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Anne Häußler, Vera Bernard-Opitz: Sehen und Verstehen

Rezensiert von Dipl.-Päd. Petra Steinborn, 21.09.2018

Cover Anne Häußler, Vera Bernard-Opitz: Sehen und Verstehen ISBN 978-3-17-030631-8

Anne Häußler, Vera Bernard-Opitz: Sehen und Verstehen. Visuelle Strategien in der Förderung von Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung. Verlag W. Kohlhammer (Stuttgart) 2018. 80 Seiten. ISBN 978-3-17-030631-8. 14,00 EUR.

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Thema

Zu den eingeführten und evidenzbasierten Methoden in der Förderung von Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung zählen visuelle Strukturierungshilfen. Das Buch beschreibt, welche Arten von visuellen Strategien es gibt und wie diese eingesetzt werden. In Form von einfachen und verständlichen Darstellungen erhält die Leserschaft einen schnellen Zugang in die Thematik, zahlreiche Fallvignetten stellen einen hohen Praxisbezug dar, diese werden durch Fotos von konkreten Materialien ergänzend beschrieben.

Autorinnen

Anne Häußler begleitet Menschen aus dem autistischen Spektrum. Sie hat den TEACCH® Ansatz in Deutschland bekannt gemacht. Sie leitet eine Therapie- und Beratungsstelle, die auf dem TEACCH® Konzept basiert arbeitet und hat zahlreiche Bücher veröffentlicht, von einigen liegen von mir auch jeweils Rezensionen unter www.socialnet.de/rezensionen vor.

Entstehungshintergrund

Herausgegeben wird die Reihe „AUTISMUSKONKRET“ von Vera Bernhard-Opitz. Es sind schon einige Titel erschienen, geplant sind 12. Ziel ist Eltern und Fachkräften kompakte Leitfäden an die Hand zu geben, um Kinder und Jugendliche mit Autismus-Spektrum-Störungen zu verstehen und in der Entwicklung von Strategien mit diesen Lebensbedingungen zu unterstützen. Neben Berufsgruppen sollen auch Studierende der relevanten Fachrichtungen eine praktische Einführung in spezielle Themengebiete erhalten.

Aufbau und Inhalt

Das Büchlein im DIN A 5 Format hat einen Umfang von 80 Seiten, die sich in sechs Kapitel inkl. Literaturverzeichnis aufgliedern. Am oberen Seitenrand ist jeweils die Kapitelüberschrift abgedruckt: links die Überschrift des jeweiligen Kapitels, rechts die Überschrift des Unterkapitels. Diese Struktur erleichtert die Orientierung im Buch. Neben zahlreichen Fotos aus der Praxis findet man farblich hinterlegte Textboxen, die Inhalte zusammenfassen und hervorheben.

  1. Visuelle Strategien: Besonders hilfreich für Menschen mit einer autistischen Wahrnehmung
  2. Grundsätzliche Überlegungen zum Einsatz visueller Strategien
  3. Praktische Tipps zur Gestaltung visueller Hilfen
  4. Selbstständigkeit im Alltag unterstützen: Visuelle Strategien in der Praxis
  5. Flexibel unterwegs: Praktische Kommunikationshilfen für Bezugspersonen
  6. Literatur

Die Deutsche Nationalbibliothek bietet Einblick in das vollständige Inhaltsverzeichnis.

Den Auftakt (Kapitel 1) machen visuelle Strategien, die besonders hilfreich für Menschen mit einer autistischen Wahrnehmung sind. Die Autorin nennt zehn gute Gründe für die Verwendung visueller Hilfen und gibt die dazugehörigen Erklärungen wie z.B. folgende: Visuelle Informationen sind leichter zu verarbeiten, sie sind nicht so flüchtig wie sprachliche Informationen und lassen sich leichter merken (bei Menschen mit autistischer Wahrnehmung nutzen sie damit die Stärken des visuellen Gedächtnisses).

