Heinz Naegler, Karl-Heinz Wehkamp: Medizin zwischen Patientenwohl und Ökonomisierung
Rezensiert von Prof. Dr. rer.medic. Martina Hasseler, 19.07.2018

Heinz Naegler, Karl-Heinz Wehkamp: Medizin zwischen Patientenwohl und Ökonomisierung. Krankenhausärzte und Geschäftsführer im Interview. MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft (Berlin) 2018. 300 Seiten. ISBN 978-3-95466-364-4. D: 39,95 EUR, A: 41,15 EUR, CH: 48,00 sFr.
Thema
Die Autoren Heinz Naegler und Karl-Heinz Wehkamp untersuchen die Frage, ob medizinische Leistungen durch betriebswirtschaftliche Vorgaben und unabhängig von medizinischen Indikationen in Krankenhäusern erbracht werden. Dafür legen sie eine qualitative Studie zugrunde und befragen mit Hilfe eines Interviewleitfadens 31 Geschäftsführer von Krankenhäusern und 32 Ärzte, die in Kliniken tätig sind. Der Komplexität der Fragestellung, der Methodik und der Auswertung entsprechend, stellt sich diese Projektpublikation als sehr umfangreich und differenziert dar.
Aufbau
Das Buch ist in VI Hauptkapitel unterteilt, die jeweils inhaltlich zugeordnete Unterkapitel enthalten. In Hauptkapitel I wird die Fragestellung und das methodische Vorgehen sowie die Stichprobe beschrieben. Im weiteren Verlauf werden in den Hauptkapiteln II und III die Ergebnisse dargestellt und in den Kapitel IV, Kapitel V und Kapitel VI jeweils unter den Themen „Ursachen der Ökonomisierung“, „Rahmen für unternehmerische und patientenbezogene Entscheidungen“ sowie „Gewinne erwirtschaften und Gewinne verwenden“ kritisch diskutiert und reflektiert. Das Buch schließt VII „Empfehlungen“ ab.
Die Deutsche Nationalbibliothek bietet Einblick in das vollständige Inhaltsverzeichnis.
Ausgewählte Inhalte
Die Inhalte der jeweiligen Kapitel sind äußerst dicht und komplex, sodass diese nicht an dieser Stelle im Einzelnen sinnvoll referiert werden können.
Wenig überraschend ist aus den Resultaten die Erkenntnis zu ziehen, dass die Perspektiven der befragten Geschäftsführer und der Ärzte sich in vielen Bereichen unterscheiden. So geben die Geschäftsführer bspw. an, dass sie die Ärzte nicht unter Druck setzen und sie nicht möchten, dass Interventionen ohne medizinische Indikation durchgeführt werden. Die Ärzte antworten überwiegend, dass sie sich durch die Medizincontroller sowie Geschäftsführer in den Einrichtungen und betriebswirtschaftliche Vorgaben unter Druck gesetzt fühlen.
Darüber hinaus scheinen die G-DRGs für die Entscheidungsfindung in der Leistungserbringung unbewusst bzw. bewusst eine Rolle zu spielen. In einigen Interviews wird der Eindruck bestätigt, dass Chefärzte oder andere Ärzte dazu aufgefordert werden, lukrative Eingriffe wie Gelenkersatz oder das Legen eines Herzkatheters häufiger vorzunehmen. Die Interviewergebnisse zeigen auch, dass die Bevorzugung von Wahlleistungspatienten oder Mehrfachaufnahmen aus wirtschaftlichen Gründen nicht unüblich sind. Mangelnde zeitliche Ressourcen für Anamnesen, Aufklärungen von Patienten, Einholen von Konsilen und Zweitmeinungen werden mehrfach geäußert. Demnach entsteht der Eindruck, dass sich sämtliches ärztliches Handeln dem betriebswirtschaftlichen bzw. ökonomischen Primat unterzuordnen hat.
