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Bernhard Mutschler, Thomas Hörnig (Hrsg.): Was ist Diakonie­wissenschaft?

Rezensiert von Prof. Dr. Ralf Hoburg, 15.07.2019

Cover Bernhard Mutschler, Thomas Hörnig (Hrsg.): Was ist Diakonie­wissenschaft? ISBN 978-3-374-05450-3

Bernhard Mutschler, Thomas Hörnig (Hrsg.): Was ist Diakoniewissenschaft? Wahrnehmungen zwischen Dienst, Dialog und Diversität. Evangelische Verlagsanstalt (Leipzig) 2018. 246 Seiten. ISBN 978-3-374-05450-3. D: 30,00 EUR, A: 30,90 EUR.

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Entstehungshintergrund und Thema

Auf dem Feld der Sozialwissenschaften haben sich seit den 60er Jahren verschiedene Zweige sog. helfender Berufe entwickelt und professionalisiert, die jeweils für sich den Anspruch auf einen eigenen Wissenschaftsbegriff erheben. Mit dem Einstieg in die akademischen Ausbildungen von Diplomstudiengängen der Sozialpädagogik und Sozialarbeit formiert sich etwa ab 1980 die Sozialarbeitswissenschaft und bemüht sich um wissenschaftstheoretische Eigenständigkeit. Durch die Einführung des Bachelor (BA) hat sich diese Diskussion fachwissenschaftlich intensiviert. Im Bereich der Freien Wohlfahrtspflege bildeten sich fast zur gleichen Zeit die Ansätze einer Caritaswissenschaft und einer Diakoniewissenschaft heraus. Beide disziplinären Größen verorten sich speziell im Kontext kirchlicher Hochschulausbildungen von Diakoninnen bzw. Religionspädagogen und knüpfen – so im Fall der Diakoniewissenschaft – an den universitären Kontext von Theologie an.

Der vorliegende Sammelband zur Thematik der Diakoniewissenschaft reiht sich in diese Bemühungen einer disziplinären Selbstverständigung ein. Den Anlass hierfür bot eine öffentliche Ringvorlesung zum Reformationsgedenken im WS 2016/17 an der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg. Das eigentliche Thema des Vortragsbandes ist deshalb im Sinne einer protestantischen Selbstverständigung die Reflexion der inneren Handlungsdimensionen der Diakonie als Zeugnis und Dienst. Im Zentrum findet sich in einer, sich aus der enzyklopädischen Logik theologischer Binnendisziplinen speisenden Selbstbetrachtung vor allem mit biblisch-theologischem und systematischen Kern, die wohl deshalb auf eine durchgehende interdisziplinäre Auseinandersetzung etwa mit der Sozialarbeitswissenschaft oder sozialwissenschaftlichen Theorien verzichtet. Somit ist der Kern aller Beiträge in der theologischen Frage zu finden: Was ist Diakonie? Daraus wird dann abgeleitet: Was ist die Diakoniewissenschaft als eine Wissenschaft dezidiert diakonischen Handelns? Es geht dem Band also nicht um eine weite Diskussion um Diakoniewissenschaft im Kontext der humanwissenschaftlichen Begründung etwa einer Theorie des Helfens. Auch wenn sich das Resumeé am Ende des Bandes teilweise um eine Weitung dieses Horizontes mit dem Begriff der „Verbundwissenschaft“ bemüht und eine „offenere und weiter gespannte Bestimmung der Diakoniewissenschaft“ (S. 308) anstrebt, bleibt dennoch die Verankerung bestehen: Diakoniewissenschaft ist eine „inkarnatorische Disziplin sui generis“. (S. 308)

Aufbau und Inhalt

Im Geleitwort verortet der systematische Theologe Christoph Schwöbel entsprechend der traditionell lutherischen Theologie Diakonie als „leibliche Sozialgestalt des Lebens der christlichen Gemeinschaft“ (S. 6) und setzt dieses Zeugnis des Evangeliums ab von „anderen Formen der sozialen Verleiblichung von Menschenbildern“ (S. 6), d.h. für Schwöbel definiert sich Diakonie gerade durch ihre Trennung und Absetzbewegung von der Sozialität der säkularen Welt. Die Diakoniewissenschaft reflektiert dann die „Bedeutungsdimension des Dienstgedankens in ihrer wissenschaftlichen Praxis“ (S. 8) und bleibt dann als Wissenschaft bei ihrem – im Binnenbereich definierten – Gegenstand. Was aber ist der präzise Gegenstand der Diakoniewissenschaft?

