Maria Montessori (Hrsg.): Grundgedanken der Montessori-Pädagogik
Rezensiert von Ingeborg Müller-Hohagen, 18.06.2018

Maria Montessori (Hrsg.): Grundgedanken der Montessori-Pädagogik. Quellentexte und Praxisberichte.
Verlag Herder GmbH
(Freiburg, Basel, Wien) 2017.
25. Gesamt Auflage.
360 Seiten.
ISBN 978-3-451-32650-9.
D: 24,99 EUR,
A: 25,90 EUR,
CH: 32,50 sFr.
Harald Ludwig (Herausgeber).
Thema
Das Buch bietet Grundgedanken der Montessori-Pädagogik sowie Quellentexte und Praxisberichte.
Herausgeber
Harald Ludwig, langjähriger Professor für Montessori-Pädagogik an der Universität Münster, seit 2005 emeritiert.
Entstehungshintergrund
Begründet ist die Publikationsreihe durch Prof. Paul Oswald und Prof. Günter Schulz-Benesch, die beide zahlreiche Bücher in deutscher Sprache über Maria Montessori im Herder Verlag veröffentlicht haben.
Aufbau
Das Buch ist wie folgt aufgebaut:
- Originaltexte Maria Montessoris
- Die Praxis der Montessori-Pädagogik
- Montessori-Pädagogik in der Diskussion
- Leben und Werk Maria Montessoris
- Anhang
Zu Teil A
A I. Originaltexte Maria Montessoris. Hier wird der Weg der Maria Montessori von der Medizin zur Pädagogik beschrieben, dabei zunächst die Förderung behinderter Kinder, erst dann die Erziehung nicht behinderter Kinder. Es schließen sich Erfahrungen in den Kinderhäusern im Arbeiterviertel Roms an, in San Lorenzo. Eine weitere Linie im Wirken der Maria Montessori ist der Kampf für die Emanzipation der Frau, den sie mit der Teilnahme am Internationalen Frauenkongress 1896 in Berlin begann.
A II. Grundlagen meiner Pädagogik. Maria Montessori versteht unter Erziehung, der psychischen Entwicklung des Kindes von Geburt an zu helfen, wobei sie dessen Arbeit „als größte Schöpferarbeit der Menschheit“ sieht (S. 35). Dabei strebt das Kind nach Selbstständigkeit und Loslösung von den Erwachsenen hin zu einer freien Persönlichkeit. Die schöpferische Arbeit des Kindes soll der Erwachsene achten und jeweils nur Beobachter, Begleiter und Helfer bei diesem Prozess sein. Maria Montessori betont die Freiheit des Kindes, die dann erlangt ist, wenn es sich seinen inneren Gesetzen, seinen Bedürfnissen nach entfalten kann.
A III. Maria Montessori versteht ihre Pädagogik als Wissenschaft, als Integrationswissenschaft, d.h. althergebrachte Erfahrung mit Erkenntnissen der neuen Wissenschaft zu verbinden.
Sie hat von ihrem medizinisch-naturwissenschaftlich-positivistischen Denken her mit empirischen Methoden viele Untersuchungen in Schulen durchgeführt, z.B. ob intelligentere Kinder einen weiterentwickelten Schädel hätten als weniger intelligente. Sie studierte die Aufmerksamkeit, Gedächtnisleistung, Ideenvielfalt der Schüler. Seit ihren Erfahrungen im 1907 in Rom gegründeten Kinderhaus entwickelte Maria Montessori eine Pädagogik als „Experimentalwissenschaft zur 'Veränderung' der Persönlichkeit“ (S. 59). Sie betonte die Wichtigkeit der „Beobachtung“ von Seiten der Pädagogen – und diese sowohl „quantitativ messend als auch geistesgeschichtlich-verstehen“ (S. 59).
