Sebastian Kurtenbach: Leben in herausfordernden Wohngebieten
Rezensiert von Prof. Dr. Frank Eckardt, 05.04.2018

Sebastian Kurtenbach: Leben in herausfordernden Wohngebieten. Das Beispiel Köln-Chorweiler. Springer VS (Wiesbaden) 2017. 278 Seiten. ISBN 978-3-658-16852-0. D: 39,99 EUR, A: 41,11 EUR, CH: 41,50 sFr.
Thema
Erstaunlicherweise gibt es nur wenige internationalen und im Grunde keine deutschen Arbeiten, die sich mit der Innensicht von jenen Stadtteilen beschäftigen, die als Räume der Benachteiligung gelten und die oftmals stigmatisiert werden. Es ist daher, wie Jürgen Friedrichs in seinem Vorort Geleitwort zurecht betont, mit diesem Buch ein Thema aufgegriffen worden, dass trotz seiner sozialen Bedeutung für deren Bewohner/innen und im allgemeinen Diskurs über Armut und Benachteiligung kaum Aufmerksamkeit in der Stadtsoziologie erhalten hat.
Mit der vorgelegten Studie soll dementsprechend eine wichtige Forschungslücke geschlossen werden. Die Wahl auf den Stadtteil Chorweiler in Köln ist aus methodischen Gründen und aus Gründen der gesellschaftlichen Relevanz mehr als nachvollziehbar.
Autor
Sebastian Kurtenbach ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für interdisziplinäre Gewalt- und Konfliktforschung der Universität Bielefeld.
Entstehungshintergrund
In seinem Vorwort schreibt der Autor, dass er schon mit 18 Jahren den Wunsch verspürte, nach seinem ersten Besuch von Chorweiler diesen Stadtteil intensiver kennenzulernen. Die jetzt vorliegende Arbeit stellt seine Promotionsschrift am Institut für Soziologie und Sozialpsychologie der Universität zu Köln dar, die er mit Jürgen Friedrichs als Doktorvater geschrieben hat. Finanziell gefördert wurde sie von der Konrad-Adenauer-Stiftung und der Fritz-Thyssen-Stiftung.
Aufbau
Der Aufbau folgt der üblichen Gestaltungsidee von deduktiv forschenden Arbeiten. Die Schrift ist in zwölf Kapiteln gegliedert, gefolgt von einem persönlichen Nachwort. Im Einzelnen ist das Buch in folgende Kapitel aufgeteilt:
- Einleitung und Fragestellung der Arbeit
- Untersuchungsgegenstand: Forschungsstand zu Kontexteffekten von Wohngebieten
- Untersuchungskontext: Forschungsstand zu Großssiedlungen
- Modell der umweltvermittelten Normvermittlung
- Empirische Vorgehensweise und Stadtteilbeschreibung
- Sozialraumanalyse
- Beschreibung Chorweilers durch Experten
- Feldforschung in Chorweiler
- Deutung des Kontextes
- Überprüfung des explizierten Modells der umweltvermittelten Normanpassung
- Fallanalysen zum Umgang mit dem herausfordernden Wohngebiet
- Fazit
Inhalt
Das Buch untersucht Köln-Chorweiler als Beispiel für das „Leben in herausfordernden Wohngebieten“. Es wird vor allem von der Frage motiviert, wie es zu einer umweltvermittelten Normanpassung innerhalb eines Wohngebiets. Damit reiht sich diese Studie in eine lange Forschungstradition ein, die man auf die ersten Arbeiten in der Stadtsoziologie der sogenannten Chicago School zum Ende des 19. Jahrhunderts zurückdatieren könnte.
Für Leser/innen, die mit dieser Tradition der Stadtsoziologie nicht vertraut sind, müssen einige Vorannahmen erklärt werden, die in dieser Forschung als selbstverständlich angesehen werden, die so aber nicht vorausgesetzt werden können. Darum ist der Autor in den Kapiteln 2 bis 4 bemüht. Dargestellt wird der Forschungsstand zum Thema Kontexteffekte (why neighborhoods matter), zu Großwohnsiedlungen und zum theoretischen Modell der umweltvermittelten Normvermittlung. Dem Autor gelingt es hierbei sehr fokussiert und anschaulich den Forschungsstand zusammen zu tragen und am Ende durch Bullet points auf das Wesentliche zu beschränken. Der Autor geht bei der Entwicklung seiner Hypothese über den Stand der Forschung in der Weise hinaus, dass er den Begriff der Umwelt durch einen weitergefassten Begriff des Kontexts ersetzt. Damit soll auch die Möglichkeit einer vermittelten institutionelle Ebene sozialen Lernens eingebracht werden, die im klassischen umweltpsychologischen Lernkonzept weitgehend fehlt.
