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Ulrike Urban: Professionelles Handeln zwischen Hilfe und Kontrolle

Rezensiert von Dipl. Soz.-Päd. Alfons Limbrunner, 29.03.2005

Cover Ulrike Urban: Professionelles Handeln zwischen Hilfe und Kontrolle ISBN 978-3-7799-1874-5

Ulrike Urban: Professionelles Handeln zwischen Hilfe und Kontrolle. Sozialpädagogische Entscheidungsfindung in der Hilfeplanung. Juventa Verlag (Weinheim) 2004. 223 Seiten. ISBN 978-3-7799-1874-5. 19,50 EUR. CH: 34,30 sFr.
Reihe: Votum.

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Vorbemerkung

Eine eher ungewöhnliche Erfahrung: Ich nehme das Buch zur Hand, lese die erste Seite und schon werden persönliche Erinnerungen wach. An meine ersten Berufsjahre als graduierter Sozialarbeiter in Arbeitsfeldern, in der die Kontrolle, neben der Hilfe, ganz groß geschrieben wurde; an die Lektüre bestimmter Fachliteratur, in der ich aufgeklärt wurde, was denn die wahre Funktion Sozialer Arbeit unter kapitalistischen Produktionsbedingen sei; an klasse Seminare bei der noch dazu ziemlich schicken Regine Gildemeister an der Uni Erlangen, in denen es um die Themen ging, aus denen ihr Buch "Als Helfer überleben" entstand, das von Ulrike Urban zitiert wird.

Inhalt und Anmerkungen

Handeln im Widerspruch, das ist auch das Thema der Dissertation von Ulrike Urban. Denn die Struktur Sozialer Arbeit ist nach wie vor, wie sollte es auch anders sein, durch die Gleichzeitigkeit von Hilfe und Kontrolle geprägt. Und in manchen Arbeitsfeldern und Berufsvollzügen tritt dies besonders deutlich hervor. Darüber lässt sich gut forschen, im praktischen Handeln jedoch geht es darum, mit diesen Umständen mal mehr, mal weniger bewusst umzugehen. Ulrike Urban greift mit ihrer Arbeit das alte Thema Hilfe und Kontrolle wieder auf und belebt es am Beispiel der Hilfeplanung nach § 36 KJHG neu.

  • In den ersten zwei Kapiteln stellt sie das geschichtliche Spannungsfeld der Jugendhilfe und die Hilfeplanung im strukturellen Widerspruch Sozialer Arbeit vor. Im Gesetzestext des § 36 KJHG konkurrieren zwei entgegen gesetzte Positionen miteinander, die im fachlichen Diskurs "Hilfeplanung als Aushandlung" und "Hilfeplanung als psychosoziale Diagnose" bezeichnet werden. Sie spiegeln ein unterschiedliches Selbstverständnis in der beruflichen Haltung wider. Und selbstverständlich sollte es dabei nie nur um die eine, sondern immer auch um die andere Seite gehen. Professionalität ist diskursives Expertentum. Die Autorin lässt dazu den rechtlichen und institutionellen Kontext Revue passieren und geht der Frage nach, ob es denn so etwas wie eine objektive sozialpädagogische Entscheidungsfindung geben kann. Der Teil mündet dann in die vertiefende Darstellung der Hilfeplanung als Abbildungen des Grundwiderspruches Hilfe und Kontrolle ein.
  • In Kapitel 3, dem empirischen Teil, geht Ulrike Urban über Interviews der Frage nach, wie Fachkräfte mit diesem Widerspruch umgehen. Die Untersuchung wird dann im 4. Kapitel unter der Überschrift "Das berufliche Selbstkonzept im widersprüchlichen Alltag des Allgemeinen Sozialdienstes (ASD)" ausgewertet und interpretiert. Hier wird Rechenschaft und Auskunft gegeben über das, wie sich Kolleginnen und Kollegen zwischen Diskursivität und Expertentum in der beruflichen Beziehung, in der Entscheidungsfindung und unter den Aspekten Hilfe versus Kontrolle selbst wahrnehmen.
  • Und die Moral von der Geschicht' im Schlusskapitel? Wie schon bei Regine Gildemeisters Dissertation heißt das Zauberwort "Reflexion". Neben all den instrumentellen und sozialen Kompetenzen die im Berufsfeld notwendig sind, sollte die reflexive Kompetenz, nachzulesen bei K. A. Geißler und M. Hege "Konzepte sozialpädagogischen Handelns" (10. Auflage, Weinheim/Basel 2001) zur Grundausstattung sozialer Berufe gehören. Reflexivität als das Mittel, um mit den reichlichen Widersprüchlichkeiten, Paradoxien, Dilemmata und Enttäuschungen im Beruf umzugehen. Ulrike Urban arbeitet dieses Kapitel sehr differenziert aus. Nachdenken, allein, besser noch mit anderen, in der Selbstevaluation, der Supervision, in der kollegialen Beratung, ist angezeigt, um der fachlichen und menschlichen Verantwortung gerecht zu werden. Dazu gehört die Bereitschaft zur Offenheit, denn wer wüsste nicht, jede Situation ist unterschiedlich deutbar, interpretierbar und damit auch meist unterschiedlich lösbar.

Diskussion

Durch die Lektüre des Buches ist mir bewusst geworden, dass es um die Auseinandersetzung dieses Grundwiderspruches Sozialer Arbeit in der öffentlichen Fachdebatte ziemlich ruhig geworden ist. Was freilich noch lange nicht heißt, dass sich die einzelnen Fachkräfte und die kollegialen Teams nicht ernsthaft damit rumschlagen. Mir scheint, dass in Zeiten wie diesen der Diskurs über Widersprüche, oder gar öffentliche Skepsis und Kritik über das, wer was warum wozu und wie tut, von den so genannten Strukturen und Verhältnissen kaum gewollt wird. Ulrike Urban hat, das empfinde ich besonders positiv, ein Thema wieder belebt, das nicht so recht in die Kontur des Sozialmanagements und schon gar nicht in die Welt des sozialen Business passt. Und was die Ausbildung anbelangt, so werde ich auch hier immer skeptischer. Bei der Einführung des Bachelors wird nicht etwa an den Theoriesemestern gekürzt und manche alten Bärte und Kröpfe beseitigt, sondern ausgerechnet am Praxisbezug der Ausbildung. Das, was manche Dozenten und das, was fast alle Studierende als besonders wertvoll erlebt haben, wird abgesäbelt. Die Orte des Handelns, des Ausprobierens, des Übens und der damit verbundenen, angewandten Reflexion werden geopfert. Wenn's gut geht, wird an den akademischen Orten bestenfalls "über" Reflexion geredet.

Fazit

Hilfe und Kontrolle, so scheint es, sind die zwei Seiten derselben Medaille. Weil aber Münzen tatsächlich drei Seiten haben, ist es das Verdienst von Ulrike Urban, diese dritte Seite ins fachliche Bewusstsein gehoben zu haben. Die Situation im Beruf, die Freude, aber auch die Last des alltäglichen Handelns, entspricht dem schmalen Rand der Münze, entspricht der Seiltänzerin, die das Buch ziert. Denn oft genug ist die Praxis Sozialer Arbeit ein Balanceakt ohne Netz und doppelten Boden.

Rezension von
Dipl. Soz.-Päd. Alfons Limbrunner
lehrte Soziale Arbeit an der Evangelischen Hochschule Nürnberg und ist als Autor, Coach und Supervisor (DGSv) tätig.

Es gibt 6 Rezensionen von Alfons Limbrunner.

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ISSN 2190-9245