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Stefan Müller, Wolfgang Sander (Hrsg.): Bildung in der postsäkularen Gesellschaft

Rezensiert von Prof. Dr. Antje Roggenkamp, 26.09.2018

Cover Stefan Müller, Wolfgang Sander (Hrsg.): Bildung in der postsäkularen Gesellschaft ISBN 978-3-7799-3819-4

Stefan Müller, Wolfgang Sander (Hrsg.): Bildung in der postsäkularen Gesellschaft. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2018. 263 Seiten. ISBN 978-3-7799-3819-4. D: 29,95 EUR, A: 30,80 EUR, CH: 40,10 sFr.

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Thema

Der Sammelband thematisiert domänenspezifische Konsequenzen in Sozialwissenschaften, Theologien, Religionswissenschaften, Pädagogik und Geschichte, die sich aus dem globalen Erstarken des Themas Religion für die „postsäkulare Gesellschaft“ (Habermas) ergeben. Dieser Paradigmenwechsel hat weitgehenden Einfluss auf einzelne Segmente der Gesellschaften, insbesondere aber auf den religiösen Bildungsbereich.

Herausgeber

Stefan Müller vertritt die Qualifikationsprofessur für Didaktik der Sozialwissenschaften an der Universität Gießen.

Wolfgang Sander ist Professor für die Didaktik der Sozialwissenschaften ebendort.

Entstehungshintergrund

Der vorliegende Sammelband ist aus einer Ringvorlesung heraus entstanden, die im Sommersemester 2016 am Wirkungsort der Herausgeber stattfand. Der Kreis der Referenten wurde für die Publikation um einzelne Autorinnen und Autoren erweitert.

Aufbau

Der Sammelband enthält eine umfangreiche Einleitung sowie Beiträge aus verschiedenen Disziplinen (u.a. Soziologie, Pädagogik, Geschichte, Religionswissenschaften, Philosophie, Theologie).

  1. Ein erster Teil ist der Bestimmung, Beschreibung und Darstellung der postsäkularen Gesellschaft sowie der Kritik am Säkularismus gewidmet.
  2. Ein zweiter Teil befasst sich mit Bildung in der postsäkularen Gesellschaft.

Ein Autorinnen- und Autorenverzeichnis schließt sich an. Die Deutsche Nationalbibliothek bietet Einblick in das vollständige Inhaltsverzeichnis.

Zur Einleitung

Die wissenschaftliche Beschäftigung mit Religion wird nicht nur – so die Herausgeber in der Einleitung (7-17) – von Theologien, Judaistik, Islam- oder Religionswissenschaften unternommen, sondern zunehmend auch in anderen Domänen bedeutsam. Im Hintergrund steht dabei die Einsicht, dass die gesellschaftliche Stellung von Religion nicht länger ausschließlich als Niedergang zu beschreiben ist, sondern auch als in Wandlung begriffen werden kann. Damit wird aber die Säkularisierungsthese sowohl in ihrer fortschrittsoptimistischen Deutung (Verdrängung von Religion) als auch in verfallstheoretischer Hinsicht (Enteignung der Religion) mindestens in Frage gestellt. Der Umgang mit Begriffen wie Säkularismus und Säkularität wandele sich, religionsfeindlicher Säkularismus rücke in eine Parallele zu religiösem Fundamentalismus, sodass Religion in Gestalt einer neuen Sensibilität für Zeit, Sterblichkeit und Sinn zu einem Thema wird, das alle Menschen betrifft, wenn es auch nicht immer bewusst wahrgenommen werde (16 f).

Zu Teil I

Karl Gabriel diskutiert in „Religion in der Weltgesellschaft“ (20-33) die Säkularisierungsthese: Die Frage, ob das Erstarken der Religion einem Wandel der westlichen Wahrnehmungsmuster oder aber einer faktischen Rückkehr des Religiösen geschuldet sei, lasse sich zwar nicht entscheiden. Die Globalisierung setze aber nationalstaatliche Grenzen zunehmend außer Kraft. Die Weltgesellschaft (Luhmann) zeichne sich durch einen Verlust an räumlichen und zeitlichen Distanzen, d.h. einem zunehmendem Einfluss supranationaler Institutionen, transnationaler Abkommen sowie von Nichtregierungsorganisationen aus. Während sich das (plural strukturierte) Religionssystem gegenüber den Ausschließungsmechanismen der übrigen Funktionssysteme als widerständig erweise – der Ausschluss aus der Religionsgemeinschaft erfolge zuletzt –, begegne man im Rahmen der Weltgesellschaft einer spezifischen Entwicklung: Pfingstkirchen und Islam tragen dazu bei, dass der Globalisierungsprozess den herkömmlichen religiösen Traditionen weltweit Bedeutung verschaffe. Europa beschreite dabei einen Sonderweg. Strittig sei allerdings, ob sich die Weltgesellschaft nach dem (amerikanischen) Vorbild einer globalen Zivilregion organisiere oder nach dem (europäischen) Modell einer Weltzivilgesellschaft, das die Religion integriere. Die gegenwärtige Entwicklung lasse sich auch als Homogenisierung und Pluralisierung fassen: Bestehe die Homogenisierung in der Transformation von Religion in ein Grenzen setzendes globales Bezugssystem, so entspreche der Pluralisierung eine Pluralität von Weltreligionen, die wiederum in religiöse und säkulare Deutungssysteme auseinandertreten.