Die Studie führt somit eine innovative Sichtweise ein, mit der die offenkundige Rolle, die nicht-direkt wahrnehmbare Prozesse sozialen Lernens thematisiert werden können. Dieser erweiterte Ansatz der Nachbarschaftseffekte-Forschung ermöglicht es Kurtenbach auch, um einen Methodenmix zu entwerfen, mit denen die Kontextualität durch qualitative Methoden eingefangen werden kann. Demensprechend wird der Kontext über Experteninterviews, teilnehmende Beobachtung/fokussierte Ethnographie und Fallstudien (narrative Interviews) erschlossen. Kernstück der Arbeit bleibt allerdings eine Befragung von 261 Haushalten, die mit 19 Interviewern aufgesucht worden sind. Die teilnehmende Beobachtung fand in einem dreimonatigen Aufenthalt vor Ort statt. Zudem wurde eine umfangreiche Medienanalyse durchgeführt.
Die einzelnen Methoden werden als Teile eines triangulären Forschungsansatz verstanden, bei dem diese jeweils unterschiedliche Forschungsgegenstände untersuchen sollen. Strukturell verbunden werden sie durch eine duale, Kausalität suggerierende Schematisierung, bei der Kontextbeschreibungen auf der einen Seite und Kontextwirkungen auf der anderen gegenübergestellt werden.
Im Ergebnis kommt der Autor zu Aussagen, die tabellenartig am Ende des Buches aufgeführt werden. Wichtigstes Ergebnis scheint zu sein, dass sich das selbst entwickelte Phasenmodell der Übernahme von Kontextverhalten bewährt hat, aber aufgrund der vorgefundenen Netzwerk-, Individual- und Kontextabhängigkeiten neu beschrieben werden muss. Rückzug und Selbstvergewisserung sind wichtige Strategien vulnerabler Gruppen, in der Wohngegend leben zu können. Bestätigt hat sich für den Autor, dass die Benachteiligung von Bewohner/innen durch kognitive Dissonanzen, wonach sich der Einzelne in seiner Nachbarschaft endogenen Prozessen anpassen muss und Normen übernimmt, die ihm außerhalb Nachteile bringen wird.
Diskussion
Zu diskutieren wäre, inwieweit diese Studie auf der intrinsischen und auf eine mehr grundsätzlichen Ebene wirklich neue Erkenntnisse gewinnt. Wenn man den vielen Vorgaben einer umweltpsychologischen Sichtweise auf benachteiligte Stadtteile (die hier euphemistisch als herausfordernd betitelt werden) folgt, dann kann man die Perspektiverweiterung auf die Rolle von Netzwerken und Institutionen als innovativ bezeichnen. Jedoch haben sich diese Ergebnisse nicht eigentlich als Ergebnisse der Studie ergeben, sondern sind durch eine veränderte Methodik von Beginn an als solche erwartbar gewesen. Mit anderen Worten, die Studie bestätigt die Annahme der Kontextabhängigkeit, die sie von vornherein aber auch vorausgesetzt hat. Eine wirkliche Überprüfung dieser Behauptung kann durch die duale Struktur von Kontextbeschreibung und Kontextwirkung nicht stattfinden.
Den Rezensenten hat diese Studie davon leider überzeugt, dass über diesen intrinsischen Zirkelschluss hinaus auch die übergeordneten Annahmen der Studie und damit auch die sich fortsetzende Tradition der umweltpsychologischen Stadtteil-Forschung äußerst fragwürdig sind. Die Grundidee vom abweichenden Verhalten und damit von einer gesellschaftlichen Norm, die für das Ermessen dieser Abweichung ja irgendwie vorliegen muss, verhindert es, dass explorativ das „Leben in herausfordernden Wohngebieten“ sichtbar wird. Der Stadtteil wird danach befragt, kartographiert und beobachtet, was von einer angeblich vorherrschenden gesellschaftlichen Norm abweicht. Um ein Beispiel zu nehmen: Das Tragen der Jogginghose im öffentlichen Raum wird als „Zurückweisung verbreiteter Normen“ (S. 155) vom Autor interpretiert. An anderer Stelle werden Graffiti als Zeichen von „social disorder“ gesehen. Ähnliche Interpretationen folgen zu Kampfhunden, das Anschreien von Kindern und dem Müll im öffentlichen Raum. Was man sich anstelle dieses ethnographischen Moralismus gewünscht hätte, wäre ein Kennenlernen der Normvorstellungen der Bewohner/innen. Das geschieht stellenweise mit drei (!) Interviews mit Frauen, die krank sind oder Angehörige pflegen. Es kann wohl kaum behauptet werden, dass damit ersichtlich wird, wie die „individuellen Umgangsstrategien“ mit der sozialen Unordnung (disorder) insgesamt im Stadtteil aussehen.
