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Nicole Rose, Stefanie Richter: Entwicklung und Umsetzung quartiersbezogener Wohnprojekte für ein selbstbestimmtes Leben im Alter

Rezensiert von Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind, 16.07.2018

Cover Nicole Rose, Stefanie Richter: Entwicklung und Umsetzung quartiersbezogener Wohnprojekte für ein selbstbestimmtes Leben im Alter ISBN 978-3-7388-0014-2

Nicole Rose, Stefanie Richter: Entwicklung und Umsetzung quartiersbezogener Wohnprojekte für ein selbstbestimmtes Leben im Alter. Praxisleitfaden für Kleinstädte und Gemeinden in strukturschwachen ländlichen Räumen. Fraunhofer IRB Verlag (Stuttgart) 2017. 76 Seiten. ISBN 978-3-7388-0014-2. D: 23,50 EUR, A: 24,20 EUR, CH: 39,50 sFr.

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Thema

Wohnen im Alter ist ein zentrales Strukturelement in einer alternden Gesellschaft, sind doch hiermit u.a. Fragen wie die Zugänglichkeit zu Versorgungseinrichtungen, Freizeitangeboten und auch medizinischen Dienstleistungen (Hausarzt u.a.) verknüpft. Auch der barrierefreie Zugang zu Haus und Wohnung sind mit zunehmendem Alter von strategischer Bedeutung. In diesem Arbeitsfeld werden gegenwärtig in verschiedenen Bereichen Innovationen konzipiert, die letztlich alle zur Optimierung der Person-Umwelt-Passung älterer Menschen in ihrem Umfeld beitragen sollen.

Entstehungshintergrund

Die vorliegende Publikation ist das Resultat eines Forschungsprojektes, das im Rahmen der Forschungsinitiative „Zukunft Bau“ des Bundesinstitutes für Stadt-, Bau- und Raumforschung in Zusammenarbeit mit der Joseph-Stiftung Bamberg und dem Caritasverband für die Erzdiözese Bamberg im Zeitraum von 2014 bis 2016 durchgeführt wurde.

Autorinnen

Nicole Rose ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Joseph-Stiftung in Bamberg, Referat Wohnen und Soziales. Prof. Dr. Stefanie Richter von der Wilhelm Löhe Hochschule in Fürth ist Autorin des zweiten Kapitels und arbeitete zusätzlich als Beraterin bei der Abfassung der vorliegenden Publikation.

Aufbau und Inhalt

Die Publikation ist in fünf Kapitel nebst Anhang untergliedert. Der Text wird zusätzlich durch 42 Abbildungen und fünf Tabellen illustriert.

Die Deutschen Nationalbibliothek zeigt das vollständige Inhaltsverzeichnis.

Kapitel 1 (Einleitung, Seite 6 – 7) enthält knapp die Problemlage von Kommunen im strukturschwachen und ländlichen Bereich in Gestalt von Schrumpfungs- und Alterungsprozessen. Hier sollen dann quartiersbezogene Wohnprojekte Abhilfe schaffen. Der vorliegende Leitfaden ist für Kommunen, Wohlfahrtsverbände, aber auch Wohnungsunternehmen und so genannte „bürgerschaftliche getragene Initiativen“ als Orientierung gedacht. Das Kernstück dieses Konzeptes besteht aus der „Installation eines umfassenden Quartiersmanagements“. Hierfür wurden u.a. in fünf Orten des ländlichen Raums (Teuschnitz, Hollfeld, Lehrberg, Altenkunstadt und Pegnitz) die Wohnverhältnisse älterer Menschen analysiert.

Kapitel 2 (Warum? Demographischer, epidemiologischer und gesellschaftlicher Wandel mit besonderen Konsequenzen für (Klein)Städte und Gemeinden in ländlichen und strukturschwachen Räumen, Seite 8 - 18) beinhaltet Prognosen für die Entwicklung im ländlichen Raum und in strukturschwachen Regionen auf der Grundlage des vorliegenden statistischen Datenmaterials. So ist z.B. Oberfranken in nächster Zeit von einer abnehmenden und zugleich alternden Bevölkerung gekennzeichnet. Im Landkreis Wunsiedel im Fichtelgebirge (Oberfranken) wird bis 2035 mit einer Verminderung der Bewohner um 15,2 Prozent gerechnet. Des Weiteren wird der Wegzug der Jüngeren und zugleich Berufstätigen mit den damit einhergehenden Einbußen an Kaufkraft und Steuerleistungen für die Kommunen prognostiziert mit entsprechend negativen Auswirkungen auf die Infrastrukturelemente wie ortsnahe Versorgung mit Lebensmitteln, Nahverkehr und Gaststätten. Bereits 2005 wurde erhoben, dass ca. 40 Prozent der ländlichen Bevölkerung ohne Lebensmitteleinzelhandel im eigenen Ort leben muss. Als Lösungsstrategien zur Kompensation und Minderung der wachsenden Ausdünnung verschiedener Versorgungs- und Dienstleistungsangebote besonders für die älteren Bevölkerungsteile werden Modelle einer verstärkten Vernetzung aller Anbieter in einer Region favorisiert u.a. in Verbindung mit mobilen Praxen, Telemedizin und erweiterten Handlungskompetenzen der Fachpflegemitarbeiter.