A IV. Anthropologische, entwicklungspsychologische und gesellschaftliche Grundlagen der Pädagogik. Von ihrem Lehrer Giuseppe Sergio hat Maria Montessori es übernommen, anstelle allgemeiner Prinzipien oder abstrakter philosophischer Ideen „das menschliche Individuum in seiner konkreten Lebenswirklichkeit zu setzen“ (S. 65). „Um zu erziehen, muss man den zu erziehenden Menschen kennen“ (S. 66). Sie bezeichnet das Kind als „Baumeister des Menschen“, das mit Potenzialen auf die Welt kommt, das eine Vorbereitete Umgebung braucht, Erwachsene, die es begleiten und ihm dabei helfen, sich selbst aufzubauen.
Als Grundprinzipien ihrer Pädagogik bezeichnet Maria Montessori
- den Absorbierenden Geist, der beim Kind unbewusst Dinge aus der Umwelt aufnimmt und verinnerlicht
- die sensiblen Perioden, Phasen, in denen das Kind verstärkt und nachhaltig Inhalte im Lernprozess verfolgt und verarbeitet
- die Polarisation der Aufmerksamkeit, heute in der Psychologie nach Mihaly-Csikszentemihalyi Flow genannt. Dieses Phänomen hat sie zuerst bei einem etwas dreijährigen Mädchen im Kinderhaus San Lorenzo in Rom beobachtet, ein Schlüsselerlebnis für Maria Montessori.
A V. Das religiöse Fundament. Maria Montessori sieht das Kind als Geschöpf Gottes, fordert eine tiefe Achtung vor Gott im Kind. Im Nachlass Montessoris wurde dazu ein Gebet gefunden, das 1944/45 in Indien entstanden ist, die Kommentierung erfolgte nach ihrer Rückkehr nach Europa zwischen den Jahren 1949 und ihrem Tod 1952.
A VI. Pädagogische Grundkonzepte
- Die Vorbereitete Umgebung war Maria Montessori sehr wichtig, sie ließ z.B. kleine, leichte Stühle und Tische bauen, welche die Kinder ohne Mühe bewegen konnten zur freien Einrichtung ihres Arbeitsplatzes.
- Disziplin versteht Maria Montessori als aktive Disziplin, als positive Leistung des Kindes. Sie meint nicht Unbeweglichkeit und Starrheit.
- Freiheit des Kindes heißt nicht, einfach alles machen zu können, was ein Kind will, vielmehr hat sie als Grenze das Gemeinwohl. Maria Montessori meint die Freiheit der Auswahl der Arbeit.
- Die Haltung der Erzieher, der Lehrer und der Eltern ist für Maria Montessori zentral wichtig. Ihre Aussagen dazu sind für die damalige Zeit und z.T. auch heute noch revolutionär, nämlich das Kind aktiv werden zu lassen und selbst Beobachter, Begleiter und Helfer im Entwicklungsprozess des Kindes zu sein. Sie stellt zwölf Forderungen an die Erzieher/Lehrer auf (S. 122f).
- Maria Montessori hat für die einzelnen Bereiche Materialien entwickelt, die Entwicklungsmaterial sind und mit deren Hilfe das Kind sich Sinnzusammenhänge erarbeiten kann. Isolierung einer einzigen Eigenschaft im Material, Wissenschaftlichkeit, Ästhetik, Fehlerkontrolle sind wesentliche Merkmale des Montessori-Materials.
A VII. Montessori-Institutionen. Für die Frühkindliche Entwicklung stellt Montessori als Hauptsachen heraus:
- „Man muss alle Formen der vernünftigen Betätigung des Kindes achten und sie zu verstehen suchen“ (S. 142).
- „Man muss den Tätigkeitsdrang des Kindes so weit wie möglich unterstützen, es nicht bedienen, sondern zur Selbstständigkeit erziehen“ (S. 145).
- „Da das Kind äußerlichen Einwirkungen gegenüber viel empfänglicher ist als wir glauben, müssen wir in unseren Beziehungen zu ihm sehr behutsam sein“ (S. 142).
