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Hans-Dieter Nolting, Grit Braeseke et al.: Umsetzung des Erforderlichkeits­grundsatzes ... (betreuungsrechtliche Praxis)

Rezensiert von Dipl.-Soz.Arb. Michael Fischer, 26.09.2018

Cover Hans-Dieter Nolting, Grit Braeseke et al.: Umsetzung des Erforderlichkeits­grundsatzes ... (betreuungsrechtliche Praxis) ISBN 978-3-8462-0907-3

Hans-Dieter Nolting, Grit Braeseke, Thorsten Tisch, Karsten Zich: Umsetzung des Erforderlichkeitsgrundsatzes in der betreuungsrechtlichen Praxis im Hinblick auf vorgelagerte „andere Hilfen“. Abschlussbericht Band I. Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft (Köln) 2018. 396 Seiten. ISBN 978-3-8462-0907-3. D: 44,00 EUR, A: 45,30 EUR.

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Thema und Entstehungshintergrund

Kann ein Volljähriger auf Grund einer psychischen Krankheit oder einer körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung seine Angelegenheiten ganz oder teilweise nicht besorgen, so wird für ihn nach § 1896 Abs. 1 S. 1 BGB ein Betreuer bestellt.

Die Einrichtung einer Betreuung ist gemäß des in § 1896 Abs. 2 BGB normierten Erforderlichkeitsgrundsatzes subsidiär gegenüber Vorsorgevollmachten und anderen Hilfen, bei denen kein gesetzlicher Vertreter bestellt wird. Mit der Einhaltung des Erforderlichkeitsgrundsatzes trägt das Betreuungsrecht sowohl dem verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprinzip als auch den Anforderungen des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) Rechnung. Der Begriff der ‚anderen Hilfen‘ ist gesetzlich nicht definiert. Gemeint sind damit alle Formen der (sozialen) Hilfe, durch die die Angelegenheiten des Betroffenen ebenso gut erledigt werden können, wie durch einen Betreuer. Dies umfasst bestimmte sozialrechtliche Leistungen gleichermaßen wie Angebote von Beratungsstellen, von anderen kommunalen sozialen Diensten, von freigemeinnützigen und gewerblichen Trägern sowie ehrenamtliche oder privat organisierte Unterstützungsleistungen. In vielen Fällen kann durch die Inanspruchnahme anderer Hilfen die Einrichtung einer Betreuung vermieden oder zumindest der Umfang der Betreuung hinsichtlich der Aufgabenkreise, für die sie eingerichtet wird, enger begrenzt werden. Deutliche Hinweise hierfür lieferten bereits die Abschlussberichte der beiden Durchläufe des Projekts „Betreuungsoptimierung durch soziale Leistungen“ (BEOPS) von 2009 und 2011 sowie die im Jahre 2012 vom Institut für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik (ISG) durchgeführte Machbarkeitsstudie zum Subsidiaritätsprinzip im Betreuungsrecht.

Um dem Erforderlichkeitsgrundsatz zu mehr Geltung in der praktischen Anwendung zu verhelfen, wurde 2014 das Gesetz zur Stärkung der Funktionen der Betreuungsbehörde verabschiedet. Ein zentraler Bestandteil des Gesetzes ist die – mehr oder weniger – neue Aufgabe der Betreuungsbehörde, zu ‚anderen Hilfen‘ zu beraten und auch in diese zu vermitteln. Um die Wirksamkeit des Gesetzes und insbesondere das betreuungsvermeidende Potenzial bestimmter anderer Hilfen einschätzen zu können, hat das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz (BMJV) 2015 das IGES Institut GmbH mit einer entsprechenden rechtstatsächlichen Untersuchung beauftragt. Der Abschlussbericht des umfangreichen Forschungsprojekts liegt nun in Gestalt dieses Buches vor.

Herausgeber und Herausgeberin

Herausgegeben wird der Abschlussbericht vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz (BMJV). Hans-Dietrich Nolting, Karsten Zich, Thorsten Tisch und Dr. Grit Braeseke sind Mitarbeiter des IGES Instituts, Berlin.

Aufbau

Der Abschlussbericht gliedert sich in drei Bände, wovon die Publikation Band I und II umfasst.