In Kapitel 3 (Was und Wozu? Wohnmodelle für ein selbstbestimmtes Leben im Alter: Initialzündung für eine altengerechte Quartiersentwicklung, Seite 19 – 34) wird zu Beginn die so genannte „Wirkungslogik“ des Wohnmodells für ältere Menschen mit Unterstützungsbedarf dargelegt. Im Wesentlichen besteht sie aus der Kombination eines quartiersbezogenen Wohnprojektes mit einem Quartiersmanagement mit der Zielperspektive des Verbleibs in der Kommune bis zum Lebensende. Als konstituierende Elemente des Wohnmodells werden angeführt: die altengerechte Wohnanlage für das gemeinschaftliche Wohnen, das moderierte Zusammenleben in der Anlage, der Aufbau von „Sorge- und Pflegestrukturen“ und Impulse für die Quartiersentwicklung mit dem zentralen Entwicklungsmodell des Quartiersmanagement. Als Bezugselement dienen u.a. die Erfahrungen des Wohnmodells des Caritasverbandes Bamberg „IN DER HEIMAT WOHNEN“, das teils in einem Projekt in Teuschnitz, Hollfeld, Lehrberg, Altenkunstadt und Pegnitz erprobt und analysiert wurde. Folgende Faktoren sind in dieser Konzeption vorrangig:

  • Das moderierte gemeinschaftliche Wohnen basiert u.a. auf der Vorstellung der gegenseitigen Hilfe der Bewohner mit Anleitung („Moderation“) durch den Quartiersmanager, wobei davon ausgegangen wird, dass die Rüstigen den Hilfebedürftigen beistehen sollten.
  • Die Versorgungssicherheit in dem Wohnmodell soll durch ein „individuelles Pflegearrangement“ u.a. durch geplante und erwartete Mitwirkung seitens der Mitbewohner, Ehrenamtlicher, Freunde und Angehörige neben den beruflich Pflegenden gewährleistet werden.
  • Das Quartiersmanagement besitzt in diesem Konzept die zentrale Aufgabe der mehrfachen Vernetzung aller Beteiligten: den Bewohnern in der Wohnanlage, den ehrenamtlichen Helfer in der Gemeinde und die Zusammenarbeit mit den ambulanten Dienstleistungsträgern (Case Management). Zusätzlich soll möglichst auch noch das so genannte „bürgerschaftliche Engagement geweckt und unterstützt“ werden.

Als so genannten „Mehrwert“ dieses quartiersbezogenen Wohnprojektes versprechen sich die Autoren u.a. „Impulse für die Sorgekultur in der Kommune“ und eine „Erhöhung der Selbstorganisation und Selbstverantwortung der Bürger“ (Seite 33).

In Kapitel 4 (Wo und Wer? Kleinstädte als Standorte quartiersbezogener Wohnprojekte: Aufgaben, Rollen und Motive möglicher Kooperationspartner, Seite 35 – 43) wird die Kleinstadt einer ländlichen Region als der bestmögliche Sozialraum für quartiersbezogene Wohnprojekte deklariert. Es werden hierfür detailliert die Akteure mit ihren jeweiligen Aufgaben aufgelistet: u.a. Kommune, Quartiersmanagement, Dienste und Einrichtungen der Altenhilfe und so genannte „Sozialraumakteure“. Es wird u.a. empfohlen, das Quartiersmanagement in die Hände eines Verbandes der freien Wohlfahrtspflege zu legen und hierbei strikt mit den kommunalen Einrichtungen zu kooperieren. Das Quartiersmanagement sollte entscheidend mit dazu beitragen, dass den Investoren eine sichere und kalkulierbare Rendite gesichert werden kann.

Kapitel 5 (Wie und Womit? Methoden und Strategien zur Umsetzung quartiersbezogener Wohnprojekte, Seite 44 – 65) beschreibt die Organisationsstruktur des Projektes von der Entwicklung bis hin zur Fertigstellung des Bauvorhabens mit den Funktionsbereichen Entscheidungsebene (Investor, Träger des Quartiersmanagements und Kommune), operative Arbeitsebene (Architekt/Planer, zukünftige Bewohner, Quartiersmanager und wissenschaftliche Begleitung) und kooperative Arbeitsebene (Bürger und so genannte „Sozialraumakteure“). Des Weiteren wird u.a. idealtypisch ein zeitlicher Rahmen von ca. 5 Jahren projektiert mit den Teilsegmenten Orientierungsphase, Initiativphase und Realisierungsphase mit den Elementen Konzeption, Planen und Bauen.

Im Anhang (Seite 72 – 74) werden die zentralen Aspekte des Projektes angeführt: die Experten der begleitenden Arbeitsgruppe, das Forschungsdesign und die Methodik, die Visitation von bestehenden Wohnprojekten, Diskussionsworkshop mit so genannten „Stakeholdern“ und die Teilnehmer der Expertengespräche.