Linus Hauser befasst sich mit „Neomythen. Formen des Religiösen in der Moderne“ (34-46) und knüpft dabei an säkulare Traditionen an. Er zeichnet zwei Grundbestimmtheiten des menschlichen Lebens nach: das Kontingenzbewusstsein, das sich als Bewusstsein von Endlichkeit bemerkbar macht, sowie den Lebensdurst, der sich als Kampf gegen die Endlichkeit begreifen lasse. Weltanschauung sei weder ganz bewusst, noch vollkommen schlüssig gestaltet, sondern bilde jene Spannung ab, aus der sie entstehe. Neomythen zeichnen diese Bewegung nach, sofern sie als ein „kulturelles und individuelles sich-Beziehen auf Endlichkeit“ (40) zu verstehen sind. Sie sind auf „Schaffung von Göttermenschen“ (40) aus und setzen ein Absehen von Radikalität, aber auch die Erwartung voraus, dass sie „durch das Handeln der Menschen oder anderer innerkosmischer Mächte“ aufgehoben werden. Neomythische Vorstellungen entstehen erst in der Moderne.

Elisa Klapheck setzt sich mit dem „Jüdische[n] Pluralismus in der säkularen Gesellschaft“ (47-60) auseinander. Der Ausdruck „postsäkular“ sei nicht neutral, da er zumeist von Personen gebraucht werde, die sich für die Fortexistenz von Religion nicht verantwortlich fühlen und Religion und Säkularität als Gegensätze auffassen. Dabei liegt gerade in der Verbindung ein spezifisches Potenzial: Ein Zugleich von religiösen und säkularen Traditionen kennzeichne insbesondere das Judentum. Die Säkularität des Judentums zeige sich in der Existenz von Midraschim und Talmud. Während der Midraschim als rabbinische Bibelexegese gelte, befasse sich der Talmud mit Gesetzesdiskussionen. Gesetze sind aber dann nicht geoffenbart, sondern sie entstehen aus dialogischem Streiten. Die säkulare Perspektive insistiert demgegenüber auf der Aushandlung der lebensweltlichen Bedeutung der hebräischen Bibel in der Gegenwart. Einen Gegensatz zu säkular bilde nicht das Adjektiv „religiös“, sondern der Ausdruck „theokratisch“ (50): die Schrift spreche den „Willen Gottes“ an. Gegenüber radikalen Formen von Religion, die sich in Israel als Reaktion auf die säkular-religiöse Ambivalenz der politischen Gründergestalten entwickelt habe, verweist Klapheck auf das demokratisierende Potenzial des Säkular-Religiösen. In Israel betreffe dies u.a. den (erfolgreichen) Kampf der „Women of the Wall“ um Zugang zur Klagemauer sowie die Einrichtung von Toraschulen, die „nicht nur orthodox-jüdischen Männern, sondern alle[n] interessierten israelischen Bürgerinnen und Bürgern“(53) offen stehen. In Deutschland legitimiere der Synagogenbesuch an hohen Festtagen die eigene Säkularität, er arbeite allerdings einer Spaltung in säkulare und zunehmend fundamentalistische Kreise zu. Dabei gehen im jüdisch-rabbinischen Diskurs eigentlich Demokratie und Säkularität aus der Religion hervor. Während dies spezifische Verhältnis im Deutschland des 19. und frühen 20. Jahrhunderts jüdische Politiker zum Einsatz für die Demokratie bewegen konnte, verlaufe die Konfliktlinie im 21. Jahrhundert zwischen religiös-säkularen und radikal-theokratischen Juden, die sich allerdings am Pluralismus der verschiedenen innerjüdischen Strömungen orientieren. Der europäische Diskurs über das Verhältnis der Religionen könnte von einer Orientierung an der religiös-säkularen Grundierung des Judentums profitieren; jene dürfe allerdings nicht ihrerseits postsäkular missverstanden werden.

Gudrun Krämer befasst sich mit dem „Islam in der (post-)säkularen Gesellschaft“ (61-80). Die Frage, ob Islam und säkulare Moderne kompatibel seien, diskutierte man in Deutschland und Europa lange Zeit mit Blick auf dessen normatives Fundament, den Koran, sowie hinsichtlich der Entwicklung, die sich in den Heimatländern der in Deutschland lebenden Musliminnen und Muslime vollzog. Die Stellung der Muslime in der postsäkularen Gesellschaft sei bislang wenig thematisiert worden, da das Konzept der postsäkularen Gesellschaft vergleichsweise jung sei und ein postsäkulares Verständnis von Religion sich sowohl als Bedeutungszunahme unterschiedlicher Religionen als auch als Emergenz einer spezifischen Religion verstehen lasse. Darüber hinaus sei das Konzept der Säkularität zu bedenken, da die Herkunftsländer keine fortschreitende Säkularisierung, wohl aber eine Islamisierung kennen. Spannungen ergeben sich aus einem einheitlichen Ideal islamischer Lehre sowie aus der Pluralität muslimischer Denk- und Lebensformen. Während der Begriff „Islam“ nicht zwingend eine spezifische Religionsgemeinschaft, sondern eine Haltung der „Hingabe“ (63) bezeichne, lasse sich der Koran mit „Lesung“ oder „Rezitation“ (63) übersetzen. Auch wenn der Koran als „göttliche Lehre im Wortlaut unantastbar“ (64) sei, habe es immer Koranexegese gegeben: von fundamentalistisch-wortgetreuen Auslegungen bis hin zu mystischen oder modernistischen Deutungen. Während sich eine epistemologische Lesart des Säkularen vor diesem Hintergrund auf die Wahrheitsbegründung u.a. in der Zugehörigkeit zu Religion und Kultus stütze, finden sich Akteure und Institutionen in einer doppelten Abgrenzung gegenüber klerikaler sowie militärisch-zivilgesellschaftlicher Ordnung vor. Die drei Dimensionen von Säkularität – funktionale Differenzierung, Privatisierung von Religion und Bedeutungsverlust von Religion – ließen sich idealtypisch auch auf den islamischen Kontext anwenden: die Einführung der Scharia als kodifizierter Rechtstext vollzog sich mit der Entstehung der National- und Territorialstaaten unter Ablehnung des als fremd empfundenen säkularen Prinzips; die Trennung von privat und öffentlich spiele etwa bei der Frage eines staatlicherseits geduldeten privaten Alkoholkonsums eine nicht unbedeutende Rolle; Säkularismus, der in der Türkei, im Irak, aber auch in Syrien auf autoritärem Wege durchgesetzt wurde, sei dafür verantwortlich, dass Säkularität nicht als intellektuelle Befreiung oder gesellschaftliche Befriedung verstanden, sondern mit dem Projekt einer kolonialen Moderne verbunden werde. Mit dem Koran oder der Sunna habe die Ablehnung von Säkularität und Säkularismus nichts zu tun. Nicht Einzelbestimmungen des Koran, sondern deren jeweiliger Nutzen „für Individuum und Gemeinschaft“ wäre unter veränderten Rahmenbedingungen erneut zur Sprache zu bringen.