  1. Der Band I: Zentrale Ergebnisse, Schlussfolgerungen und Empfehlungen fasst die in Bezug auf die 17 forschungsleitenden Fragen gewonnenen Erkenntnisse zusammen. Die Schlussfolgerungen münden in Empfehlungen, wie der Erforderlichkeitsgrundsatz in der praktischen Anwendung künftig noch mehr Berücksichtigung erfahren kann. Der 175 Seiten umfassende Band I beinhaltet 7 Abbildungen und 11 Tabellen.
  2. Im Band II: Potenziell betreuungsvermeidende „andere Hilfen“: Systematisierung und Relevanz in der Praxis werden auf 206 Seiten 41 mögliche Hilfen unterschiedlichster Art steckbriefhaft (sowie fünf weitere in einer anderen Darstellungsform) vorgestellt, zudem werden Einschätzungen zu ihrer Anwendung und ihrer betreuungsvermeidenden Relevanz vorgenommen.
  3. Der über 700 Seiten starke Band III: Dokumentation der empirischen Ergebnisse enthält die vollständige Dokumentation aller Auswertungen der schriftlichen Befragungen und Falldokumentationen nebst der Darstellung der jeweiligen Erhebungsmethodik. Band III ist nicht Teil der Publikation, kann allerdings über die Homepage des BMJV kostenfrei und barrierearm abgerufen werden: www.bmjv.de/Abschlussbericht_Erforderlichkeitsgrundsatz_Betreuung

Die Deutsche Nationalbibliothek bietet Einblick in das vollständige Inhaltsverzeichnis.

Zu Band I

In der Einleitung des ersten Bandes wird kurz die dem Forschungsvorhaben zugrundeliegende Methodik vorgestellt. Das Forschungsdesign besteht aus quantitativen und qualitativen Bausteinen und umfasst eine schriftliche Befragung der Betreuungsbehörden, drei Falldokumentationen, die schriftliche Befragung von Betreuern und Betreuungsgerichten sowie qualitative Interviews und Gruppendiskussionen. Zudem werden die forschungsleitenden Fragen benannt und in fünf (im Folgenden zitierte) Themenblöcke zusammengefasst:

  1. Übersicht und Systematisierung von Leistungen und Hilfen, die als ‚andere Hilfen‘ im Sinne von § 1896 Abs. 2 BGB in Betracht kommen
  2. Nutzung und Wirksamkeit von ‚anderen Hilfen‘
  3. Strukturen und Prozesse an der Schnittstelle zwischen Betreuungsbehörden und den Hilfesystemen
  4. Strukturen und Prozesse an der Schnittstelle zwischen Betreuungsgerichten und Betreuungsbehörden sowie weiteren Beteiligten
  5. Bedeutung von spezifischen Hindernissen bei der Beanspruchung von Sozialleistungen

Im zweiten Kapitel werden die Ergebnisse gemäß der vorgenommenen Zuordnung zu den Themenkomplexen dargestellt. Themenkomplex I liegt die Überlegung zugrunde, dass eine ‚andere Hilfe‘ umso mehr geeignet ist, je mehr sie den Charakter eines ‚Fall-Managements‘ annimmt. Dementsprechend werden die identifizierten Hilfen hinsichtlich ihres Funktionsniveaus in drei Stufen eingeteilt. Es wird darauf hingewiesen, dass ein hohes Funktionsniveau nicht gleichbedeutend mit praktischer Relevanz ist. Bei der Zusammenfassung der Ergebnisse zu Themenkomplex II wird hinsichtlich der Nutzung ‚anderer Hilfen‘ aufgezeigt, dass Betreuungsbehörden selbst bei besonders relevanten Hilfen in der Regel keine Aussagen zur Wirksamkeit dieser Hilfe treffen kann. Bezüglich der Wirksamkeit werden vor allem der Sozialpsychiatrische Dienst und der Allgemeine Sozialdienst hervorgehoben. Sehr umfangreich und differenziert fällt die Darstellung des Nutzungspotenzials aus. In Themenkomplex III wird unter anderem auf Netzwerkstrukturen und Kommunikationswege eingegangen, wobei insbesondere die Darstellung bestehender Kommunikationshemmnisse aufschlussreich ist. In Themenkomplex IV wird vor allem die Einbindung der Betreuungsbehörde in das betreuungsgerichtliche Verfahren sowie die Bedeutung des ‚Sozialberichts‘ erörtert, wobei verdeutlicht wird, dass ein Zusammenhang besteht zwischen dem Anteil der Sozialberichte, in denen sich umfangreich zu anderen Hilfen geäußert wird, und solchen, die für die Entscheidungsfindung der Betreuungsrichter hilfreich sind. In Themenkomplex V wird aufgezeigt, dass Orientierungsprobleme von Hilfesuchenden durch das sozialrechtliche Beratungssystem nicht angemessen berücksichtigt werden – besonders auffällig sei hier das Jobcenter. Dementsprechend hoch fällt auch der im Anschluss dargestellte Anteil von Betreuungen aus, die lediglich für die Durchsetzung von Sozialleistungsansprüchen eingerichtet werden.

