Kurt Möller, Florian Neuscheler (Hrsg.): "Wer will die hier schon haben?"
Rezensiert von Prof. Mag. Dr. Eva Fleischer, 15.07.2019

Kurt Möller, Florian Neuscheler (Hrsg.): "Wer will die hier schon haben?" Ablehnungshaltungen und Diskriminierung in Deutschland. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2018. 339 Seiten. ISBN 978-3-17-032799-3. 36,00 EUR.
Thema
Diskriminierung und Ausgrenzung aufgrund von Zuschreibungen entlang von Kategorien wie Geschlecht, Religionszugehörigkeit oder sexueller Orientierung sind Alltag in Deutschland. Um diese Phänomene zu beschreiben werden Konzepte wie „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“, „Pauschalisierende Ablehnungskonstruktionen“ oder „Hasskriminalität“ verwendet. In diesem Band werden zunächst die theoretischen Konzepte und deren Umsetzung in der Praxis anhand von exemplarischen Beispielen vorgestellt. Anschließend werden „Facetten antidemokratischer Haltungen“ wie „Rechtspopulismus, Ablehnung von Geflüchteten, Antimuslimische Haltungen, Islamismus, Antisemitismus, Homosexuellenablehnung und Sexismus“ aufgegriffen. Dabei wird jeweils auf die aktuelle Datenlage eingegangen und dann konkrete Beispiele aus der Sozial- und Bildungsarbeit kritisch diskutiert.
Herausgeber
- Kurt Möller ist an der Hochschule Esslingen Professor für Soziale Arbeit mit den Schwerpunkten Theorien und Konzepte Sozialer Arbeit, Jugendarbeit, Jugendpolitik sowie Kultur- und Bildungsarbeit.
- Florian Neuscheler ist dort wissenschaftlicher Mitarbeiter und forscht im Themenbereich Einstiegs- sowie Distanzierung- und Ausstiegsprozesse aus extremistischen Szenezusammenhängen.
Entstehungshintergrund
Der Sammelband ist beruht auf einer öffentlichen Vorlesungsreihe, die die Hochschule Esslingen im Wintersemester 2016/2017 zusammen mit der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg durchgeführt hat.
Aufbau
Das Buch enthält neben der Einleitung 18 Beiträge, die sich in zwei Teile gliedern.
- Im Teil „Grundlegende Konzepte“ (S. 21 – 130) werden die Ansätze zu „Rechtsextremismus und Hasskriminalität“, „Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“ sowie „Pauschalisierende Ablehnungskonstruktionen“ zunächst theoretisch erläutert und dann anhand konkreter exemplarischer Praxen in der Umsetzung dargestellt.
- Im Teil „Facetten antidemokratischer Haltungen“ (S. 131 – 324) werden einzelne Aspekte wie „Rechtspopulismus, Ablehnung von Geflüchteten, Antimuslimische Haltungen, Islamismus, Antisemitismus, Homosexuellenablehnung und Sexismus“ aufgegriffen. Dabei wird jeweils auf die aktuelle Datenlage eingegangen und dann konkrete Beispiele aus der Sozial- und Bildungsarbeit kritisch diskutiert.
Zu „Grundlegende Konzepte“
Nach einem kurzen Inhaltsüberblick im Kapitel „Zur Einführung“ (S. 9– 20) von Kurt Möller und Florian Neuscheler, beschäftigt sich Matthias Quent im ersten Buchteil mit den Begrifflichkeiten „Rechtsextremismus und Hasskriminalität“, deren „Gemeinsamkeiten und Unterschieden“ (S. 21-36). Zunächst skizziert er die unterschiedlichen Definitionen des Begriffs Rechtsextremismus und die Schwierigkeiten, die sich daraus ergeben, um dann auf den Begriff „Hasskriminalität (hate crime)“ (S. 25) einzugehen. Vorausgeschickt wird, dass es nicht um die Emotion Hass geht, da die entsprechenden Handlungen durchaus emotionslos durchgeführt werden können, sondern die Bezeichnungen „‚vorurteilsgeleitete Aktivitäten‘ oder ‚Vorurteilskriminalität‘“ (Coester zit. n. Quent 2018, S. 25) zutreffender wären. Weil sich aber der Begriff Hasskriminalität etabliert hat, verwendet ihn Quent weiter und findet ihn auch zielführender als den Begriff Rechtsextremismus, da Hasskriminalität den Fokus auf die Opferperspektive legt. Dieser Perspektivenwechsel bedeutet, dass danach gefragt wird, „warum, d.h. aufgrund welcher sozialen, historischen, politischen und situativen Umstände jemand zum Opfer wurde – und nicht danach, warum und wie jemand zum Täter wurde oder potenziell bedrohliche Einstellungen entwickelt“ (S. 26). Anschließend geht Quent auf die unzureichende Datenlage bei der Erfassung von Hasskriminalität ein, die eben nicht deckungsgleich mit „politisch motivierter Kriminalität“ (S. 27) ist. Der Beitrag schließt mit einem Appell, das Potenzial des Ansatzes theoretisch wie auch empirisch zu nutzen.