Ansgar Kreutzer thematisiert „Theologische Vitalisierung durch Säkularisierung? Produktive Aufnahmen sozialen Wandels in der christlichen Theologie der Gegenwart“ (81-106). Mit Jürgen Habermas weist Kreutzer auf die Ansprüche, die die postsäkulare Gesellschaft an Religionen stellt. Jenseits inhaltlicher Ausrichtungen (Toleranz anderer Religionen, Anerkennung der wissenschaftlichen Autorität gesellschaftlichen Weltwissens und Bejahung des Verfassungsstaats) stellt er die Frage nach dem Reflexionsschub, der eine potentiell destruktive religiöse Kraft in rücksichtslos modernisierten Gesellschaften in humanitäres Potenzial umwandele (Habermas). Dass die Theologie aus diesem Konzept ausgeklammert sei, erstaune umso mehr als der deutsche Wissenschaftsrat 2010 die Bedeutung der christlichen, jüdischen und islamischen Theologien für die Gesellschaft aufgewiesen habe. Der Beitrag widmet sich der christlichen Theologie und fragt insbesondere nach der Perspektive, aus der heraus soziale Phänomene gedeutet werden. Die Frage nach konstruktiver „Theologie der Säkularisierung“ (83) wird auf spezifisch nationale Färbungen hin untersucht. So zentriere der deutsche Systematische Theologe Hans-Joachim Höhn seine Überlegungen auf den Raum von postreligiösen und postsäkularen Ansätzen. Die Gottesrede sei postreligiös (Nachleben des Begriffes) und postsäkular (die neue Rede von Gott diffundiere den Begriff) zugleich. Höhn stelle eine Gleichsetzung des Glaubens an Gottes innerweltliche Notwendigkeit sowie des Glaubens an Gott in Frage. Ersteres zu bestreiten sei theologisch inspirativ, insofern durch den Gegenbegriff, das Grundlose, die Unverfügbarkeit Gottes in Erinnerung gerufen werde. In der Auseinandersetzung mit der kritischen Bestreitung Gottes sei eine weitere konstitutive Möglichkeit christlicher Rede von Gott gegeben. Negative Theologie als instrumentalisierungsskeptische Reflexion könne dann der im Rahmen von Machbarkeitswahn erfolgenden, pathologischen Ausbeutung von Mensch und Welt (Ökonomisierung der Lebensführung, Ausbeutung der Natur, Selbstinstrumentalisierung durch Gentechnik) soziales und politisches Engagement entgegensetzen. – Der französische Systematische Theologe Christoph Theobald betreibe demgegenüber keine religionssoziologische Diagnostik, sondern kontextualisiere mit Danièle Hervieu-Léger den gesellschaftsanalytischen Befund der Dechristianisierung bzw. Deinstitutionalisierung: Zum einen habe sich die kulturelle Allianz von Christentum und Gesamtkultur aufgelöst, zum anderen hätten sämtliche Institutionen an Bedeutung eingebüßt. Wenn aber das eigene Überlegen der Kirche nicht mehr das wichtigste Ziel ist, ließe sie sich neu auf Gesellschaft und Evangelium hin ausrichten. Dieser Wandel wirke „christentumsproduktiv“ und „theologiegenerativ“ (91). Das Proprium des Christentums liege nicht länger in den Glaubensinhalten (Redoktrinalisierung), sondern auf der Ebene der Umsetzung in konkrete Lebensweisen, d.h. einen Stil der Gastfreundschaft. Die Offenbarung in Christus lasse sich auch als eine Form der Begegnung verstehen. Die Deinstitutionalisierung des Christentums wandele sich in biblisch verankerte (Kirchen-) Theologe unbedingter und unverzweckter Gastfreundschaft. Ähnlich wie Höhn nehme auch Theobald eine positive Umkodierung des Säkularisierungsprozesses vor. – Der tschechische Theologie Tomás Halík ist katholischer Priester und Professor für Soziologie. Er unterscheide drei verschiedene „Typen der Religiosität“ (96): stark dechristianisierte Gebiete, Relikte klassisch-christlicher Volkskirchlichkeit sowie eine offene, weder anti- noch volkskirchliche Religiosität, die er als scheue oder schüchterne Frömmigkeit, als Etwasismus bezeichnet. In seinen Essays widme sich Halík vor allem jenem letzten Typ, den er in eine Nähe zur amerikanischen Befreiungstheologie rücke, dabei allerdings eine andere Klientel supponiere: nicht die Armen, sondern die am institutionellen Rand von Kirche stehenden werden adressiert. Seine Theologie avisiere programmatisch die „Solidarität mit den Suchenden“ (98), er denke in Spannungen und Paradoxien und bette sein theologisches Denken in den Kontext der individualisierten und pluralisierten Gesellschaft ein. – Ging es Höhn um die politisch ausgerichtete Kritik an instrumentalistischer Mentalität, Theobald um die sozialethisch interpretierte Gastfreundschaft, so Halík um das spirituell verstandene „Leid“, insbesondere aber um „versteckte Schmerzen im Inneren der Menschen“ (101). Die drei Entwürfe stimmen darin überein, dass eine entsprechende Gesellschaftsdiagnostik theoriegenerierend wirke, soziologische Analysen integrierbar werden, den Wahrnehmungen des Säkularisierungsprozesses kulturoptimistisch begegnet werde und eine Wertschätzung der Praxis stattfinde. Religiösen Orientierungen komme weiterhin eine prägende Rolle bei der Ausbildung individueller und kollektiver Wertvorstellungen zu, die theologische Reflexion spiele auch in der modernen Gesellschaft eine erhebliche Rolle.

