeit besonders auf den ausführenden, konkreten und aktuellen Erziehungsakt fokussiert. So bilden Schriften zur Erziehungsberatung, zum Coaching, zur Aus- und Fortbildung einen Schwerpunkt.
Der israelische Psychologe Haim Omer hat das Erziehungskonzept „Neue Autorität“ entwickelt. Dabei wird Erziehungsverantwortung nicht mehr mit den Prinzipen Distanz, Kontrolle, Strafe und direktes Handeln verstanden, sondern durch Präsenz, Selbstkontrolle, Transparenz, Beharrlichkeit und Standhaftigkeit ersetzt. Seine in der klinischen und Beratungspraxis entwickelten und erprobten Ideen werden vom an der Universität Witten-Herdecke tätigen Psychologen Arist von Schlippe, der gleichzeitig Mitherausgeber der Fachzeitschrift „Familiendynamik“ ist, im deutschsprachigen, pädagogischen Diskurs eingebracht. Der Psychologe und Therapeut Martin Lemme und der Sozialpädagoge und Familientherapeut Bruno Körner, die beide im Systemischen Institut für Neue Autorität (SyNA) in Bramsche bei Osnabrück tätig sind, praktizieren das Omersche Konzept der Präsenz und variieren es für die praktische Anwendung mit der Theorie des „Adultismus“, der Forderung, die Machtungleichheit zwischen Kindern und Erwachsenen aufzuheben und damit Diskriminierung, Hierarchisierung und Ungleichbehandlung zu verhindern. Lemme und Körner stellen in ihren Informations- und Fortbildungsveranstaltungen und bei Beratungssituationen fest, dass sich bei der Vermittlung des Konzepts „Neue Autorität“ Eindrücke einstellen, dass es sich „leicht“ in die Praxis umsetzen lasse; es sich jedoch bei der Anwendung und Umsetzung als schwierig herausstelle. Diese Hürden wollen die Autoren mit ihrem Leitfaden überwinden.
Aufbau und Inhalt
Neben dem Vorwort von Haim Omer, indem er insbesondere die Weiterentwicklung seines Konzepts betont, und der Einleitung durch die Autoren, wird das Handbuch in vier Kapitel gegliedert. Im ersten werden die Eckpunkte und Grundlagen des Konzepts der Neuen Autorität als prozessorientierender Leitfaden dargestellt. Im zweiten wird der Schlüsselbegriff „Wachsame Sorge“ als situationsbewusste Herausforderung beim institutionalisierten Bildungs- und Erziehungsprozess vermittelt. Im dritten werden mit der Aufforderung „In Führung gehen!“ die verschiedenen Anforderungen an Präsenz thematisiert, und im vierten Kapitel wird die Weiterentwicklung der Neuen Autorität-Praxis in Verbindung mit dem Coaching- und Therapiekonzept der „Prozess- und Embodimentfokussierten Psychologie“ (PEP) vorgestellt.
Es sind die pädagogischen Kriterien „Schutz und Sicherheit“, die im Erziehungsprozess bedeutsam sind. Anhand von Fallbeispielen werden Fragen gestellt, wie: „Wer oder was braucht Schutz?“ – „Wer oder was eskaliert?“ – „Worum geht es?“ – „Welche Bedürfnisse und Motivationen sind erkennbar?“ – „Wie wirkt sich Präsenz aus?“ – „Welche Interventionen sind notwendig?“ – „Wie kann es weiter gehen?“. Es sind hilfreiche Vorschläge und Anregungen, die sichtlich und nachvollziehbar aus der Erfahrungspraxis der Autoren kommen, die beim Leser in vielerlei Hinsicht Aha-Erlebnisse bringen, die Lust zum Ausprobieren steigern und zum Perspektivenwechsel herausfordern.
Der Anspruch „wachsame Sorge“ im Erziehungsverhalten zu zeigen, wird ja im Aufklärungs-, Bildungs- und Erziehungsdiskurs mit Werten und Verhaltensweisen wie „Aufmerksamkeit“, „Achtsamkeit“, „Aufrichtigkeit“, „Resilienz“, „Nachhaltigkeit“, „Kommunikations- und Kooperationsfähigkeit“ … belegt (vgl. auch: Jörg Schlömerkemper, Pädagogische Prozesse in antinomischer Deutung. Begriffliche Klärungen und Entwürfe für Lernen und Lehren, 2017, www.socialnet.de/rezensionen/23045.php). Mit der Aufforderung „In Führung gehen!“ werden die für ein systemisches Bewusstsein wichtigen Autoritätsaspekte diskutiert, die sich als empathische, dialogische, internale, interpersonale, moralische, deeskalierende, unterstützende und pragmatische Präsenz darstellen und wirksam werden.
Wo Konzepte, Haltungen und Einstellungen erfolgreich im Sinne eines humanen, gerechten und gleichberechtigten Erziehungsverhaltens sind, braucht es deren reflektierte, erfahrungsbedingte Weiterentwicklung und Vervollständigung. Lemme und Körner erproben deshalb bei der Verwendung des Neue-Autoritäts-Konzepts die psychologische und psychoanalytische Technik der „Prozess- und Embodimentfokussierten Psychologie“, wie sie im Rahmen der „bifokal-multisensorischen Interventionstechniken“ (MBSI) 2010 vom Langenhagener Psychiater und Sachbuchautor Michael Bohne eingeführt wurde. Sie findet in der Neuen Autorität ihre Anwendung in den Interventionen „Verantwortung übernehmen!“, „Blockaden aufbrechen!“ und „Hoffnung vermitteln!“.
Im Anhang des Leitfadens werden die Arbeitsblätter „Präsenzskalierung“, „Präsenz-Interview“, die „3+1-Körbe-Methode“ und „Netzwerkgedanken“ abgedruckt. Sie lassen sich bei den unterschiedlichen Beratungs- und Coaching-Situationen sowohl direkt einsetzen, als auch verändernd und angepasst für den jeweiligen Anlass variieren.
Fazit
Die „Systemische Pädagogik“ und in diesem Rahmen die Technik „Neue Autorität“ bieten für die individuellen und institutionalisierten Erziehungsprozesse praktische Hilfen und theorie- und praxisbasiertes Wissen über die relevanten und bestimmenden Aspekte von auctoritas und potestas an. Es sind die aus den pädagogischen, psychologischen und psychoanalytischen Praxen entstandenen und erprobten Erfahrungen, die den Leitfaden wertvoll und hilfreich für Eltern, LehrerInnen, SozialpädagogInnen, Studierende und Erziehungsberechtigte machen!
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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