Es geht den Herausgebenden in erster Linie hierbei um „Wahrnehmungen zwischen Dienst, Dialog und Diversität“ mit der Leitfrage: Was ist Diakoniewissenschaft? Mit dieser Verortung positioniert sich der Band eher jenseits einer strengen erkenntnis- bzw. wissenschaftaftstheoretischen Erörterung und verzichtet damit auf die Geschlossenheit der Darstellung von Diakonie als akademischer Wissenschaftsdisziplin – wie es etwa vergleichbar die Sozialarbeitswissenschaft tut. Lediglich der verwandte Begriff der „Praxiswissenschaft“ öffnet den Diskurs zur Wissenschaftstheorie, wobei die Handlungsdimension definiert wird als „Kommunikation des Evangeliums im Medium der Nothilfe, der Lebenshilfe und der Lebenskunst.“ (S. 15)

In den zwei Grundkategorien Grundlagen und Dienst reflektieren die Beiträge von Dörte Bester und Bernhard Mutschler aus der biblischen Perspektive von Altem und Neuem Testament diakonische Traditionen. Bereits der erste Satz in dem Beitrag von Dörte Bester definiert unmißverständlich, was nach Auffassung der Verfasserin Diakoniewissenschaft ist: „Diakoniewissenschaft reflektiert und begründet den Dienst, der in der Diakonie geschieht, das helfende Handeln im Namen des Christentums oder […] im Auftrag von Kirche bzw. Diakonie.“ (S. 21) Damit ist eigentlich das Entscheidende gesagt. Anhand verschiedener Bibeltexte des Alten Testamentes wird diese Grundauffassung dann exegesiert. Die zentrale Aussage liegt aus der Sicht der Verfasserin im Alten Testament in der sozialen Anerkennung des Anderen. In einer zweiten Umkreisung des Themas wird dann die Zuwendung Gottes als soziales Eingreifen mit dem Begriff des „diakonischen Gottes“ beschrieben (S. 30) und in einem dritten Kreis wird das spezifische Menschenbild unter der Perspektive der Gerechtigkeit als „Setzung der Würde“ (S. 37) gesehen.

Im Beitrag von Bernhard Mutschler kommt der Aspekt der Vielfalt diakonischer Traditionen zur Sprache. Auch hier wird vom Begriff der Diakonie als „Dienst“ ausgegangen, der sich u.a. beim Apostel Paulus wieder findet. Daneben treten der Dienst der Gemeinde und das Diakonenamt. Wesentlich getrennt davon ist der „Dienst Jesu“ zu betrachten. (S. 51) Die Einzigartigkeit der Diakonie im Neuen Testament wird nach Mutschler in Bezug auf die „diakonische Lebenshaltung Jesu im Blick auf die Diversität“ (S. 60) gesehen. Der Blick richtet sich im Neuen Testament auf die „diakonische Praxis“ (S. 64). Liest man den Autor richtig wird in dieser Richtung dann die Diakoniewissenschaft zu begründen sein.

In enzyklopädischer Reihenfolge akademisch-theologischer Disziplinen folgt in dem Band nach den biblischen Fächern die Kirchengeschichte, die dann von Thomas Hörnig unter der Leitkategorie „Dienst“ als Erstes bearbeitet wird. Wer an der Lektüre interessanter historischer Zeugnisse und Quellen interessiert ist, findet in diesem Beitrag reiche Belegstellen aus einem zeitgeschichtlichen Potpourri. Was ist Diakonie? Diese Frage wird vom Autor mit dem Satz beantwortet: „Liebestätiges Handeln ist armutsorientiert.“ (S. 84) In der Weiterführung dieses Gedankens wäre dann die Diakoniewissenschaft die wissenschaftliche Erforschung des armutsorientierten Handelns der Diakonie. Hier findet die Diakonie ihr Proprium. So ist dann auch die verfallstheoretische Frage des Verfassers zu verstehen, wenn er konzediert: „Wird auch Diakonie unter den Bedingungen von Bürokratisierung und Anonymisierung, von der Erfüllung von Rechtsansprüchen, innerlich entleert?“ (S. 104)

Aus der theologischen Binnenperspektive tritt der Beitrag von Johannes Eurich heraus, indem er zwei Grunderkenntnisse der neueren Diakonieforschung voran stellt:

  1. Diakonie ist die soziale Arbeit der evangelischen Kirchen in Deutschland (S. 114) und
  2. Diakoniewissenschaft kann nur noch als interdisziplinäres Unterfangen betrieben werden (S. 115).