In „Versöhnung, Erlösung und die Sehnsucht nach dem ganz Anderen. Theologische Konzepte in der Kritischen Theorie der Gesellschaft“ (107-122) befasst sich Stefan Müller mit substrukturellen Bezugnahmen von Max Horkheimer und Theodor W. Habermas auf theologische Konzepte. Im Unterschied zu anderen gesellschaftskritischen Entwürfen ziehe die Kritische Theorie elementare theologische Denkfiguren wie „Versöhnung, Versöhnung und die Sehnsucht nach dem ganz Anderen“ (107) heran. Müller legt das theologische Potenzial von deren Umgang mit gesellschaftlichem Leiden offen. So bilden Leid bzw. Empörung über das Unrecht und Mitleid mit den Opfern eine für Horkheimer unhintergehbare Voraussetzung, die er mit der Sehnsucht nach dem ganz Anderen in Verbindung bringe. Beide Pole behalten den endlichen Menschen im Blick, der sich sowohl dem Guten als auch dem Leiden hingebe. Demgegenüber greife Adornos Konzept „negativer Dialektik“ die Sehnsucht nach dem ganz Anderen auf, fokussiere dabei aber die theologischen Elemente Erlösung und Versöhnung. Sein Ansatz verstehe Erlösung als prinzipielle Option für die Freiheit. Eine versöhnte Gesellschaft beseitige alle Hindernisse, die der Abschaffung von Leid entgegenstehen, in dem sie Unterschiede aufhebe (Versöhnung) und herrschaftsstabilisierende Widersprüche sistiere (Erlösung). Vor diesem Hintergrund impliziere das Konzept im Bildungsbereich die „Autonomie der Anderen zur Absicherung und Bewahrung gesamtgesellschaftlicher und individueller Freiheit“ (119), wobei die Kategorie der Versöhnung ermögliche, Spannungen in Bildungsprozessen zu benennen: Bildungsbestrebungen, die eine instrumentelle Formung der zu Bildenden avisieren, könnten Vorstellungen von Subjektivität und Mündigkeit nicht abrogieren. Bildungsprozesse, die auf Mündigkeit abheben, setzen sich mit Anteilen, die einer „autonomiefördernden Unterstützung aller Beteiligten“ (120) entgegenstehen, auseinander. Der Doppelcharakter von Bildung – Freiheit wird autonomieförderlich begründet, autonomiehinderliche Strukturen werden benannt – basiere nicht auf Herrschaft und Befreiung, sondern auf der Sehnsucht nach dem ganz Anderen, die ein Ausloten der gesellschaftlichen Bedingungen durch Versöhnung und Erlösung möglich mache.

Helmut Breitmeier, Julia Finke und Christopher Drubel setzen sich in „Die Normkontestation der Religions- und Weltanschauungsfreiheit: Verständigungspotenziale interreligiöser Dialoginitiativen“ (123-142) mit der Frage nach dem Verhältnis von Religions- und Weltanschauungsfreiheit auseinander. Nicht die offensichtlichen, religiös motivierten Konflikte, sondern verschiedene Formen des „institutionalisierten Gesprächs zur interreligiösen Verständigung“ (124) stehen im Fokus des Beitrags, der das Verständigungspotenzial christlich-muslimischer Dialoginitiativen im Gegenüber zur Wirkung von (normativen) Maßnahmen internationaler Institutionen untersucht. Während man in der europäischen Tradition frühzeitig gegen eine Berufung auf Religion als Grund für einen gerechten Krieg (u.a. Thomas von Aquin) argumentierte, habe John Locke den Versuch unternommen, Religion als kompatibel zu einer Politik zu denken, „die die Rechte des Individuums schützt“ (125). Religions- und Weltanschauungsfreiheit seien gleichwohl erst nach dem Zweiten Weltkrieg in völkerrechtlicher Hinsicht als Religions- und Weltanschauungsfreiheit in der der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (1948) festgeschrieben worden. Insofern Individuen und Gruppen von diesen Regelungen ausgenommen wären und nicht alle Staaten unterzeichnet hätten, seien Normabweichungen zu verzeichnen, die sich u.a. hinsichtlich der Gedanken und des Gewissens sowie der öffentlich sichtbaren religiösen Manifestationen niederschlagen. Zwar sei in späteren Erklärungen die Möglichkeit eines Religionswechsels ausdrücklich vorgesehen, er lasse sich aber in jenen Ländern nur bedingt durchführen, die die Erklärung nicht unterzeichnet haben. Interreligöse Dialoginitiativen („A Common Word“, „Religions for Peace“, „United Nations Alliance of Civilizations“ sowie „International Association for Religious Freedom“) wenden sich dem Problem zu, ohne dass deren Potenziale in Bezug auf kommunikative Prozesse, die Institutionalisierung der Dialoginitiativen oder die Komposition der Diskurspositionen bislang gewürdigt worden seien. Dabei wirke sich das Einfordern von Rechtfertigungen insofern als normstärkend aus, als die Einsicht in Begründungszusammenhänge auch Kritiker von der Geltung der Normen überzeugen könne. Zwar hätten Christentum und Islam eine längere Erfahrung im Umgang mit interreligiöser Offenheit und Toleranz. Die dogmatischen Ansprüche der unterschiedlichen Traditionen erschwerten aber den Dialog, da die Gültigkeit des Arguments nicht selten Schrift gebunden sei. Gegenüber atheistischen Anfragen seien die Zusammenschlüsse aber kaum sprachfähig. Die Reaktionen auf die gesellschaftlichen Veränderungen bleiben abzuwarten.

