Ann Wiesental: Antisexistische Awareness
Rezensiert von Prof. Dr. Heinz-Jürgen Voß, 13.03.2018

Ann Wiesental: Antisexistische Awareness. Ein Handbuch. Unrast Verlag (Münster) 2017. 163 Seiten. ISBN 978-3-89771-310-9. D: 12,80 EUR, A: 13,20 EUR.
Thema
Das Buch „Antisexistische Awareness“ ist eine praxistaugliche Handreichung, die die Unterstützungsarbeit für Betroffene von sexualisierter Gewalt und sexistischer Diskriminierung konkret und bündig für die verschiedenen Handlungsfelder vorstellt. Im Zentrum des Buches steht die Praxis, wobei die Sicht der Betroffenen zentral gesetzt ist. Von dieser Perspektive ausgehend werden Vorschläge für die Unterstützungsarbeit unterbreitet, ebenso für organisatorische Abläufe bei Festivals und Partys. Aber auch die Transformationsarbeit mit Täter*innen, damit sie ihr übergriffiges Verhalten einsehen und in Zukunft unterlassen können, wird thematisiert.
Autorin und Entstehungshintergrund
Ann Wiesental lebt in Berlin und organisiert seit 2007 Konferenzen und Workshops zu „Antisexistischen Praxen“, in denen sie Unterstützungsarbeit für Betroffene sexualisierter Gewalt, Trauma, Trans*diskriminierung, Sexismus – gerade im Hinblick auf Awareness – thematisiert. Darüber hinaus beschäftigt sich Wiesental mit „feministischem Materialismus“, im Anschluss an eine marxistische Perspektive.
Aufbau
Das Buch ist praxistauglich angelegt. Zudem wurde bei der Erstellung auf Leser*innenfreundlichkeit und Handhabbarkeit geachtet, was sich neben der Strukturierung auch in der den Lesefluss nicht störenden Zitation und einer möglichst verständlich gehaltenen Sprache zeigt. Das Inhaltsverzeichnis:
- Awareness, wie alles begann!
- Awareness praktisch – die Veränderung beginnt zwischen uns
- Aufgaben und Formen der Awareness: Partys, Festivals, Konferenzen, Polit-Camps
- Unterstützung geben – der Erstkontakt
- Transformative Arbeit mit gewaltausübenden Personen
- Intersektionalität
- Definitionsmacht und Parteilichkeit
- Einflüsse aus den USA – Community Accountability
- Konsensuale Sexualität
- Betroffen_e wollen Verschiedenes
- Trauma
- Knackpunkte und Stolpersteine
- Zum Weitermachen
Inhalt
Das Buch folgt einem klaren Ablauf, wie er sich auch in der Praxis zeigen kann. Entsprechend schließt an eine nur kurze Einleitung und ein erstes historisches Kapitel direkt der Praxisteil an. Aber auch die ersten beiden Kapitel zielen schon auf die Nutzbarkeit in der Praxis. So werden in der Einleitung die notwendigen Definitionen gebracht – begonnen bei „Antisexistischer Awareness“: Sie „bezeichnet einen achtsamen und bewussten Umgang mit Betroffen_en von sexualisierter Gewalt und sexistischer Diskriminierung. Dies schließt eine Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Machtverhältnissen ein, denn Sexismus und sexualisierte Gewalt sind keine individuellen Einzelfälle, sondern Bestandteil und Ergebnis gesellschaftlicher Strukturen.“ (S. 7)
Auch gleich zu Beginn wird die Zielgruppe des Buches geklärt – und positioniert sich die Autorin selbst: „Dieses Buch richtet sich an alle, die sich für Antisexistische Praxen interessieren, die Sexismus entgegentreten wollen, die bei sexualisierter Gewalt, Grenzüberschreitungen und sexistischer Diskriminierung nicht wegschauen. Es bietet praktische Tipps für Betroffen_e von sexualisierter Gewalt und sexistischer Diskriminierung, für Unterstützer_innen, Awareness-Gruppen und Interessierte.“ (Ebd.) Dabei nimmt das Buch eine klar parteiliche Haltung auf Seiten der Betroffen_en ein und wird eine an klaren und starren Definitionen interessierte Debatte um Begrifflichkeiten abgelehnt. Vielmehr gelte das Selbstbestimmungsrecht der Person und bestimmten die Betroffenen selbst, welche Handlung sie als Gewalt ansähen.
