Nicolas Dobra: Die Utopie sozialer Gerechtigkeit
Rezensiert von Prof. Dr. Dr. habil. Peter Eisenmann, 30.10.2018

Nicolas Dobra: Die Utopie sozialer Gerechtigkeit. Zur Dialektik von Verdienst und Gleichheit. Kulturverlag Kadmos (Berlin) 2017. 310 Seiten. ISBN 978-3-86599-353-3. D: 29,80 EUR, A: 30,70 EUR.
Thema
Der Autor wendet sich der Frage zu, inwieweit es sich bei der in jeder politischen Diskussion relevanten und gesellschaftlich hinsichtlich deren Umsetzbarkeit nicht doch um eine utopistische Fragestellung im Bezug auf der Wertvorstellung von sozialer Gerechtigkeit handelt?
Dabei erarbeitet Dobra einen Dreischritt, um zum einen aus im Alltag von jedermann hin und wieder geäußerten situativen Urteilen das gemeinsame Grundverständnis von Gerechtigkeit zu destillieren und zum anderen anhand dieses Geländers die bedeutendsten zeitgenössischen Theoretiker sozialer Gerechtigkeit akribisch zu lesen und in konstruktiver Absicht zu kritisieren, um schließlich im dritten Schritt in ersten Ansätzen eine gerechtere Zukunftsgesellschaft zu skizzieren, deren quer zu tradierten Ideologien liegendes System sich ethischer Sozialismus nennen ließe (vgl. Klappentext).
Herausgeber
Dr. phil. Nicolas Dobrastudierte Philosophie, Germanistik und Politikwissenschaft an der FU Berlin und arbeitet heute als Schriftsteller und freier Lektor (www.lektorat-in-berlin.de).
Entstehungshintergrund
Das Buch ist offensichtlich vor dem Hintergrund einer allgegenwärtigen gesellschaftlichen wie auch politischen Debatte über die Problematik einer Definierbarkeit dessen, was soziale Gerechtigkeit ausmacht, bzw. wie diese überhaupt erziel- und umsetzbar erscheint, zu sehen. Dabei geht der Autor von demoskopischen Erhebungen zum Thema und einem daraus resultierenden Unbehagen der Bürger hinsichtlich der bestehenden Sozialverhältnisse aus.
Aufbau
Das Buch eröffnet mit einem ausführlichen Einleitungskapitel in die Thematik, um sodann diese in vier unterschiedlich differenzierende Kapitel abzuhandeln.
- Im ersten Kapitel werden Gerechtigkeitsurteile anhand von alltagsnahen Beispielen untersucht.
- Das zweite Kapitel geht der Korrelation von Gleichheit und Gerechtigkeit, bzw. dem, was Gerechtigkeit mit Gleichheit – unter besonderer Berücksichtigung der wegweisenden Überlegungen von John Rawls - zu tun hat, auf die Spur.
- Im dritten Kapitel arbeitet Dobra den Konnex zwischen Verdienst und Gerechtigkeit auf, indem er sich der Frage stellt, „was mit der Forderung gemeint ist, jeder solle dasjenige bekommen, was ihm zusteht bzw. was er sich verdient hat“ (S. 20).
- Das mit ‚Skizze einer gerechteren Gesellschaft‘ überschriebene Schlusskapitel geht der Frage nach, wie eine Gesellschaft und ihre Institutionen aussehen müssten, wenn eine gerechte Verteilung der von den Mitgliedern einer Gesellschaft erstrebten Grundgüter verwirklicht werden soll?
Die Deutsche Nationalbibliothek bietet Einblick in das vollständige Inhaltsverzeichnis.
Zum ersten Kapitel
Natürlich muss sich der Autor zunächst mit dem beschäftigen, was in der alltäglichen Auseinandersetzung mit der Vorstellung von sozialer Gerechtigkeit unter Betonung dessen, was unter ‚gerecht‘ verstanden wird bzw. gemeint sein könnte. Dobra untersucht deshalb die Bedeutungen der Begrifflichkeiten von ‚gerecht‘, ‚verdient‘, ‚fair‘ und ‚gleich‘ in ihrer alltäglichen Verwendung, indem er Bedeutungsfelder und Bedeutungsgeflechte darstellt. Dabei erkennt er beispielsweise, dass ‚gerecht‘ häufig in dem Sinne verstanden wird, dass sich jemand etwas verdient hat und somit als ‚ungerecht‘ empfunden wird, wenn jemand nicht das bekommt, was er eigentlich verdient hätte.