Diskussion und Fazit

Wohnen im Alter in ländlichen und strukturschwachen Bereichen ist für alle Beteiligten, die Betroffenen, die Kommunen und auch die Leistungserbringer, eine große Herausforderung. Die alten Menschen möchten im Falle der Hilfe- und Pflegebedürftigkeit möglichst im angestammten Wohnumfeld verbleiben, doch die erforderliche Infrastruktur hierfür teils in Gestalt des Betreuten Wohnens oder eines Pflegeheimes ist meist nicht vorhanden. Wenige Modelle wie z.B. das Kleeblatt-Modell im Landkreis Ludwigsburg (26 kleinere Wohn- und Pflegeeinrichtungen in den Gemeinden des Landkreises) sind bisher bekannt. Die vorliegende Veröffentlichung kann als Versuch verstanden werden, in diesem Versorgungsbereich eine Orientierung in Gestalt eines Praxisleitfadens entwickelt zu haben.

Obwohl hier ein recht detailliertes und praxisorientiertes Projektdesign vorliegt, muss konstatiert werden, dass die Projektergebnisse und damit zugleich auch die Empfehlungen dem Gegenstandsbereich Wohnen im Alter nicht gerecht werden. Der Grund hierfür liegt in der Nichtberücksichtigung des einschlägigen Forschungsstandes. Anhand der folgenden Punkte bestehen aus der Sicht des Rezensenten keinerlei Chancen auf Realisierung dieses Praxisleitfadens:

  • Dem Quartiersmanager wird laut der Konzeption eine Vielzahl von Aufgaben bei der Gestaltung einer angemessen Form des Wohnens im Alter zugewiesen. Diese Funktionen sind teils widersprüchlich und zugleich auch realitätsfern: die Vernetzung aller Leistungsanbieter plus Aufgaben eines so genannten „Case Managements“, der Aufbau eines ehrenamtlichen Helferkreises („Bürgerbeteiligung und Bürgerengagement“ im Wohnprojekt), die Schaffung einer „gelebten Nachbarschaft“ im Sinne einer „Sorgekultur“ in der Wohnanlage (Moderation des Zusammenlebens in der Wohnanlage und zugleich Anleitung zur „gegenseitigen Hilfe“ im Alltag der Bewohner). Es stellt sich u.a. hierbei auch die Frage, ob bei dieser projektierten Dominanz des Quartiersmanagers ein „selbstbestimmtes Leben“ der Bewohner noch möglich ist.
  • Die Missachtung des Homogenitätsprinzips ist ein weiteres Manko, denn es wird die Empfehlung gegeben, bei der Belegung der Wohnanlage gezielt Rüstige und Hilfebedürftige zusammenzubringen. Es sollen also die Rüstigen den Hilfebedürftigen im Alltag beistehen. Erfahrungen aus betreuten Wohnanlagen im Alter zeigen hingegen, dass „gegenseitige Hilfe“ nur auf der Ebene eines gleichen Selbstständigkeitsgrades praktiziert werden kann, denn von ständig Hilfe- und Pflegebedürftigen können keine Gegenleistungen erwartet werden. Das Homogenitätsprinzip wird auch hinsichtlich des Status der Bewohnerschaft verletzt, indem auch so genannte „Mischprojekte“ aus Mietern und Wohnungseigentümern für die Wohnanlagen projektiert werden. Diese Statusvermischungen führen in der Regel gemäß dem Stand der Forschung und der praktischen Erfahrungen zur Separierung der Bewohnerschaft mit negativen Auswirkungen auf das soziale Milieu.
  • Die Demenzen im Alter, die fast 80 Prozent aller Pflegefälle ausmachen, werden versorgungstechnisch nicht berücksichtigt. Im fortgeschrittenen Stadium der Erkrankung können die Betroffenen weder in einer betreuten Wohnanlage noch durch ambulante Dienste ausreichend und angemessen pflegerisch und betreuerisch unterstützt werden. Die in den Empfehlungen favorisierten „individuellen ambulanten Pflegearrangements“ stoßen hier automatisch an ihre Grenzen. Sie können kein Pflegeheim ersetzen, das in dem Praxisleitfaden als wohnortsnahe Institution konzeptionell nicht vorgesehen ist.

Anhand dieser Mängelliste kann das Fazit gezogen werden, dass Modelle für das Wohnen im Alter im Nahbereich ohne Berücksichtigung der vorliegenden Erfahrungen und Erkenntnisse keine neuen Perspektiven und auch Anregungen für diesen Lebensbereich entwickeln können.

Rezension von
Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind
Gerontologische Beratung Haan
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Es gibt 225 Rezensionen von Sven Lind.

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Zitiervorschlag
Sven Lind. Rezension vom 16.07.2018 zu: Nicole Rose, Stefanie Richter: Entwicklung und Umsetzung quartiersbezogener Wohnprojekte für ein selbstbestimmtes Leben im Alter. Praxisleitfaden für Kleinstädte und Gemeinden in strukturschwachen ländlichen Räumen. Fraunhofer IRB Verlag (Stuttgart) 2017. ISBN 978-3-7388-0014-2. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/23970.php, Datum des Zugriffs 11.09.2024.


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