Diese Grundsätze gelten sowohl für die frühkindliche Förderung (0 – 3 Jahre) als auch für das Montessori-Kinderhaus (3 – 6 Jahre) als auch für die Montessori-Grundschule (6 – 12 Jahre).
Im Montessori-Kinderhaus stehen im Mittelpunkt die Sinnesmaterialien und Materialien zur Vorbereitung auf das Schreiben und Rechnen.
Für die Montessori-Sekundarschule (12 – 18 Jahre) schlägt Maria Montessori den „Erdkinderplan“ vor, eine „Erfahrungsschule des sozialen Lebens zu schaffen“ (S. 169). Diese soll in ländlicher Umgebung stattfinden, als Internat mit Tätigkeitsmöglichkeiten für die Pubertierenden in Bauernhof, Gaststätte und Geschäft. Dafür hat sie einen Studien- und Arbeitsplan entwickelt.
A VIII. Dimensionen umfassender Menschenbildung. Maria Montessori gibt Informationen über
- Sprachliche Bildung
- Mathematische Bildung
- Musisch-künstlerische Bildung
- Sittliche und soziale Erziehung
- Stilleerziehung
- Religiöse Erziehung
- Friedenserziehung, die ihr sehr wichtig war: „Der wahre Friede bedeutet Sieg der Gerechtigkeit und der Liebe unter den Menschen, bedeutet eine bessere Welt, in der Harmonie herrscht“ (S. 215).
A IX. Kosmische Erziehung als integrierendes Bildungskonzept. „Die Sterne, die Erde, die Gestirne, alle Formen des Lebens bilden in enger Beziehung untereinander ein Ganzes; und so eng ist diese Beziehung, dass wir keinen Stein begreifen können, ohne etwas von der großen Sonne zu begreifen“ (S. 231). „In dem universalen Lehrplan, in welchem die neuen Generationen sich all die Einzelheiten der Bildung aneignen müssen, müssen diese als verschiedene Aspekte des Wissens von der Welt und dem Kosmos verbunden werden“ (S. 226). Zur Aufgabe des Menschen schreibt Maria Montessori: „Was ist die Aufgabe des Menschen in diesem wunderbaren All? Leben wir wirklich nur für uns hier, oder gibt es mehr für uns zu tun? Warum streiten und kämpfen wir? Was ist gut und böse? Wo wird das alles enden?“ (S. 231)
Zu Teil B
Im Teil B des Buches finden sich unter dem Titel „Die Praxis der Montessori-Pädagogik“ Artikel verschiedener Autoren zu unterschiedlichen Themen:
- „Montessori-Erziehung in Familie und Spielgruppe“ von Annette Onken (S. 235 – 241)
- „Das Montessori-Kinderhaus“ von Helene Helmig (S. 242 – 246)
- „Die Montessori-Grundschule“ von Klaus Elsner (S. 247 – 254)
- „Die Montessori-Sekundarschule“ von Michael Klein-Landeck (S. 255 – 266)
- „Montessori-Pädagogik in der Sonderschule“ von Karl Neise (S. 267 – 271)
- „Integrierte Erziehung behinderter und nicht behinderter Kinder in der Montessori-Pädagogik“ von Theodor Hellbrügge (S. 272 – 278)
- „Montessori-Pädagogik und Förderung hochbegabter Kinder“ von Harald Ludwig und Esther Grindel (S. 279 – 290)
- „Montessori-Pädagogik mit Senioren“ von Jutta Hollander (S. 291 – 303)
Zu Teil C
Im Jahr 1961 hat Günter Schulz-Benesch ein Buch veröffentlicht mit dem Titel „Der Streit um Montessori“. Er erörtert dabei wichtige Diskussionspunkte, die auch heute noch aktuell sind, nämlich kritische Stellungnahmen, bei Montessoris Pädagogik handele es sich um „Materialismus“, „Individualismus“, „Intellektualismus“. Harald Ludwig nimmt in dem rezensierten Buch diese Streitpunkte auf und fügt dem noch den Begriff „Mystizismus“ an.