Hinsichtlich der Begrifflichkeit ‚fair‘ konstatiert der Autor – nach seitenlanger dialektischer Sophisterei – dass es sich eigentlich um den Verstoß gegen die Behandlung Ungleicher als Gleiche handelt und es hinsichtlich des Begriffs der Fairness bei John Rawls um eine andere Sichtweise geht, da bei diesem Fairness für das Verständnis von Gerechtigkeit fundamental ist.
Dobra überprüft in ähnlicher Weise die Semantik der Prädikate ‚gleich‘ und ‚gerecht‘; er erkennt in dem Attribut ‚gleich‘ die letzte wichtige Komponente, die in unseren alltäglichen Gerechtigkeitsurteilen eine Rolle spielt und mit den Gleichheitsurteilen quasi dadurch verwandt ist. Schließlich schließt Dobra dieses erste Kapitel mit der Erkenntnis, dass in kausaler Hinsicht sich die Wertvorstellungen von Fairness, Gleichbehandlung und Verdienst hinsichtlich des Erzielens eines gerechten Ergebnisses ergänzend bedingen.
Zum zweiten Kapitel
Nach dieser eher grundlegenden Abklärung von auf Gerechtigkeit bezogenen Begrifflichkeiten wendet sich der Autor nunmehr in seinem zweiten Kapitel, das wohl als Kernaussage zu verstehen ist, dem Konnex von Gleichheit und sozialer Gerechtigkeit zu. Dabei sieht er die Erlangung von sozialer Gerechtigkeit gewissermaßen als Versuch, sowohl einer soziologischen wie auch einer eher persönlichen Lebensbetrachtung gleichermaßen gerecht werden zu wollen, „um aus beiden heraus möglichst klare Kriterien und Grundsätze für den Entwurf einer gerechten Gesellschaft zu gewinnen“ (S. 68).
Ehe er sich sodann im Wesentlichen dabei mit dem Egalitarismus bei Rawls auseinandersetzt, bringt er Herbert Spiegelberg ins Spiel, um anhand von dessen Texten herausfinden zu können, was Gleichheit mit sozialer Gerechtigkeit bzw. gerecht mit gleich zu tun hat. Er stützt sich dabei auf zwei in den Jahren 1944 und 1961 von Spielberg veröffentlichte Essays, die „den egalitaristischen Begriff der sozialen Gerechtigkeit auf ein solides Fundament zu stellen vermögen“ (S. 69) und die eine Gleichheit ausfindig machen, die sowohl für die einzelnen Individuen wie auch für die staatlichen Institutionen Gültigkeit haben könnten. Dabei finden menschliche Eigenschaften und Verhaltensweisen ebenso Berücksichtigung wie Wertvorstellungen, die sich aus unterschiedlichen Quellen speisen.
Dobra erkennt in diesem Zusammenhang, dass eine derartige Gleichheitsforderung sich dann als ‚schwach‘ erweisen müsse, wenn sie an Gerechtigkeit gekoppelt werde – und begründet es damit, dass eine derartige Koppelung bzw. Formel, „jedem die gleiche Chance einzuräumen seine jeweiligen Fähigkeiten zu entwickeln und zu demonstrieren,… weder etwas darüber aus(sagt), wie die angeborenen und familiär ansozialisierten Fähigkeiten verteilt sind, noch in welchen sonstigen kulturellen und finanziellen Umständen die Individuen aufwachsen“ (S, 73). Im weiteren Verlauf der Analyse von Spiegelberg geht der Autor noch auf die Semantik des Prädikats ‚unverdient‘ im Egalitarismus ein, sucht dessen Bedeutung im sozialen Kontext und den Zusammenhang mit dem, was gerecht ist bzw. bei beiden die Verbindung in der Negativierung der Begriffe.
Die Beschäftigung mit dem Egalitarismus von John Rawls gründet auf dessen Schrift ‚A Theory of Justice‘ aus dem Jahr 1971, die deshalb seit vier Jahrzehnten als Klassiker hinsichtlich der Eruierung dessen, was unter (sozialer) Gerechtigkeit verstanden werden kann, bezeichnet wird, weil hiermit eine Konzeption hinsichtlich der Verteilung von Gütern in einem modernen demokratischen Staat in politischer, rechtlicher wie auch sozialpolitischer und -philosophischer Hinsicht vorgelegt worden ist.