Wiesental kennzeichnet sich selbst als Betroffene sexualisierter Gewalt, „die Jahre gebraucht hat, ihre eigene Geschichte zu entdecken und Menschen und Orte zu finden, wo einer zugehört wird und es Wohlwollen und Anerkennung gibt.“ (S. 8) Gleichzeitig weist sie darauf hin, dass sie „als weiß-deutsch[e], abled und cis-Person […] einen großen Teil der Machtverhältnisse und ihr Zusammenwirken vom eigenen Erleben her nie durchdringen werde“ (ebd.). Diese Betonung einer begrenzten Perspektive, die Raum für weitere Sichtweisen und Erfahrungen eröffnet, kennzeichnet das gesamte Buch.
Nach den Definitionen wird ein knapper historischer Überblick gegeben, bei dem die von Schwarzen Frauen beschriebenen Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt und sexistischer Diskriminierung im Fokus stehen. Hier greift die Autorin auf die Arbeiten von Angela Davis, Bell Hooks und Deborah King zurück – an anderer Stelle weist sie etwa auch auf den von Katharina Oguntoye et al. 1986 herausgegebenen Band „Farbe bekennen“ hin, den „Auftaktband“ der Schwarzen deutschen Frauenbewegung.
Die weiteren geschichtlichen Beschreibungen – jeweils gerafft auf etwa einer sehr fundierten und lesbaren Seite – beziehen sich auf die zweite Frauenbewegung, die wiederum zur Schwarzen deutschen Frauenbewegung kontextualisiert wird, auf die Geschichte der Beratungsstrukturen für von sexualisierter Gewalt betroffene Frauen (u.a. mit Blick auf die Geschichte der Betroffenenberatungsstellen Wildwasser) sowie auf die Geschichte der Beratungsstrukturen für von sexualisierter Gewalt betroffene Männer (u.a. Tauwetter). Der „Gender turn“ – Fragen zur gesellschaftlichen Konstruiertheit von Geschlecht – wird für das Thema produktiv aufgegriffen und schließt den historisch fokussierten Teil ab.
Im weiteren Verlauf des Buches geht es um ganz praktische Situationen, für die jeweils Anregungen zu Vorgehensweisen gegeben werden. Wiesental betont dabei, dass eine Haltung der „Selbstermächtigung und Unterstützung von Betroffen_en“ immer auch eine gesellschaftliche Reflexion von Macht- und Herrschaftsverhältnissen einschließen müsse (S. 27). Die Strukturierung der Kapitel erfolgt entlang geläufiger Problemlagen und in Gruppen geteilter Vorannahmen. So thematisiert Wiesental unter der Überschrift „Annahmen verändern“ zunächst gängige Vorannahmen, die bei der Thematisierung von Sexismus und sexualisierter Gewalt im Raum stehen, etwa: „Meine Freunde sind nicht sexistisch oder gewalttätig“ und „Wenn mir eine Sexismus oder sexistische Diskriminierung vorwirft, dann bin ich überall unten durch“ (S. 28f). Jeder der Vorannahmen wird ein kurzer Absatz gewidmet, sodass sich das Buch auch als eine Art Nachschlagewerk anbietet – Wie kann ich agieren? Wie gehe ich gut vor? Wo bekomme ich Unterstützung? Bei der Frage um die Entwicklung einer eigenen Haltung erläutert die Autorin auch, dass es um eigene Positionierung geht und auch um Selbstreflexion. Auch eine unterstützende Person kann – unreflektiert – übergriffig agieren, etwa weil sich eine weiße Person nicht ausreichend mit Rassismus und Antisemitismus auseinandergesetzt hat.
Die Kapitel 3 und 4 geben Hinweise für die konkrete Awareness-Arbeit bei Partys und auf Festivals und erläutern in Grundzügen, wie von Sexismus und sexualisierter Gewalt betroffene Personen gut unterstützt werden können. Zentral ist: Nichts passiert ohne die ausdrückliche Zustimmung der betroffenen Person. Wiesental hat hier die zentralen Prämissen der Unterstützungsarbeit für Betroffene im Blick – und auch die Grenzen, die sich in dieser Arbeit ergeben können. Im sich anschließenden Kapitel 5 werden Möglichkeiten (und Grenzen) der Transformationsarbeit mit der Person, von der der Sexismus bzw. die sexualisierte Gewalt ausging, thematisiert. Dies geschieht ebenfalls kleinteilig und praxisnah. Auch hier gehen die zentralen Prämissen der entsprechenden professionellen Arbeit in die Darstellungen ein. So werden konkrete Möglichkeiten zur Bearbeitung des Übergriffs mit der grenzüberschreitenden Person thematisiert, die an die Haltung anschließen: Ich lehne deine Tat ab, aber nicht dich als Person.