Zu Teil II

Den zweiten, der Bildung gewidmeten Hauptteil eröffnet Dieter Benner mit „Religion im Kontext öffentlicher Erziehung“ (144-162). Er stellt die Frage nach der Form einer reflexiven Tradierung religiöser Erfahrungen im öffentlich bedeutsamen Bildungsbereich. Geht es bei der Deutung der Endlichkeit menschlichen Lebens um eine Ununterscheidbarkeit von Religion und Kultur (Jan Assmann) oder um einen Universalismus der Wiederholung (Michael Walzer)? Auch wenn sich jede religiöse Gemeinschaft von außen beurteilen lassen müsse, so sei Religion als schulisches Unterrichtsfach insofern anders zu behandeln, als die bildende Qualität des Religiösen unumstritten sei. Zwar ließe sich Religionsunterricht nicht losgelöst von Religionsgemeinschaften erteilen, die religiöse Praxis werde im Religionsunterricht aber nicht vollzogen. Auch der Religionsunterricht habe an jener paradoxalen Struktur teil, die schulischen Unterricht vielfach auszeichne: So wenig wie im Physikunterricht mit Atomkraft experimentiert oder im Sexualkundeunterricht die Verhütung betrieben werde, so wenig werde im Religionsunterricht gesegnet, getauft, geheiratet oder beerdigt. Er führe vielmehr ein in Dinge, die in der konkreten Lebenswelt unvermittelbar sind und versuche, Kompetenzen zu erschließen, deren praktische Grundlagen nur außerunterrichtlich erschlossen, allerdings an kirchlichen Privatschulen spezifisch gepflegt werden. Daher sei ein besonderes Augenmerk darauf zu richten, dass staatliche und private Schulen als „öffentliche Einrichtungen“ (159) verstanden werden und sie bei heterogener Schülerschaft „um das pädagogisch beste Niveau konkurrieren.“

Volker Ladenthin befasst sich mit „Voraussetzungen und Perspektiven religiöser Bildung“ (163-177). Dabei interpretiert er den Wahrheitsanspruch als Geltungsanspruch, deutet die Bedingung der Möglichkeit von Handeln als Freiheit und definiert Bildung als „die Aufgabe des Menschen, angesichts gegebener Bedingtheiten unter Geltungsanspruch zu handeln und das hierzu notwendige Wissen und Können zu erwerben.“ (164) Der Bildungsbegriff könne nicht sinnvoll durch andere Begriffe wie u.a. Mündigkeit, Selbstbestimmung ersetzt werden, da man ein mehr an Freiheit und ein weniger an Geltung begründen müsste. Und auch die Religion dürfte prima vista die Bildung des Menschen begrenzen: „So scheint der Gedanke der Gottebenbildlichkeit des Menschen seine Freiheit einzuschränken; und der Akt des Glaubens scheint die notwendig methodisch nachprüfbare Geltungsbegründung zu suspendieren.“(165) Während sich Bildung als auf Praxis bezogener Freiheitsvollzug unter Geltungsanspruch bestimmen lasse, setze Religion immer schon einen Begriff dessen, was gültig ist, voraus. Ein allgemeiner, gleichermaßen für alle religiösen Menschen gültiger Geltungsanspruch, lasse sich nicht formulieren. Der Freiheitsanspruch hilft aber, Aufgaben zu bestimmen, die mit dem Menschsein selbst gegeben sind. Dies betrifft insbesondere den Umgang mit der eigenen Endlichkeit. Theologie erscheint als „wissenschaftliche Betrachtung der religiösen Frage innerhalb eines für sich selbst als gültig erachteten religiösen Bekenntnisses“ (168). Wenn aber Religion das reflektierte Verhältnis des Menschen zur eigenen Endlichkeit ist, dessen Reflexionsregeln die Theologie reflektiert, dann können Reflexion und ihre Regeln gelernt werden. Will aber der Staat für die umfassende Bildung des Menschen im Sinne seiner Selbstverpflichtung sorgen, so hat er Religionsunterricht anzubieten. Andernfalls wäre die von ihm gestaltete Bildung defizitär. Da jedoch ein Bekenntnis aller Begründung vorausgeht, also schon gelebt wird, bevor man nach ihm suchen kann, muss es die Freiheit geben, zu entscheiden, welchen Religionsunterricht man besuchen möchte. Eine Gesellschaft, die Wissenschaft, Unterricht und Gemeinschaft nicht gestalte, würde ihren eigenen Rationalitätsstatus unterbieten und privater Willkür, der Markt des Marktes oder diffuser Quellen etwas überlassen, was sich vernünftig aufklären lässt.