Dobra ist keinesfalls einer der ersten, der sich mit dem Gegenstand der sozialen Gerechtigkeit bei Rawls und dessen Ausgangspunkt von der ‚Grundstruktur der Gesellschaft‘ auseinandersetzt. Ähnlich wie andere, konstatiert er eine gewisse Unschärfe, die im Verhältnis von Gesellschaft und institutioneller Rahmenstruktur bestünde (vgl. S. 101) und begründet dies damit, dass es durchaus fragwürdig sei, „ob es tatsächlich die Grundstruktur der Gesellschaft ist, die verschiedene von den Institutionen entscheidend beeinflusste soziale Positionen enthält und nicht bereits die Gesellschaft selbst als ein Raum aller in ihr vorhandenen sozialen Positionen und Fakten“ (ebd.). Weitere Untersuchungen der Rawlsschen Theorie der Gerechtigkeit finden hinsichtlich dessen Postulierung des Prinzips ‚Fairness‘ und u.a. auch der Annahme eines ‚Urzustandes‘ statt. Es sind kritische Auseinandersetzungen mit der Verbindung von Theorie und Intuition, mit dem Zustand des Nichtwissens in Bezug auf das Ausklammern der eigenen natürlichen Bedürfnisse des Menschen. Des weiteren folgen kritische Analysen des Prinzips der fairen Chancengleichheit und des Differenzprinzips, welches nicht im Sinne eines sozialen Umverteilungsprinzips zu verstehen sei (vgl. 178 ff.), wenngleich es dieses rechtfertigen würde.
Wie Dobra feststellt, hat er die Gerechtigkeitsgrundsätze bzw. -prinzipien mit dem Gerechtigkeitsprinzip der verdienstethischen Gerechtigkeitsintuition konfrontiert, welches die Forderung aufstelle, „dass alles Unverdienbare, so es denn ginge, gleich verteilt werden müsste“ (S. 185). Die Intention des Autors besteht darin, dass die natürlichen und sozialen Ausgangsbedingungen der Gesellschaftsmitglieder unabhängig vom Zufall der Geburt erworben werden müssten. So würde man zu einer gerechten Chancengleichheit, die gleiche reale Chance auf bessere Positionen etc. verspricht, kommen – was so weder Rawls noch Dobra für realistisch und damit umsetzbar halten, da die in der Theorie angenommenen Voraussetzungen von den gleichen Startbedingungen und einer durch Sozialisation fairen Nicht-Benachteiligung oder -Bevorzugung illusorisch erscheinen müssen.
Die kritischen Betrachtungen zu Rawls Theorie der Gerechtigkeit münden in die Postulierung von Grundsätzen sozialer Gerechtigkeit „mit denen wir das gesellschaftliche Positionsgefüge zur Disposition stellen, weil wir es ansonsten stillschweigend als immer schon gerecht voraussetzen müssten“ (S. 216). Dobra nennt
- das liberale Prinzip der fairen Chancengleichheit als Vergabeprinzip,
- das Prinzip der realen Einkommenschancengleichheit,
- das Prinzip des verdienten Verdienstes und
- das Prinzip des egalitären materiellen Erbes
und fordert, dass diese Gerechtigkeitsgrundsätze von den Bewohnern des Urzustandes hinter dem Schleier des Nichtwissens hätten verabschiedet werden müssen und er kommt zu dem Schluss, dass nur die Gerechtigkeitsprinzipien des egalitären Erbes und der realen Einkommenschancengleichheit, nicht aber das Prinzip der fairen Chancengleichheit selbst, als Vergabeprinzip nur teilweise der Gerechtigkeitsintuition gerecht werden.