Definitionsmacht-Konzepte, zu denen es unterschiedliche Positionierungen gibt, da sie verschiedentlich als einer ordentlichen Gerichtsbarkeit vorweggenommene juristische Verurteilungen kritisiert werden, werden im Anschluss erläutert. Zentral wird auch hier thematisiert, dass die von Sexismus oder sexualisierter Gewalt betroffene Person im Fokus stehen und Situationen entstehen sollten, in denen sie sich weiterhin an den Orten bewegen kann, die sie auch vor dem Übergriff regelmäßig aufgesucht hat. Damit soll vermieden werden, dass sie Orte meidet, weil sie befürchten muss, mit der übergriffigen Person in Kontakt zu kommen. Wiesental diskutiert aber auch einige Kritikpunkte an Definitionsmacht-Konzepten und ermöglicht der_dem Leser_in damit eine reflektierte eigene Positionierung.
Die folgenden Kapitel wenden sich explizit Fragen der Intersektionalität, der Parteilichkeit, Fragen zu Traumata und „Stolpersteinen“ in der Unterstützungsarbeit zu. Die Autorin hebt hervor, dass Betroffene von Sexismus und sexualisierter Gewalt jeweils Unterschiedliches wollen können – und dass sie zentral sein müssten. Gleichzeitig weist Wiesental darauf hin, dass auch die Doktrin „Nichts ohne das Wollen der Betroffenen“ scheitern kann, gerade wenn aufgrund deutlich geäußerter Suizidabsichten professionelle medizinische Unterstützung hinzugezogen werden soll. Wiesental regt an, sich nicht von aufscheinenden Problemen gleich abschrecken zu lassen, sondern sich einfach auf den Weg zu machen, antisexistische Awareness-Arbeit durchzuführen. Entsprechend schließt sie mit dem Kapitel „Zum Weitermachen“.
Einordnung und Fazit
Nach Ursula Enders Buch „Grenzen achten“ ist das hier vorliegende Buch „Antisexistische Awareness“ ein unbedingtes Muss für die Arbeit zur Prävention vor sexualisierter Gewalt. Es handelt sich um ein fundiertes Buch, das den Einsichten der professionellen Unterstützungsarbeit für von sexualisierter Gewalt Betroffene Rechnung trägt, und zugleich um ein handhabbares, praxistaugliches Buch, das gut strukturiert und in einer guten Lesbarkeit praxisnahe Hilfestellung bietet. Positiv anzumerken ist auch die Reflektiertheit hinsichtlich Rassismus und Intersektionalität, mit der deutlich wird, dass Personen of Color, die von Sexismus und sexualisierter Gewalt betroffen sind, möglicherweise auch von Seiten der Awareness-Gruppe Übergriffe erfahren können – rassistische und antisemitische. Damit werden weitere Strukturen eingefordert, die intersektionale Awareness-Arbeit gewährleisten. Es wären auch endlich zumindest in allen größeren Städten entsprechende intersektional fundierte, finanzierte Beratungsstellen zu sexualisierter Gewalt erforderlich!
Es handelt sich also um ein äußerst empfehlenswertes Buch, das sowohl für subkulturelle Kontexte geeignet ist, als auch für die wissenschaftliche Fachdebatte – so können praxistaugliche Handreichungen aussehen. Schließlich möchte ich auf Kapitel 9 des Buches hinweisen: Denn bei aller Thematisierung von Sexismus, sexualisierter Gewalt und insgesamt Übergriffen zeigt Wiesental, dass der geschlechtliche und sexuelle Umgang der Menschen miteinander – konsensual – lustbringend und erfüllend sein soll und kann. Durch die Thematisierung von Übergriffen solle die Freude an lustvoller Sexualität nicht verlorengehen.
Rezension von
Prof. Dr. Heinz-Jürgen Voß
Professur Sexualwissenschaft und sexuelle Bildung
Hochschule Merseburg
FB Soziale Arbeit. Medien. Kultur
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