Kurt Starke: Varianten der Sexualität
Rezensiert von Prof. Dr. Heinz-Jürgen Voß, 13.03.2018

Kurt Starke: Varianten der Sexualität. Studien in Ost- und Westdeutschland. Pabst Science Publishers (Lengerich) 2017. 223 Seiten. ISBN 978-3-95853-308-0. D: 20,00 EUR, A: 20,60 EUR.
Thema
Der Band „Varianten der Sexualität“ liefert eine Zusammenschau empirischer Daten zur Sexualität Jugendlicher und Erwachsener. Dabei werden Studien aus Ost- und Westdeutschland miteinander kontextualisiert.
Herausgeber_innen
Kurt Starke, Prof. em., ist Soziologe und Sexualwissenschaftler. Als Leiter des Zentralinstituts für Jugendforschung und Professor an der Universität Leipzig initiierte er mehrere sexualwissenschaftliche Untersuchungen in der DDR, später im vereinigten Deutschland.
Entstehungshintergrund
Der vorliegende Band bündelt die gewonnenen Erkenntnisse vorliegender Untersuchungen. Dazu versammelt er Texte, die zwischen 1993 und 2017 entstanden sind, einige wurden bereits zuvor publiziert, andere liegen hier erstmals veröffentlicht vor.
Aufbau
Die bereits publizierten und die für diesen Band neu verfassten Texte sind sorgfältig aufeinander abgestimmt. So zeigen sich zwischen den einzelnen Kapiteln keine Brüche, sondern sie bauen aufeinander auf, sodass nach und nach ein Gesamtüberblick über die sexualwissenschaftlichen Befunde in Ost- und Westdeutschland entsteht. Das Inhaltsverzeichnis:
- Die große Liebe
- Sexueller Mißbrauch und Persönlichkeitsfindung
- Wi(e)der das sexuelle Begehren
- Aspekte erektiler Dysfunktion
- Die ungewöhnlich gewöhnliche Sexualität in der DDR
- Die Wiederentdeckung des heterosexuellen Mannes
- Familienplanung von Lesben
- Funktionswandel der Sexualität: Die Nähefunktion
- In oder out. Partnerschaft und Familie heute
- Sexualität bei chronischen Erkrankungen
- Was Liebe vermag
- Kummer mit Cumshot
- Das Konstrukt der Schädlichkeit von Pornografie
- Einstellung zu Homosexualität
- Sexuelle Grenzüberschreitungen in der Familie
- Der Indikator Liebe in der Sexualforschung
- Die Unsterblichkeit des Nacktheitstabus
Ein Literaturverzeichnis schließt den Band ab.
Inhalt und Würdigung
Kurt Starke gehört gewiss zu den ganz großen empirischen Sexualwissenschaftler*innen in der Bundesrepublik Deutschland. Mit besonderem Fokus auf Ostdeutschland und schließlich auch auf vergleichende Untersuchungen zwischen Ost- und Westdeutschland hat er in großen quantitativen Erhebungen und kleineren qualitativen Untersuchungen weitreichende Einsichten zum geschlechtlichen und sexuellen Tun von Jugendlichen und Erwachsenen gewonnen, wobei er sowohl Liebe und Partnerschaft als auch die heute besonders diskutierten Fragen um Grenzverletzungen und sexualisierte Gewalt im Blick hat. In den ersten Untersuchungen in geringerem Maße Thema, rücken in den späteren Studien – und im aktuellen Band – auch gerade Fragen um gleichgeschlechtliches Begehren und gleichgeschlechtlichen Sex in den Fokus. Auch Benachteiligungen spielen eine Rolle.
Hier soll eine Gesamtwürdigung des Bandes, hingegen keine detaillierte Diskussion aller Daten erfolgen. Das Buch ist gerade durch den Gesamtüberblick erhellend. Mit der Lektüre ergibt sich nach und nach ein immer klareres Bild der sexuellen Verhältnisse in der DDR und in der Bundesrepublik Deutschland – Ost und West.