Zum dritten Kapitel
Nicolas Dobra wendet sich im dritten Hauptkapitel seines Buches dem Konnex von Verdienst und sozialer Gerechtigkeit und hier insbesondere dem Verdienstkonzept von David Miller zu. Dieser entwickelt eine pluralistische Gerechtigkeitskonzeption, die sich kritisch mit den von den Egalitaristen vertretenen Auffassungen, dass Gerechtigkeit als Gleichheit verstanden wird, auseinandersetzt. Der Autor rekurriert darauf, dass Miller die drei Assoziationsformen: Gemeinschaft, Zweckverband und Staat hinsichtlich dreier unterschiedlicher und jeweils autonomer Gerechtigkeitsmaßstäbe: Bedürfnis, Verdienst und Gleichheit unterscheidet – und dadurch die Problematik ‚sozialer Gerechtigkeit‘ lösbar erscheint.
Zum vierten Kapitel
Der Autor schließt sein Werk mit dem Versuch einer Skizzierung einer gerechteren Gesellschaft ab, kreiert quasi eine neue Gesellschaft am ehesten auf der Basis eines „historisch unverbrauchte(n) und assoziativ unvorbelastete(n) … ethischen Sozialismus“ (S. 298), in welchem es nicht darum gehe, „den Staat gegen das Privateigentum und die private Initiative auszuspielen, die Produktivkräfte zu verstaatlichen oder auf eine hohe Staatsquote im Wirtschaftsleben hinzuwirken“, sondern vielmehr darum, demokratisch gewählte Verfassungsorgane, parlamentarische Entscheidungen, die auf den Gerechtigkeitsintuitionen der Bürger fußen, oder etwa eine Synthese sozialistischer und marktwirtschaftlicher Elemente des Wirtschaftssystems anzunehmen und zu integrieren. Der Autor erkennt in seinem Modell eine Gesellschaft des ethischen Sozialismus als dezidierte Mittelstandsgesellschaft mit moderaten Unterschieden an Einkommen und selbst erworbenem Besitz.
Diskussion
Der Autor hat es sich erklärtermaßen in seinem Buch zur Aufgabe gemacht, die Utopie sozialer Gerechtigkeit in einem Dreischritt zu entwickeln, indem er zum einen „aus im Alltag von jedermann hin und wieder geäußerten Urteilen das gemeinsame Grundverständnis von Gerechtigkeit zu destillieren“ versucht, was jedoch aufgrund erheblicher dialektischer Anstrengungen, die in nicht selten verklausulierten Gegensätzlichkeiten und Infragestellungen münden, kaum erkennbar werden und somit nicht zu überzeugen verstehen.
Zum anderen folgen sehr umfangreiche durchaus kritische Analysen und Untersuchungen der einschlägigen, die (soziale) Gerechtigkeitsproblematik thematisierende Werke von Spiegelberg, Rawls und Miller. Dabei sind die Erkenntnisse insbesondere hinsichtlich des Rawlsschen Hauptwerks ‚A Theory of Justice‘, trotz höchst umfangreicher Darlegungen, in keiner Weise neue Erkenntnisse erbringend.
Schließlich unternimmt es der Autor in seinem dritten Schritt Ansätze einer gerechteren Zukunftsgesellschaft zu skizzieren, indem er quasi eine Verknüpfung unseres bestehenden demokratischen und marktwirtschaftlich orientierten politischen Systems mit Vorstellungen von einem ethischen Sozialismus vornimmt. Dabei ist es wohl die von Dobra in die wissenschaftliche Diskussion eingebrachte Verbindung von ethischen Werte- mit sozialistischen Grund-Vorstellungen, die in gewisser Weise Neuland betritt, ohne jedoch modellhaft konkretisiert zu werden.
Fazit
Nicolas Dobra hat ein umfängliches Werk vorgelegt, das insgesamt gesehen nur dann seinem Anspruch gerecht wird, wenn man – wie bei einer Utopie nicht anders zu erwarten – sich ein Wunschbild sucht, das ohne reale Grundlage bleibt. Sicher verspricht die Auseinandersetzung mit dem Gerechtigkeitsbegriff per se, aber auch und gerade hinsichtlich interpretierbarer Prädikate eine reizvolle Lektüre, obwohl das eigentliche erkenntnisleitende Interesse durch einen nicht selten verklausulierten und in epischer Breite zerpflügten Stil der Darlegung Gefahr läuft verdeckt zu bleiben.
Rezension von
Prof. Dr. Dr. habil. Peter Eisenmann
Professor (em.) für Andragogik, Politikwissenschaft und Philosophie/Ethik an der Technischen Hochschule Würzburg-Schweinfurt, Fakultät Angewandte Sozialwissenschaften
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