Im zweiten Abschnitt beschreibt er Grundregeln für die wissenschaftliche Diskussion der Pädagogik Maria Montessoris, nämlich dass Standards hermeneutischer Arbeitsweise beachtet werden müssen, z.B. Äußerungen Montessoris nicht aus dem Zusammenhang gerissen werden dürfen. Insbesondere hebt er hervor:
- Man muss sich vor Augen halten, dass Montessoris Schriften keine systematisch aufgebauten Abhandlungen sind, sondern meist Mitschriften der überwiegend frei und in verschiedenen Sprachen gehaltenen Reden mit bilderreichen, leidenschaftlichen Ausdrücken.
- Montessori hat keine eindeutige Begrifflichkeit, übernimmt oft Begriffe anderer Autoren.
- Maria Montessori hat bis zu ihrem Tod an ihrer pädagogischen Konzeption gearbeitet und sie ständig überarbeitet.
- Es ist sicherlich wichtig, auch Montessoris Ausbildungskurse mit zum Verständnis heranzuziehen, die sie in Europa und der Welt gehalten hat.
Theorie und Praxis bei Maria Montessori
Der Autor neigt zu der Ansicht, dass Maria Montessori ihre Konzeption aus der Beobachtung des Lernprozesses von Kindern entwickelt hat. Sie selbst hat jahrelang mit Kindern in Rom am Institut für Sonderschullehrer gearbeitet.
Harald Ludwig weist darauf hin, dass auch im 21. Jahrhundert eine kritisch-konstruktive Auseinandersetzung in Theorie und Praxis wichtige Impulse geben kann, wenn es um eine Pädagogik geht, die Kindern und Jugendlichen helfen kann, ihren Bedürfnissen gemäß zu leben und zu lernen in einem friedlichen, demokratischen Umfeld.
Zu Teil D
In einer Zeittafel werden wichtige Daten der Maria Montessori angegeben, von ihrer Geburt 1870 in Chiaravalle in der Nähe von Ancona bis zu ihrem Tod 1952 in Noordwijk aan Zee in Holland.
Es folgt eine Auflistung ihrer Schriften in deutscher und in anderen Sprachen.
Zu Teil E
Im Anhang findet sich eine Übersicht über Sekundärliteratur zur Montessori-Pädagogik.
Diskussion und Fazit
„Grundgedanken der Montessori-Pädagogik“ ist tatsächlich ein grundlegendes Werk, das auf 360 Seiten einen sehr detaillierten Einblick in die Konzeption der Montessori-Pädagogik gibt.
Das Buch ist sinnvoll strukturiert. Es enthält einen großen Anteil an Texten der Maria Montessori. Die Quellentexte sind hervorragend kommentiert.
Besonders positiv ist es meiner Ansicht nach, dass auch Kritik an dieser Konzeption zu Wort kommt und fair beschrieben wird.
Lediglich zum Praxisteil des Buches muss ich etwas Kritik anmelden. Hier ist im Kapitel über die Erdkinder-Schule die Äußerung von Michael Klein-Landeck nicht zutreffend, dass es nur wenige Beispiele der Umsetzung in Deutschland gäbe. Allein in Bayern haben sich seit dem Jahr 2000 42 von 57 Montessori-Mittelschulen auf den Weg gemacht, den Erdkinderplan umzusetzen, und zwar mit großem Gewinn für die Persönlichkeitsentwicklung der Jugendlichen.
Das Buch kann ich Menschen, die sich etwas genauer über die Pädagogik Maria Montessoris informieren wollen, sehr empfehlen.
Es ist besonders geeignet auch für Teilnehmende von Montessori-Diplom- oder Zertifikatskursen.
Rezension von
Ingeborg Müller-Hohagen
Ehemalige Rektorin der Montessori-Schule Wertingen, ehemaliges Vorstandsmitglied des Montessori Landesverbands Bayern, Lehrbeauftragte für Montessori-Pädagogik an den Universitäten Augsburg und Passau, Dozentin der Montessori Bildungsakademie München
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