Sein Ausgangspunkt ist die epistemeologische Frage nach den Kriterien von Wissenschaft. Sein Beitrag widerspricht dezidiert der Auffassung, dass die Theologie die Leitdisziplin der Diakoniewissenschaft sein kann und stellt sich damit quer zu den teilweise in dem vorliegenden Band vertretenen binnentheologischen Positionen. Eurich stellt die Frage, ob es noch angemessen ist, die christliche Motivation als Abgrenzungsmerkmal gegenüber anderen Hilfeleistern zu verwenden. (S. 116) Wenn denn die Diakoniewissenschaft die „Theorie der diakonischen Praxis“ ist, geht es als Herausforderung gerade darum, christliche Begründungsfiguren mit dem organisationalen Handeln unter den gegenwärtigen Bedingungen zu vermitteln. (S. 122) Die gesellschaftlichen Bedingungen sind dann unbedingt in die Diskussion um die Diakoniewissenschaft unter der Perspektive von Sozialanwaltschaft in der Zivilgesellschaft mit einzubeziehen. Diakoniewissenschaft steht dann im interdisziplinären Diskurs mit der Dritte-Sektor-Forschung.

Die Zielperspektive der Diakonie focussiert dann der Beitrag von Ellen Eidt als Hilfe zum Leben oder Lebenskunst. Ihr Ansatzpunkt für die Diakonie ist das befreiende und helfende Handeln. Zu der Frage nach der Diakoniewissenschaft kommt bei der Autorin gegenüber den anderen Beiträgen der Aspekt hinzu, dass die Diakoniewissenschaft zugleich auch „Professionswissenschaft der helfenden Berufe“ ist. (S. 140) Als eine solche orientiert sie sich auch an den Bedürfnissen von Menschen und unternimmt den Versuch, das helfende Handeln mit der Sphäre des Christlichen zu verbinden (S. 147). Damit stellt sich die Diakonie in den Dienst einer Lebenshilfe mit dem Ziel gelingender Inklusion. Interessant scheint mir der Hinweis zu sein, dass Diakoniewissenschaft auch eine „Berufstheorie für die Berufe im Diakonat“ darstellt (S. 159), wodurch sich dann ein Diskurs zur Professionstheorie in der Sozialen Arbeit ergeben könnte.

Unter der Rubrik Dialog folgen in dem Band verschiedene Beiträge mit einer praktischen Absicht. Dass empirische Forschung zu den elementaren wissenschaftlichen Methoden zählt, wird in dem Beitrag von Claudia Schulz am Beispiel der Kirchenmitgliedschaftsforschung untersucht. Sie versteht ihren Beitrag enzyklopädisch vor allem aus der Sicht der Praktischen Theologie. Ebenfalls kommt die praktische Seite der Diakonie dann bei Joachim Schlecht aus der Sicht der Flüchtlingsarbeit als gelebte Solidarität zu Wort, deren Reflexion diakoniewissenschaftlich auf das Feld der interreligiösen Migrationsarbeit verweist. Zu dem Stichwort einer diakonischen Seelsorge führt die Autorin Lydia Maidl Gedanken zu „spiritual Care als Praxis und Wissenschaft“ aus. Sie geht davon aus, dass „spiritual Care“ eine Praxis und eine Wissenschaft zugleich darstellt (S. 200) und an der Grenze verschiedener Humanwissenschaften theoretische Reflexionen über die Relevanz von Spiritualität im Gesundheitswesen anstellt. Vor allem im Rahmen einer diakonischen Unternehmenskultur als „Sorge um die Spiritualität ihrer Mitarbeitenden“ (S. 216) hat die Diakonie das Thema bereits aufgegriffen.