Frank Buchheit beschreibt mit „Aussteigerprogramme für Rechtsextremisten“ (S. 37-50) eine konkrete Umsetzungpraxis in der Sozialen Arbeit. Dies ist deshalb besonders schade, weil bei gerade die Abwertung von erwerbsarbeitslosen Menschen 2016 gleich hoch ausgeprägt war wie diejenige von geflüchteten Menschen (S. 65). Ausgehend vom Resonanz-Theorem von Hartmut Rosa skizziert er „Ein- und Ausstiege als biografische Prozesse“ (S. 39) und zeigt dann auf, wie dieses theoretische Wissen im Handlungsfeld „Distanzierungshilfen“ (S. 42) umgesetzt werden kann und welche Schwierigkeiten und Gratwanderungen sich dabei ergeben, wobei sich z.B. eine gute Zusammenarbeit mit der Polizei als kritischer Erfolgsfaktor erweist.
In seinem Beitrag „Menschenfeindliche Vorurteile“ (S. 53-74) liefert Andreas Zick eine umfassende Einführung in den Ansatz der „menschenfeindlichen Vorurteile“ (S. 55), der den „Begriff des sozialen Vorurteils mit der Konzeption Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit […] verbinden“ (ebd.) soll. Menschenfeindliche Vorurteile werden als „affektive, kognitive und/oder verhaltensbezogene Einstellungen“ (ebd.) definiert. Nach der Darstellung zentraler Grundannahmen des Ansatzes geht Zick auf die empirisch feststellbare Verbreitung der menschenfeindlichen Vorurteile in Deutschland ein. Abschließend stellt er weitere sozialpsychologische Zugänge zu Entstehungszusammenhängen und Funktionen sowie Überlegungen zu Prävention und Intervention dar.
Silke Baer schildert in ihrem Artikel „cultures interaktive – Praxis der Jugendkulturarbeit zur Prävention von GMF und Rechtsextremismus“ (S. 75 – 88), wie anspruchsvoll, aber auch lohnend die präventive Arbeit und die „frühe Distanzierungsarbeit mit rechtsextrem gefährdeten Jugendlichen“ (S. 83) ist.
Ein drittes Konzept und eine darauf aufbauende Strategie stellt Kurt Möller im Beitrag „Das Konzept ‚Pauschalierende Ablehnungskonstruktionen‘ (PAKOs) und die KISSeS-Strategie – Theoretische Grundlagen, empirische Befunde und zentrale Schlussfolgerungen“ (S. 91 - 110) vor. Möller entwickelt sein Konzept vor allem in Abgrenzung zum Konzept der „Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“(S. 91). Er kritisiert dessen Fokussierung auf Erwachsene und die quantitative Erhebungspraxis, die „Einstellungen“ erhebt, aber die Verhaltensebene nicht erfasst, deshalb schlägt er vor, von „Haltungen“ (S. 93) zu sprechen, um „Orientierungen und Aktivitäten“ (ebd.) in den Blick zu bekommen. Darüber hinaus findet er die unscharfen und unklaren Begrifflichkeiten bei den Kategorien und Ablehnungsgraden nicht hilfreich. Weiter kritisiert er die „Ideologie der Ungleichwertigkeit“ (S. 94) als „verbindendes Kernstück“ unzureichend. In seinem Modell der PAKOs, das insbesondere für die rekonstruktive Sozialforschung geeignet sein soll, werden die Ablehnungshaltungen nach „Stärkegraden“ aufgefächert, für Begriffe wie „Fremdenfeindlichkeit“ werden Alternativen vorgeschlagen (herkunfts- und migrationsbezogene Ablehnungshaltungen) (S. 99). Das Interventionsmodell der KISSes-Strategie beruht auf den Säulen „Kontrolle“, „Integration“, „Sinnstiftung und -zuschreibung“, „Sinnlichkeit“, „erfahrungsstrukturierende Repräsentationen“, „Selbst- und Sozialkompetenzen“ (S. 107 – 108). Wie dies konkret umgesetzt werden kann, beschreiben Wiebke Aits, Jens Jakobs, Dennis Rosenbaum und André Taubert anschließend unter dem Titel „KISSeS für Jugendliche – Erfahrungen aus der aufsuchenden, akzeptierenden Jugendarbeit im Hinblick auf den Abbau von Pauschalisierenden Ablehnungskonstruktionen“ (S. 112 – 125).