Dabei gibt der Band Einblicke in vielfältige Themenbereiche, die gesellschaftlich mit Fragen um Sexualität verbunden sind – jeweils fundiert unterlegt mit Datenmaterial, wobei die eigenen Daten im Verhältnis mit denen anderer Forschungsgruppen betrachtet werden. Zentraler Ausgangspunkt ist „die Liebe“, die Kurt Starke durch den gesamten Band hindurch bewegt. Fokussiert er in den für „die Liebe“ zentralen Kapiteln eins, elf und 16 auf andersgeschlechtliche Partnerschaften im Hinblick auf ihre Anbahnung, die Dauer und den Verlauf, so wendet er sich in weiteren Kapiteln auch explizit gleichgeschlechtlichen Beziehungen und den Einstellungen in der Bevölkerung zu „Homosexualität“ zu. Den Ergebnissen von Kapitel sieben zur „Familienplanung von Lesben“ liegt dabei eine Fragebogenstudie mit 192 ausgewerteten Fragebögen von Anfang der 1990er Jahre zu Grunde. Die vorgestellten Ergebnisse beziehen sich auf „Glück“, die präferierte Beziehungsgestaltung, das Vorhandensein von Kindern und den Umgang mit Männern. Die Daten zu den schwulen Erfahrungen wurden von Starke bereits – mit großer Reichweite – in der umfassenden Monographie „Schwuler Osten: Homosexuelle Männer in der DDR“ (1994) publiziert; die Daten zu den Lesben konnten hingegen nicht in gleichem Maße ausgewertet werden – „Es war einfach keine Förderung zu bekommen.“ (S. 85) Die gesellschaftlichen Einstellungen zu „Homosexualität“ diskutiert Starke im zeitlichen Verlauf – und er zeigt deutliche Veränderungen.
Auch die Forschungen zu sexualisierter Gewalt sind interessant: So geben die Befragten in den 1970er Jahren in deutlich geringerem Maße an, von sexualisierter Gewalt (hier im Sinne von Vergewaltigung oder versuchter Vergewaltigung) betroffen gewesen zu sein, als es in der späteren Untersuchung aus dem Jahr 1990 der Fall ist. Die Zahlen hatten sich von 13 % im Jahr 1972 bis zum Jahr 1990 mehr als verdoppelt. Von einer Person zu wissen, die von einer Vergewaltigung oder versuchten Vergewaltigung betroffen war, berichten hingegen schon 1972 30 % der Arbeiterinnen und 37 % der Studentinnen; ihre männlichen Kollegen bzw. Kommilitonen berichten zu jeweils 26 %, eine Person zu kennen, die von solcher sexualisierten Gewalt betroffen war. In der Reflexion der Daten wäre es für die heutige Forschung interessant, ob die stärkere gesellschaftliche Thematisierung sexualisierter Gewalt das Sprechen über eigene Erfahrungen erleichtert und daher in der angeführten späteren und in vergleichbaren aktuellen Studien eher angegeben wird, von sexualisierter Gewalt selbst betroffen gewesen zu sein, als es noch im Jahr 1972 der Fall war.
Die weiteren gesellschaftlichen und zudem heiß diskutierten Themen sind Pornografie-Nutzung durch Jugendliche und Nacktheit/FKK in der DDR. Hierzu liefern die von Starke vorgestellten Daten einen sachlich-fundierten und zudem nicht moralisch beladenen Einblick. Das Gleiche gilt für die weniger stark gesellschaftlich diskutierten medizinischen Themen, wie erektile Dysfunktion und den Einfluss chronischer Erkrankungen auf das sexuelle Erleben. Schließlich erläutert Starke im Verlauf des Bandes auch einige theoretische Grundlagen aktueller Sexualwissenschaft, so in Kapitel acht die Funktionen des Sexuellen im Umgang der Menschen untereinander.
Fazit
Das Buch „Varianten der Sexualität“ gibt einen guten Überblick über den empirischen sexualwissenschaftlichen Kenntnisstand. Es ist daher sehr als Lektüre zu empfehlen. Dabei werden auch die Defizite bisheriger sexualwissenschaftlicher Forschung – bundesweit – ersichtlich: Während das heterosexuelle Tun in zahlreichen Studien in allen erdenklichen Nuancen erhoben wurde (und wird), treten die Belange homosexuellen Begehrens und Tuns zurück – gerade Spezifika lesbischer und schwuler Subkultur und Beziehungs-/ Freundschaftsgestaltung kommen mit dem bisherigen Instrumentarium nur unzureichend in den Blick. Zu Begehren und sexueller Zufriedenheit, ggf. auch Selbstverortung, von Trans*-Personen gibt es ebenso kaum Daten. Fragen zu Auswirkungen von Klasse deuten sich in den von Starke vorgestellten Untersuchungen für die DDR im Hinblick auf Unterschiede zwischen Arbeiter*innen und Studierenden an; heute werden solche Fragen, wenn überhaupt, dann nur äußerst vorurteilsbeladen angegangen. Das gilt in der Sexualwissenschaft bislang auch in Bezug auf Rassismus.
Rezension von
Prof. Dr. Heinz-Jürgen Voß
Professur Sexualwissenschaft und sexuelle Bildung
Hochschule Merseburg
FB Soziale Arbeit. Medien. Kultur
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