Wolfgang Sander beschäftigt sich mit „Schulische[r] Bildung zwischen Religion und Säkularismus“ (178-198). Die „These von der ‚postsäkularen Gesellschaft‘“ lege ein Scheitern der Säkularisierungsthese nahe. So sei die Unterscheidung von säkular und religiös mit Blick auf die Religionen unterkomplex, tragen diese doch Gedankenfiguren in sich, die die Unterscheidung religiös begründen. Auch gebe es innerhalb der Religionsgemeinschaften oder der Gruppe der Konfessionslose weder homogene religiöse Praxen noch Überzeugungen. Lediglich die muslimischen Gemeinschaften haben eine höhere religiöse Selbsteinschätzung als die übrige Bevölkerung, die vom Abbruch der Generationenweitergabe des Glaubens betroffen ist. Gerade christliche Jugendliche seien hinsichtlich des eigenen Glaubens erheblich verunsichert. Eine Schule, die sich der Leitidee der Bildung verpflichtet fühle, habe Schwierigkeiten zu antizipieren: Zum einen (Regressions-) Phänomene der „außerkirchlichen Formen des Religiösen“ (184), die in der Populärkultur ähnlich wie die Neomythen (Hauser) zahlreiche Transformationsprozesse des Religiösen anzeigen („Gesellschaften können dümmer werden.“) Zum anderen Formen religiösen Fundamentalismus, die in politischen Extremismus umschlagen können. Dabei scheint die mangelnde religiöse Sprachfähigkeit vieler Lehrkräfte das eigentliche Problem zu sein. Schließlich rücke auch der Säkularismus in den Fokus, der von Organisationen getragen werde, die lediglich zwei Narrative zu einer Großerzählung zusammenfügen: eine naturgeschichtlich grundierte Evolutionsbiologie, die die Entstehung des Lebens vollständig erklären könne, sowie eine menschheitsgeschichtliche Entwicklung, die zu einer Aufgabe von Religion führe. Dabei werde auch der Mensch durch „den weiteren Verlauf der Evolution“ abgelöst. Für die Schule stellte der Säkularismus wegen seiner Ideologeme (einzige Wissenschaft, unhintergehbarer Modellcharakter, falsch verstandene Berufung auf Renaissance und Aufklärung, antiklerikale Festschreibungen, naive Fortschrittsgläubigkeit) und seines geschlossenen Weltbildes eine erhebliche Herausforderung dar. Sie müsste der „Religion mehr Aufmerksamkeit“ (194) widmen, religiöse Bildung durch Stärkung von Philosophie fördern sowie Grenzen des naturwissenschaftlichen Unterrichts markieren. Schulische Bildung müsse verdeutlichen, dass die Rede von Gott nicht einer archaischen Tradition angehöre, sondern vernünftige Gründe auch aktuell für sich geltend machen kann.

Rolf Schieder thematisiert „Tradition durch Innovation. Das System religiöser Bildung in Deutschland vor neuen Herausforderungen“ (199-210). Schieder betrachtet den Religionsunterricht als „Rückgrat“ (199) eines religionspolitisch erfolgreichen Systems, das flexibel auf religionskulturelle Wandlungsprozesse reagiere. Die Vorteile des deutschen Systems zeigten sich im Vergleich mit dem amerikanischen Trennungsmodell, in dem (religiös motiviertes) Homeschooling sowie eine nennenswerte Zahl fundamentalistischer Bewegungen dafür einstehen, dass in vielen Regionen im Physikunterricht der „Kreationismus“ neben darwinistischen Erklärungsmodellen gelehrt werde. Wer das deutsche Kooperationsmodell abschaffen wolle, verzichte auf mögliche Differenzierungsleistungen. – Mit Blick auf den Islam träten selbst jene Parteien, die sich ansonsten für eine Trennung von Kirche und Staat aussprächen, für die Einführung des islamischen Religionsunterrichts ein. Allerdings sei nicht ganz ausgeschlossen, dass dabei zivilreligiöse Interessen im Hintergrund stehen. Insofern es unaufgebbarer Sinn des Grundgesetzes sei, den Religionsunterricht nur „in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften“ zu erteilen, bleibe die Situation wegen der mangelnden Legitimierung muslimischer Verbände unbefriedigend, auch wenn es in einzelnen Bundesländern Übergangslösungen gebe. Die Einrichtung staatlicher Zentren, in denen islamische Theologie betrieben werde, sei zu begrüßen, es helfe aber wenig, wenn die junge islamische Theologie durch die Vertreter muslimischer Verbände beständig in Frage gestellt werde. Daher erscheinen die Empfehlungen einer Kommission sinnvoll, die die Verortung der islamischen Theologie im Rahmen einer „Fakultät der Theologien“ (208) an der Humboldt-Universität vorgeschlagen hatte. Die dringend notwendige Anerkennung von Diversität ließe sich u.a. durch den Austausch von hermeneutischen Zugängen zur Schrift sowie den Austausch rationaler Diskursformen ermöglichen, auch öffnete sie die Augen für den Reichtum religiöser Traditionen – ähnlich wie dies die verschiedenen Formen des Religionsunterrichts zeigen, wenn sie sich vor der Schulöffentlichkeit legitimieren müssen.