Zu „Facetten antidemokratischer Haltungen“
Im zweiten Teil des Buches „Facetten antidemokratischer Haltungen“ (S. 131 – 324) finden sich Beiträge zu folgenden Themen:
- „Rechtspopulismus“: Frank Decker gibt in seinem Beitrag einen „Überblick“ über den „Rechtspopulismus in Europa“ (S. 131), Florian Neuscheler, Lars Schäfer, Peter Anhalt, Alexander Brammann, Christopher Kieck und Guido Oldenburg beschreiben ein Projekt zur „Fachkräftequalifizierung zur Arbeit mit rechtsextrem orientierten Eltern – Kommunales Mentoring am Beispiel des Projekts KOMMENT“ (S. 144 – 164).
- „Ablehnung von Geflüchteten“: Albert Scherr liefert unter dem Titel „Ablehnung und Solidarität gegenüber Geflüchteten. Daten, Kontexte und Begünstigungsfaktoren“ (S. 165-183) erste Daten und Erklärungsansätze zu diesem Phänomen, wobei er besonders auf den Zusammenhang zwischen staatlichen Politiken und Einstellungen der Bevölkerung eingeht. Teresa Ewen, Ulrike Kammerer und Felix Steinbrenner analysieren die „Kommunalen Flüchtlingsdialoge“ (S. 184) in dem Beitrag „‚Das klärt sich nicht von selbst‘ – Bürgerbeteiligung auf dem Weg zur Integration im Praxistest“ (S. 184 - 196).
- „Antimuslimische Haltungen“: Wolfgang Frindte und Nico Dietrich präsentieren in einem individual- und sozialpsychologischen Zugang aktuelle Daten zu „Einstellungen zu Muslimen und zum Islam“ (S. 197 – 212). Ibrahim Ehtem Ebrem und Ursula Adrienne Krieger diskutieren „Optionen der pädagogischen Bearbeitung von Antimuslimischem Rassismus“ (S. 213 – 222) im Arbeitsfeld Schule.
- „Islamismus“: Im Beitrag von Michaela Glaser, Joachim Langner und Nils Schuhmacher vergleichen die Autor*innen „Rechtsextremismus und gewaltorientierte[n] Islam im Jugendalter“ und gehen dabei auf „Forschungsstände zu Motiven, biografischen Hintergründen und Sozialisationserfahrungen“ (S. 223-241) ein. Thomas Mücke schildert entlang von konkreten Beratungsfällen aus der Praxis „Pädagogische Handlungsansätze zur Deradikalisierung im Arbeitsfeld des religiös begründeten Extremismus“ (S. 242 – 260).
- „Antisemitismus“: Samuel Salzborn setzt sich in seinem Beitrag „Die Zunahme schweigender Gleichgültigkeit: Antisemitische Radikalisierungen und das Versagen der Demokratie“ (S. 262-273) mit den unterschiedlichen Artikulationsformen des Antisemitismus auseinander und weist darauf hin, dass Antisemitismus zunehmend mit „Gleichgültigkeit“ (S. 262) begegnet wird bzw. „neue Allianzen“ von „Islamisten, Neonazis und Linksextremisten“ (S. 267) die Bekämpfung schwierig machen. Die Arbeit der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus schildern Jan Harig, Malte Holler, Anne Goldenbogen, Inva Kuhn und Ruth Fischer in dem Artikel „Dialektik statt Hektik: über Herausforderungen antisemitismuskritischer Bildungsarbeit“ (S. 274 – 290).