Dem Thema der Diversität widmen sich dann die Beiträge von Felix Blaser zum Kontext der Armut und Armutsbekämpfung, von Gerhard Wegner über den Zusammenhang von Religion und Arbeitsleben sowie von Klaus-Peter Koch über nachhaltige Diakonie. Gerade die Perspektive auf die sich wandelnde Arbeitswelt in dem Beitrag von Gerhard Wegner legt eine Dimension diakoniewissenschaftlichen Denkens offen, die aus der Theologie selbst stammt, aber in dem Band bislang nicht zur Sprache kam, nämlich die Ideologiekritik als analytisches Instrumentarium zur Durchdringung von Wirklichkeit. Wegner zeigt überzeugend auf, dass das protestantische Arbeitsethos nachhaltig die Gesellschaft geprägt hat, aber die Bewältigung der Gegenwartsprobleme eine Kritik von Herrschaftsstrukturen notwendig macht, um von einem „Freiheitsgewinn in der Arbeit“ (S. 260) zu reden. Hier könnte Diakonie als Befähigung zur Freiheit – so meine ich – Ansätze finden.

Diskussion

Der vorgelegte Band zum Titel: „Was ist Diakoniewissenschaft?“ enthält sehr verschiedenartige Beiträge mit zum Ende hin praktischen Bezügen zur diakonischen Arbeit, die dann aber die Frage nach dem, was Diakoniewissenschaft ist, aus dem Auge verlieren. Aus diesem Grund wäre es wünschenswert gewesen, wenn sich die Beiträge deutlicher aufeinander beziehen würden, um die Leitfrage zu beantworten. Der heterogene Charakter des Bandes ist ganz offensichtlich dem Anlass der öffentlichen Vortragsreihe an der Hochschule geschuldet.

Der entscheidende Kritikpunkt ist aus meiner Sicht jedoch ein anderer: In dem vorliegenden Band bleibt die Theologie unter sich und erörtert in theologischer Binnenterminologie das, was Diakoniewissenschaft genannt zu werden verdient, nämlich „Dienst“. Wer als Sozialwissenschaftler an der Sache der Diakoniewissenschaft von außen interessiert ist, hat es durch die Geschlossenheit der Gedanken- und Sprachwelt schwer, die innere Stringenz der Gedankenführung nachzuvollziehen. Somit öffnet sich die Diakoniewissenschaft gerade nicht dem „Dialog“. Das Autorinnen- und Autorenverzeichnis weist keine Beteiligung aus der Fachdisziplin der Sozialen Arbeit auf, die in konfessionellen Hochschulen in den benachbarten Studiengängen wissenschaftlich tätig sind und die die Diakoniewissenschaft in praktischer Form auf den verschiedenen Feldern innerhalb des Wohlfahrtssektors in der Ausbildung von Sozialarbeitenden lebendig werden lassen. Aus meiner Sicht ist dies eine Enge des Bandes, die um der wissenschaftlichen Bemühung um das Feld der Diakoniewissenschaft hätte vermieden werden können. Wo liegen die Verbindungen zwischen der Diakoniewissenschaft und der Sozialarbeitswissenschaft, wenn denn von einer „Verbundwissenschaft“ die Rede ist?

Fazit

Was bleibt am Ende der Lektüre aller Beiträge in diesem Band von der Ausgangsfrage, nämlich: „Was ist Diakoniewissenschaft?“ hängen? Über den Begriff der Diakonie als „Dienst“ ist in der Forschung in den vergangenen 30 Jahren viel geschrieben worden und die aktuelle Forschungsdiskussion hält den Begriff für überholt und zumindest ergänzungsbedürftig. Diakoniewissenschaft ist die Wissenschaft der Diakonie, die sich als Praxiswissenschaft mit der Reflexion helfenden Handelns in religiöser Deutung beschäftigt. Dabei gilt: Für die Diakoniewissenschaft bildet die Theologie nicht mehr allein die Leitwissenschaft, sondern als Disziplin ist Diakonie nur interdisziplinär – d.h. z.B. auch im Gespräch mit der Sozialarbeitswissenschaft – zu verorten. Es wäre gut, wenn die Diskussion um die Diakoniewissenschaft zukünftig wieder mehr im Vorwärtsgang weitergeführt würde.

Rezension von
Prof. Dr. Ralf Hoburg
Hochschule Hannover, Lehrgebiet Sozialwirtschaft und Theorie des Sozialstaats
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Es gibt 14 Rezensionen von Ralf Hoburg.

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ISSN 2190-9245