Frank-Michael Kuhlemann befasst sich mit „Religionsgeschichte im Geschichtsunterricht. Legitimation, Aufgaben, Themenstellungen“ (211-232). Seit ihrer Neukonstituierung in den 1970er Jahren habe die Geschichtsdidaktik den gesellschaftlichen Faktoren Religion und Kirche so gut wie keine Aufmerksamkeit zuteilwerden lassen; Lehrpläne und Schulbücher bezeugten immer noch ältere antiklerikale Traditionen in der Pädagogik. Der „Amnesie in Sachen des Religiösen“ (212) stellt Kuhlemann eine religionsgeschichtliche Defizitanzeige gegenüber: Insofern in der Forschungsentwicklung der Geschichtswissenschaft Religion in den letzten beiden Jahrzehnten zu einer einflussreichen historischen „Potenz“ (Jacob Burckhardt) geworden sei, lege sich ein wissenschaftspropädeutischer und situativer Konstruktivismus nahe. Das Verstehen religiöser Mentalitäten und Milieus ebenso wie die Verhältnisbestimmung von Religion in Moderne und Postmoderne relativiere die Vorstellung einer unaufhaltsam voranschreitenden Säkularisierung; Religion werde als „Daseinsmacht ersten Ranges“ (Osterhammel) wieder entdeckt. Herausforderungen bestehen im Islam, aber auch mit Blick auf die fundamentalistischen Evangelikalen in den USA sowie in etlichen Regionen Südamerikas. In China offerierten Haus- und Untergrundkirchen neue religiöse Sinnangebote. Für Europa allerdings stelle sich das Bild noch einmal anders dar, insofern bei Jugendlichen konfessionelle Überzeugungen erodierten und sich zu Bricolage-Identitäten transformierten. Darüber hinaus bringen Migrationserfahrungen Differenzierungen mit sich. Auch wenn sich gute Gründe für eine Integration religionsgeschichtlicher Fragestellungen in die Geschichtsdidaktik nennen lassen, bleibe die Frage nach der Schülerorientierung wegen mangelnden Interesses an Kirche und Religion virulent. Man sollte allerdings religiöse Fragestellungen nicht aus dem Geschichtsunterricht verbannen, sondern die religiöse Dimension als ein Erklärungsmuster für Kontinuitäten und Brüche in der eigenen Gesellschaft heran ziehen. Vor diesem Hintergrund tritt Kuhlemann für eine angemessene „Berücksichtigung des religiös-kulturellen Faktors“ (218) ein, die sich im sukzessiven Aufbau und der Ausbildung der religiös-kulturellen Dimension des Geschichtsbewusstsein – neben der politischen, sozialen, ökonomischen und moralischen (Pandel) – äußern könne. Auch sei empirisch ein Zusammenhang zwischen Religionsbindung und Ausbildung eines Geschichtsbewusstseins (Interesse) nachgewiesen worden (von Borries), auf den Ebenen des historischen Denkens erscheine Religion als einflussreiche Sinnressource (Hasberg) und schließlich habe Religion als Erinnerungs- und Erzählgemeinschaften sozialisatorische Effekte (Assmann). Bei der Vergewisserung des Religiösen sei die Frage einer historiographischen Perspektivierung nicht außer Acht zu lassen: eine jüdische Rekonstruktion von Geschichte unterscheide sich erheblich von einer christlichen und diese wiederum von einer muslimischen. Schließlich habe Geschichtsdidaktik auch mit den Ansätzen der benachbarten religionskundlichen Fächer (christlicher Religionsunterricht, islamischer Religionsunterricht, Ethikunterricht) im Gespräch zu bleiben (Lämmermann). In thematischer Hinsicht lassen sich bekannte Themen neu durchdenken – der Nationalsozialismus müsste vor dem Hintergrund des Konzepts politischer Religionen neu betrachtet werden –, religionsbedingte Kulturkonflikte – wie etwa die Konfessionsnation des Osmanischen Reiches – sind neu aufzunehmen, Projektunterricht mit den religionskundlichen Fächern ist anzustreben. Dabei könnten Kriterien helfen, die eine Auseinandersetzung mit religiösen Traditionen gleichsam implizieren: eine Sensibilisierung für das Problem kultureller Verschiedenheit unter der Voraussetzung von Gleichwertigkeit (von Borries).

Annette Scheunpflug und Martin Affolderbach setzen sich mit „Religionssensible[n] Schulen“ auseinander. Religionssensible Schulen umfassen komplexe Thematiken, die sich einerseits durch die säkularisierende Entwicklung herausgefordert fühlen, andererseits zum Phänomen des „Post-Säkularismus“ bzw. der „Rückkehr der Religionen“ (234) verhalten müssen. Habe sich in Deutschland die Zahl von Menschen mit Religionszugehörigkeit durch die Zuwanderung erhöht – dies gilt nicht nur für Muslime, sondern auch für orthodoxe und jüdische Religionsangehörige –, so scheine es gewisse Tendenzen für eine Säkularisierung auch der muslimischen Gemeinschaften zu geben. Insbesondere muslimisch radikale Gruppen werden in der öffentlichen Wahrnehmung mit Gewalt und Radikalität verbunden. Die Frage sei allerdings, ob diese Entwicklung sich nur in Deutschland vollzieht oder nicht auch andere europäische Länder betrifft. Alle Staaten vollziehen eine Entwicklung zur multireligiösen Gesellschaft, einer implizit religiösen Annahme von Religion als Privatsache steht das Aufbrechen von Religion im öffentlichen Raum entgegen. Schulischer Unterricht und insbesondere Religionsunterricht heben auf „gebildete Religion“ sowie eine „reflektierte Religionslosigkeit“(239) ab. Diese Form religiöser Bildung fördert Dialogfähigkeit und Toleranz, sie ermöglicht aber auch, das kulturelle Erbe zu dechiffrieren. Vor diesem Hintergrund könnten sich religionssensible Schulen in staatlicher oder nicht-staatlicher Trägerschaft folgenden Themen widmen: der Anerkennung von Religion und anderen Weltanschauungen als wichtiger Dimension menschlichen Lebens; dem Wissen um die Gleichzeitigkeit des Rechts auf Religionsausübung sowie des Rechts auf Freiheit von der Religion in säkularen Schulen; der Wahrnehmung und Erwartung einer Pluralität von Religionen und religiösen Ausdrucksformen im Religions- und Ethikunterricht. Dabei sind hohe Qualitätsstandards anzulegen.