Das zweite Kapitel ist grundsätzlichen Überlegungen zum Einsatz visueller Strategien gewidmet. Zuerst werden verschiedene Arten visueller Hilfen vorgestellt, deren Unterschiede man kennen sollte. Beschrieben werden drei Kategorien und Funktionen: Unterstützung der rezeptiven Kommunikation – Hilfen zum Verstehen, Unterstützung der expressiven Kommunikation – als alternatives Kommunikationsmittel und Hilfen zum selbstständigen Handeln – personenunabhängige Informationen. Damit wird klar, dass gleiche Strategien verschiedenen Kategorien zugeordnet werden können. Zur Verdeutlichung findet man praktische Anwendungsbeispiele visueller Hinweise und dazu passende Erklärungen, worauf man achten sollte. „Eine Strategie ist mehr als das Material, das zum Einsatz kommt“, denn sie beinhaltet Richtlinien, wer was womit tut, um etwas zu erreichen (S. 24). Diese Aussage macht deutlich: Eine Bildkarte allein ist keine Strategie, sondern der Umgang mit der Bildkarte definiert die visuelle Strategie. Entscheidend ist, das Ziel zu definieren und die Funktion zu kennen. Visuelle Hilfen finden zum einen Einsatz in der Handlungsorganisation, hier geht es vor allem um selbstständiges Handeln, zum anderen geben sie visuelle Hinweise, die man für das eigene Handeln nutzen kann, das will gelernt sein. Im Mittelpunkt dieses Büchleins stehen visuelle Strategien als Hilfe zum Verstehen und Handeln.

Von praktischen Tipps zur Gestaltung visueller Hilfen handelt das dritte Kapitel. Es geht darum, ob praktische Hilfen ihren Zweck erfüllen und hilfreich sind, dabei sollte auch immer geprüft werden, wer was braucht. Es gibt keine Patentrezepte, es kommt immer auf den speziellen Einzelfall an. Hier sind individuelle und kreative Lösungen gefragt. Die Autorin gibt 10 Tipps dazu z.B. zu verschiedenen Arten der visuellen Hinweise (Bilder, Schrift, Gegenstand), sie gibt Hinweise, was an Fotos problematisch sein kann, wie die Ziele „Information“ und „Kommunikation“ unterschieden werden oder welche Einsatzformen an Befestigungshilfen es gibt wie z.B. das Klettband.

Das vierte Kapitel zeigt Beispiele zur Alltagsunterstützung auf. Zentral sind visuelle Strategien, die folgende Fragen beantworten: Wer, wo, wohin, wann, wie lange, was ist zu tun, wie soll ich das tun und warum soll ich es tun. Diese einzelnen Fragen werden mit dem appellativen Satz „Lass mich sehen“ und dazu die Frage z.B. „wer“ eingeführt, diese Formulierung unterstreicht den Aufforderungscharakter der Hilfestellung.

Das Buch schließt mit dem Kapitel fünf: „Flexibel unterwegs: Praktische Kommunikationshilfen für Bezugspersonen“. Wichtig ist, dass die Unterstützerperson ihren Kommunikationsstil anpasst, hier wird der Hinweis auf Catherine Faherty gegeben, die dazu Methoden und Materialien entwickelt und praxiserprobt hat wie z.B. die Methode „Kommunikationsvertrag“. Diese Materialien sind mittlerweile ins Deutsche übersetzt und über den Autismusverlag in der Schweiz zu bestellen. Praxiserprobt sind zudem der „visuelle Count-Down“, das Instruktionsbuch (in Visitenkartenformat) oder laminierte Skalen, um Bewertungen abzufragen.

Kapitel sechs umfasst das Literaturverzeichnis (S. 119-121). Äußerst erfreulich ist, dass es überwiegend aktuelle Titel enthält.

Diskussion

Die Basis dieses Buches bildet die systematische Einordnung gängiger Strategien für eine effektive praktische Anwendung. Die Inhalte sind einfach und verständlich dargestellt, was den Leser*innen einen schnellen Zugang zur Thematik ermöglicht. Diese Reihe hat zum Ziel, Eltern und Fachkräften einen kompakten Leitfaden an die Hand zu geben, um Kinder und Jugendliche mit Autismus-Spektrum-Störungen zu verstehen und in der Entwicklung von Strategien mit diesen Lebensbedingungen zu unterstützen. Dieser Anspruch ist erfüllt, denn das Büchlein gibt eine kompakte praxisnahe Einführung in das Thema.

Es wird auf verschiedene Methoden und Materialien zur besseren Verständigung zwischen Menschen mit Autismus und ihrem Umfeld hingewiesen wie z.B. die Materialien von Catherine Faherty zur Unterstützung gelungener Kommunikation oder Materialien zur Erstellung von sog. social stories von Carol Gray, (Rezensionen zu den Büchern von finden sich unter www.socialnet.de/rezensionen/15494.php und www.socialnet.de/rezensionen/17969.php).