Letztlich wird der qualitativen Forschung in dieser Studie trotz des Methodenmix keine Rolle eingeräumt, die ihrem Potenzial gerecht wird. Sie dient nicht als Teil eines Prozesses, mit denen Hypothesen generiert werden können, sondern sie wird als Tatsachenbeschreibung verstanden. Das wird an den zehn Experten-Interviews deutlich, die in keiner Weise hinsichtlich ihrer spezifischen Wahrnehmung aufgrund ihrer Rolle als Landtagsabgeordneter oder Pfarrer reflektiert werden. Diesem Methodenmix fehlt jede Prozesshaftigkeit und daran scheitert letztlich eine dreijährige Arbeit, die von vornherein nicht die Annahmen der Rational Choice-verkürzten Sichtweise auf Stadtteile in Frage stellen will.
Im persönlichen Nachwort hadert der Autor damit, dass durch seine Arbeit eventuell ein schon bereits stigmatisierter Stadtteil noch weiter stigmatisiert werden könnte. Grund für die Auswahl des Stadtteils war eine (auf Sozialindikatoren verkürzte) Sozialraumanalyse, die zeigte, dass Chorweiler statt 0,3 mit 0,42 Segregationsindex vom statistischen Durchschnitt abwich. Das reichte aus, um die stigmatisierende Einordnung durch die Forschung dennoch in Kauf zu nehmen. Spätestens als in den Experteninterviews heraus kam, dass abweichendes Verhalten wie Kriminalität nur ein „Randphänomen“ (S. 114) darstellt, hätten die Prämissen dieser Studie korrigiert werden müssen.
Sebastian Kurtenbach schreibt ganz zum Schluss, dass er viele „großartige Menschen“ in Chorweiler kennengelernt hat. Die hätte man gerne in diesem Buch kennengelernt. Erwartet hätte man vielleicht einfach auch nur, dass das ganz normale Leben beschrieben und erklärt wird und er die Brille abgelegt hätte, alles als „Umgangsstrategien“ zu labellen, was in Wirklichkeit nicht viel anders ist als andernorts. Wie konnte es überhaupt zur Stigmatisierung kommen und was sind dafür die eigentlichen Ursachen? Dass für Chorweiler nicht genug getan wird, wie er bemängelt, ist eine banale Erkenntnis. Interessanter wäre es zu verstehen, wie es politisch und gesellschaftlich dazu kommen konnte, dass Menschen in Chorweiler stärker in Armut leben als andere und es zu de facto Desinvestierungen kam. Aber Politik und zeitgeschichtliche Kontextualisierungen – etwa das Beenden des sozialen Wohnungsbaus – fehlen in der Analyse vollkommen.
Fazit
Jede/r, die/der sich den vielen Vorannahmen der hier verfolgten Forschungstradition anschließt, wird dieses Buch sicherlich mit Gewinn lesen. Es ermöglicht auch eine Diskussion über die Art und Weise, wie unterschiedliche Methoden miteinander verbunden werden sollten. Sicherlich ist es nach wie vor dringend, dass mehr Arbeiten in der Stadtsoziologie wie die vorgelegte sich mit stigmatisierten Räumen wie Köln-Chorweiler beschäftigen. Ob dafür allerdings die gewählte theoretische und methodische Herangehensweise die richtige ist, sollte durch Studien in Frage gestellt werden, die mit alternativen Forschungsansätzen einen größeren Erkenntnisgewinn behaupten können.
Rezension von
Prof. Dr. Frank Eckardt
Professor für sozialwissenschaftliche Stadtforschung an der Bauhaus-Universität Weimar
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