Kurt Edler referiert zum Thema „Religiös-politische Konflikte in der Schule und der Umgang mit ihnen“ (246-263). Ausgehend vom Phänomen des Dschihadismus, einer digital und militärisch aufgestellten internationalen terroristischen Strömung sucht er Äußerungsformen von Religion in der Wirklichkeit gegenwärtiger Weltgesellschaft und fokussiert sie auf Schule. Während sich Lehrer mit der Anmutung konfrontiert sehen können, keiner Religion anzuhängen, gibt es außerhalb der demokratischen Gesellschaften neue Formen von Wertorientierungen für menschliches Zusammenleben: u.a. Wohlstand ohne Freiheit. Die Modernisierung fege alte Traditionen hinweg, der weltpolitische Kontext ändere auch das Bildungs- und Erziehungswesen. Radikal-religiöse Tendenzen entstehen nicht selten gegen den Willen des Elternhauses. Formen ideologischer Überwältigung sind auch für Schulen nicht einfach zu identifizieren. Die religiöse Radikalisierung trage dissoziale Züge. In einer „grundrechtsklare[n] Schule“ (260) allerdings ginge es darum klare Strategien zu benennen, die hier Abhilfe schaffen – wie etwa die Stärkung des demokratischen Konsenses, den Präventionsfaktor Religionsunterricht, Melderoutinen.

Diskussion

Die Autorinnen und Autoren befassen sich mit unterschiedlichen Derivaten der Säkularisierungsthese und setzen dieser die Rede von der postsäkularen Gesellschaft, gelegentlich auch von der postsäkularen Religion gegenüber. Die Herausgeber halten bereits in der Einleitung fest, dass es Differenzen im Begriffsverständnis gibt. Gleichwohl kommen an nicht wenigen Stellen interessante Differenzierungen zur Sprache. Dies gilt u.a. für die Unterscheidung von epistemologischem und akteursbezogenem Ansatz (Krämer), aber auch für Hinweise auf Regressionsphänomene (Sander).

Postsäkulare Religion kann je nach Disziplin, aber auch in Abhängigkeit der Darstellung konkreter Religionen höchst unterschiedliche Phänomene beschreiben. Während das Judentum eine Verbindung von säkular und religiös immer schon praktiziert habe (Klapheck), verhielten sich Teile des Islam gegenüber einer entsprechenden Unterscheidung nicht aus religiösen, sondern aus politischen Gründen ablehnend (u.a. Krämer). Das Christentum lässt hier länderspezifische Konstellationen erkennen (Kreuzer). Bei aller zivilreligiösen Pluralität ist das (Zusammen-)Leben in Deutschland und Europa von religiösen Auseinandersetzungen geprägt, wie die vielfältigen Bezugnahmen auf den Islam, aber auch die Hinweise auf jüdisches Leben nahelegen.

Die postsäkulare Gesellschaft selbst wird unterschiedlich bewertet: Zwar erfolge der Ausschluss aus dem Religionssystem in der Weltgesellschaft zuletzt (Gabriel), dies führt aber nicht zu einer einheitlichen Bezugnahme: Während ein postsäkularer Ansatz aus prinzipiellen Erwägungen zurück gewiesen werden kann (Klapheck), erweisen sich einzelne Stränge der Säkularisierungsthese als hilfreiche Interpretamente: arabische Staaten sehen über das Alkoholverbot im Privaten hinweg (Krämer). Der postsäkulare Ansatz wird im Übrigen domänenspezifisch angepasst.

Die verschiedenen Ansätze des Postsäkularen werden im zweiten Teil eher unsystematisch aufgerufen. Dabei werden einzelne Bereiche unter verschiedenen Aspekten u.a. als öffentliche, generalisierende, religionssensible Bildung betrachtet. Eine Auseinandersetzung mit religiöser bzw. religionssensibler Bildung hätte hier u.a. von den Einzelbeobachtungen aus dem ersten Teil (u.a. Müller, Kreuzer) profitieren können. Die Lektüre wäre durch deutliche wechselseitige Bezugnahme der Autorinnen und Autoren gelegentlich erleichtert worden (vgl. allerdings Sander).

Fazit

Der aus einer Ringvorlesung zum Thema hervorgegangene Sammelband nimmt zahlreiche Facetten einer postsäkularen Gesellschaft ins Visier. Die Einblicke, die die Autorinnen und Autoren in ihr jeweiliges (Spezial-)Gebiet eröffnen, sind diesbezüglich höchst aufschlussreich: einerseits, weil sie – wie im ersten Teil – dem Stand der Forschung in den jeweiligen Disziplinen – wie etwa Soziologie oder Geschichte – Rechnung tragen, andererseits, weil sie – wie im zweiten Teil – ihre je spezifischen Grundlagen für eine möglichst breite Rezeption des Begriffs der postsäkularen Gesellschaft aufdecken. In seiner spezifischen Dichte ermöglicht der Sammelband interessante Einblicke in religiöse Phänomene von Bildung in der postsäkularen (Welt-)Gesellschaft. Das interdisziplinäre Engagement der Herausgeber ist in Hinblick auf die Ermöglichung (künftiger) didaktischer Diskussionen zu würdigen.

Rezension von
Prof. Dr. Antje Roggenkamp
Seminar für Praktische Theologie und Religionspädagogik, Westfälische Wilhelms-Universität Münster
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Es gibt 11 Rezensionen von Antje Roggenkamp.

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Zitiervorschlag
Antje Roggenkamp. Rezension vom 26.09.2018 zu: Stefan Müller, Wolfgang Sander (Hrsg.): Bildung in der postsäkularen Gesellschaft. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2018. ISBN 978-3-7799-3819-4. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/23928.php, Datum des Zugriffs 12.09.2024.


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