In den letzten Jahren hat sich die Rolle der Ärzte geändert. Sie sind nicht mehr nur verantwortlich für die wirksame Behandlung von Patienten, sondern auch für die wirtschaftlichen Ergebnisse der Abteilungen und Krankenhäuser. Auch zeigt sich in den Ergebnissen ein immer noch hierarchisches und eher autoritäres Verständnis sowie Verhalten in den Kliniken, mit Geschäftsführern und Chefärzten an der Spitze, die von „oben nach unten“ die Vorgaben gestalten.
Die abschließend formulierten Empfehlungen sind von einem nicht ausdrücklich explizierten medizinethischen Verständnis getragen, die ein kooperatives und konstruktives Verhalten und Verhältnis aller Verantwortungsträger in den Kliniken implizieren. Sie berücksichtigen jedoch auch Vorschläge zur Kalkulation und Bewertung von Kosten in den Kliniken.
Fazit
Aus inhaltlicher und methodischer Sicht ist es äußerst sinnvoll, mit Hilfe einer qualitativen Herangehensweise die Perspektive von Geschäftsführern und klinisch tätigen Ärzte zur zunehmenden Ökonomisierung der klinisch stationären Leistungserbringung zu befragen. Der Projektbericht zeugt von einer profunden Kenntnis und Erfahrung der beiden Autoren zu dieser Thematik.
Methodisch fehlt jedoch eine Darstellung der Entwicklung und Zuordnung der Kategorien. Die Autoren geben an, dass sie sich an der Grounded Theory von Glaser und Strauss orientieren. Die Ergebnisse zeigen jedoch nicht eine datenbasierte Theorieentwicklung, so wie es die Grounded Theory intendiert, sondern es wird eher eine kategoriale Auswertung von Interviewdaten vorgestellt, die angemessen literaturbasiert diskutiert und kontextualisiert werden. Gleichwohl ist die Relevanz dieser Studie nicht zu schmälern, da erstmals die Perspektiven verantwortlicher Personengruppen in Kliniken vorgestellt werden. Die abschließenden Empfehlungen zur medizinischen und wirtschaftlichen Steuerung von Krankenhäusern leiten sich angemessen aus den Ergebnissen der Studie ab.
In dieser Studie fehlt die Perspektive der Pflegekräfte und anderer Berufsgruppen, die ebenfalls stark unter dem ökonomischen und betriebswirtschaftlichen Primat zu leiden haben. Es ist sogar anzunehmen, dass ohne die pflegerischen und weiteren Gesundheitsberufen die Empfehlungen nicht angemessen umzusetzen sind, da sie immer einen großen Teil der Prozesse der Patientenversorgung darstellen. Die Überversorgung mit Krankenhausbetten in Deutschland im internationalen Vergleich wird seit Jahren konstatiert. Die Ursachen dafür sind sicherlich vielfältig. Gleichwohl muss jedoch auch festgehalten werden, dass die sektorale Versorgung und Leistungserbringung sowie die gering interdisziplinär ausgerichtete Versorgung von Patienten in Deutschland zu der hohen Inanspruchnahme krankenhäuslicher Versorgung beiträgt. Im internationalen Vergleich hat Deutschland auch eine hohe Facharztdichte, ohne dass sich diese in geringeren Versorgung in den Kliniken oder weniger Krankenhausbetten sichtbar macht. Wir haben in Deutschland eine eher hochschwellige Versorgung von Patienten, die überwiegend ärztlich orientiert ist. Andere Berufsgruppen, die niederschwellig im wohnortnahen Bereich tätig werden könnten, finden in Deutschland kaum oder gar keine Berücksichtigung. Diesbezüglich fehlt es an wirksamen Konzepten, die zu einer besseren sektorenübergreifenden Versorgung und geringeren Inanspruchnahme von Krankenhausleistungen beitragen könnten.
Rezension von
Prof. Dr. rer.medic. Martina Hasseler
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