- „Homosexuellenablehnung und Sexismus“: Ulrich Klocke beschäftigt sich unter dem Titel „Homo- und Transfeindlichkeit in Deutschland: Erscheinungsformen, Ursachen und Interventionsformen“ (S. 291 – 308) mit den „Diskriminierungserfahrungen von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Trans*-Menschen“ (S. 291) und stellt Überlegungen an, wie dagegen interveniert werden könnte. Carina Utz gibt einen Einblick in die „LSBTIQ*Bildungsarbeit“ am Beispiel von „FLUSS e.V. Freiburg“ (S. 309 – 324), die vor allem im schulischen Bereich tätig ist.
Diskussion
Es ist das Verdienst des Bandes, dass drei relevante Zugangsweisen zum Verständnis von Vorurteilen und Diskriminierung vorgestellt werden, schade ist, dass eine kritische Auseinandersetzung untereinander nur teilweise stattfindet. So formuliert Kurt Möller seine Kritik am Konzept der „Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“, sein Konzept der „Pauschalisierenden Abwehrkonstruktionen“ bleibt aber unhinterfragt, auch fragt Matthias Quent danach, wo sich „Rechtsextremismus“ und „Hasskriminalität“ unterscheiden bzw. Gemeinsamkeiten vorweisen, auf die zwei anderen Konzepte nimmt er allerdings nicht Bezug. Eine integrierende Zusammenschau am Ende des Bandes wäre hier hilfreich gewesen.
Ärgerlich ist, dass im letzten Abschnitt das Thema Sexismus zwar in der Überschrift auftaucht, in den Beiträgen geht es aber ausschließlich um die Zielgruppe der LSBITQ*-Personen. Sexismus im engeren Sinn als Ausdruck der ungleichen Machtbeziehungen zwischen Männern und Frauen, wird nicht behandelt. Dies verwundert umso mehr, als mit der #metoo-Debatte das Thema verstärkt in die Öffentlichkeit gerückt ist – hier werden falsche Erwartungen erzeugt. Generell stellt sich die Frage nach der Auswahl der relevanten Diskriminierungskategorien. So fehlen Beiträge zu „Ablehnungshaltungen gegenüber gesellschaftlichem ‚underperforming‘“, die auf Ungleichheitsideologien wie Klassismus, Ageismus oder Lookismus beruhen. Dies deshalb besonders schade, weil bei gerade die Abwertung von erwerbsarbeitslosen Menschen 2016 gleich hoch ausgeprägt war wie diejenige von geflüchteten Menschen (S. 65). Insofern kann das Buch nicht die Erwartung erfüllen, dass alle zentralen Problemfelder behandelt werden.
Abgesehen davon bietet das Buch eine spannende Verknüpfung von theoretischen Konzepten und theoriegeleiteter Praxis und ist damit für sowohl für Praktiker*innen als auch Wissenschaftler*innen interessant. Dies umso mehr, als deutlich wird, dass sowohl theoretische Zugänge wie auch die Umsetzung in der Praxis einer stetigen Weiterentwicklung bedürfen, um den gesellschaftlichen Prozessen Rechnung zu tragen. Ebenso wird sichtbar, dass die unterschiedlichen Praxisfelder bzw. Diskriminierungszusammenhänge spezifische Herangehensweisen erfordern.
Schön wäre gewesen, wenn auch andere Ansätze der vorurteilsbewussten pädagogischen Arbeit wie z.B. Social Justice und Anti-Bias, die im selben Feld tätig sind, Erwähnung gefunden hätten, da diese weitere theoretische wie praktische Aspekte beigetragen hätten.
Fazit
Die Publikation verbindet theoretische wie praktische Zugänge zu Stereotypen, Vorurteilen, Ablehnungshaltungen und Diskriminierung und bietet damit einen guten Einblick in einen Ausschnitt der deutschen Diskussion. Hervorzuheben ist die Anstrengung, Theorien und Praxis in einen gegenseitigen Bezug zu setzen.
Rezension von
Prof. Mag. Dr. Eva Fleischer
Professorin am Studiengang für Soziale Arbeit, Management Center Innsbruck
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