Sehr aussagekräftig und anschaulich sind die zahlreichen Beispiele, die durch Fotos aus der Praxis belegt werden. Im Mittelpunkt steht die Unterstützung der Selbstständigkeit durch die Gestaltung der Umgebung, sodass die Fokusperson ohne das Eingreifen der Bezugsperson zu Recht kommt. Dieser Hinweis ist zentral wichtig: Das Erleben von Selbstwirksamkeit der Fokusperson muss ein zentrales Ziel von Unterstützungsangeboten sein. Mittlerweile ist die Wichtigkeit hinlänglich bekannt, es hat aber lange Zeit gedauert, bis sich dieses Wissen durchgesetzt hat. Albert Bandura entwickelte schon in den 1970er Jahren das Konzept der Selbstwirksamkeitserwartung. Damit wird die Erwartung einer Person bezeichnet, aufgrund eigener Kompetenzen gewünschte Handlungen erfolgreich selbst ausführen zu können. Menschen, die daran glauben, selbst etwas bewirken und auch in schwierigen Situationen selbstständig handeln zu können, haben eine hohe Selbstwirksamkeitserwartung. Damit einher geht die Annahme, man könne als Person gezielt Einfluss auf die Dinge und die Welt nehmen, statt äußere Umstände, andere Personen, Zufall, Glück und andere unkontrollierbare Faktoren als ursächlich anzusehen. Ich persönlich teile die Meinung mancher Fachleute, dass Selbstwirksamkeit und deren Erwartung ein Bedürfnis des Menschen ist.

Aus eigener beruflicher Erfahrung weiß ich – und das wird auch durch Studien belegt – dass Personen mit einem starken Glauben an die eigene Kompetenz eine größere Ausdauer bei der Bewältigung von Aufgaben und eine niedrigere Anfälligkeit für Begleiterkrankungen wie Ängte und Depressionen haben, da sie sich erfolgreich erleben. Deshalb sollte ein zentrales Ziel des unterstützendem System sein, die Umgebung so zu gestalten, dass diese Erfahrung möglich ist! Wissen dazu zu vermitteln und Wege aufzuzeigen, wie das gelingen kann, sind zentrale Bausteine in den Beratungs- und Fortbildungsangeboten meiner Akademie (www.abcautismus.de).

Im Buch werden – und das ist ein zentrales Ziel der Arbeit nach dem TEACCH Ansatz – Materialien gezeigt, die einfach und ohne großen Aufwand herzustellen sind. Damit ist es möglich, das jeder Mensch, der es braucht, diese Unterstützung bekommt: flexibel, ohne großen Aufwand, lebensnah. Das Wissen um die Strategien der Visualisierung und Strukturierung erleichtert das Leben für jeden Menschen, besonders aber für Menschen, die unter den Bedingungen von Autismus leben!

Fazit

Zu den eingeführten und evidenzbasierten (auf empirische Belege gestützten) Methoden in der Förderung von Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung zählen visuelle Strukturierungshilfen. Das Buch beschreibt, welche Arten von visuellen Strategien es gibt und wie diese eingesetzt werden. In Form von einfachen und verständlichen Darstellung erhält die Leserschaft einen schnellen Zugang in die Thematik (und vor allem in wichtiges Hintergrundwissen), zahlreiche Fallvignetten stellen einen hohen Praxisbezug dar, diese werden durch Fotos von konkreten Materialien ergänzend visualisiert. Dieses Buch ist empfehlenswert!

Rezension von
Dipl.-Päd. Petra Steinborn
Tätig im Personal- und Qualitätsmanagement in einer großen Ev. Stiftung in Hamburg-Horn. Freiberuflich in eigener Praxis (Heilpraktikerin für Psychotherapie). Leitung von ABC Autismus (Akademie-Beratung-Coaching), Schwerpunkte: Autismus, TEACCH, herausforderndes Verhalten, Strategien der Deeskalation (systemisch), erworbene Hirnschädigungen
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Zitiervorschlag
Petra Steinborn. Rezension vom 21.09.2018 zu: Anne Häußler, Vera Bernard-Opitz: Sehen und Verstehen. Visuelle Strategien in der Förderung von Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung. Verlag W. Kohlhammer (Stuttgart) 2018. ISBN 978-3-17-030631-8. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/23947.php, Datum des Zugriffs 02.12.2023.


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