Band I schließt mit ausführlichen Schlussfolgerungen und Empfehlungen. Diese sind gegliedert in Potenziale für die Vermeidung oder Beschränkung von Betreuungen, Hintergründe und Handlungsmöglichkeiten auf der Makroebene sowie Hintergründe und Handlungsmöglichkeiten auf Meso- und Mikro-Ebene. Übergreifend wird empfohlen, ein Modell einer zeitlich begrenzten Fallverantwortung und erweiterten Assistenz zu erproben. Bei der Entwicklung dieses Modells, welches die zeitlich begrenzte Fallverantwortung der Betreuungsbehörde beinhaltet, hat sich IGES insbesondere am ‚Clearing Plus‘ aus dem österreichischen Sachwalterschaftsrecht sowie dem Projekt ‚Komplementäre Hilfen‘ des katholischen Sozialdienstes Hamm orientiert.

Zu Band II

Band II umfasst die Systematisierung der anderen Hilfen. Die Darstellung erfolgt in standardisierten Tabellen. Es wird eine Gliederung in sozialrechtlich normierte, außerhalb des Sozialrechts normierte sowie ‚private‘ Hilfen vorgenommen, zudem werden die Hilfen hinsichtlich ihres betreuungsvermeidenden Funktionsniveaus eingeteilt.

Diskussion und Fazit

Das Forschungsvorhaben liefert erstmalig Daten über die (tatsächliche) betreuungsvermeidende Wirkung anderer Hilfen sowie diesbezügliche Entwicklungspotenziale. Hierdurch legt es einen Grundstein für eine fundierte Diskussion über dringend erforderliche Reformen im Betreuungsrecht.

Unter anderem werden Problemfelder bestätigt, die bereits in der Vergangenheit als Ursache von vermeidbaren Betreuungen vermutet wurden: Betreuungen zur Verwirklichung von Sozialleistungsansprüchen, weil die Sozialleistungsträger ihrer Beratungspflicht nicht nachkommen, sowie Betreuungen, mit denen sich die betreuungsanregenden Hilfeträger von aufwendigen Aufgaben entlasten wollen und gleichzeitig die Kosten in den Justizhaushalt verschieben. Ebenfalls wird aufgezeigt, dass das derzeitige System zur Vergütung von Berufsbetreuern aufgrund der Mischkalkulation nahezu zwangsläufig dazu führt, dass Betreuungen verlängert werden, obwohl keine Erforderlichkeit mehr besteht (vgl. S. 147 ff.). Bei den Schlussfolgerungen und Empfehlungen findet das IGES Institut erfreulich klare Worte. Es wird aufgezeigt, wie die derzeitige Aufteilung der Kostenlast zwischen Ländern und Kommunen „Anreize zur ‚Instrumentalisierung‘ und Nutzung der rechtlichen Betreuung als ‚Ausfallbürge‘“ (S. 155) bietet. Die sich aus der Analyse ableitenden Empfehlungen wirken insgesamt schlüssig und zielführend. Insbesondere das vom IGES aufgegriffene und in Ansätzen weitergedachte Modell der begrenzten Fallverantwortung der Betreuungsbehörde sollte möglichst zeitnah ausgearbeitet und in einer Modellkommune erprobt werden.

Fazit: Das Forschungsprojekt liefert erstmals eine – äußerst umfassende – Datenbasis zum Themenfeld betreuungsvermeidende Hilfen, der Abschlussbericht ist allgemeinverständlich aufbereitet. Die vorliegenden beiden Bände sind eine Pflichtlektüre für jeden, der sich für die Weiterentwicklung des Systems der rechtlichen Betreuung interessiert.

Rezension von
Dipl.-Soz.Arb. Michael Fischer
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Es gibt 6 Rezensionen von Michael Fischer.

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ISSN 2190-9245