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Oliver W. Sacks: Der Strom des Bewusstseins

Rezensiert von apl. Prof. Dr. Anne Amend-Söchting, 13.06.2018

Cover Oliver W. Sacks: Der Strom des Bewusstseins ISBN 978-3-498-06434-1

Oliver W. Sacks: Der Strom des Bewusstseins. über Kreativität und Gehirn. Rowohlt Verlag (Reinbek) 2017. 253 Seiten. ISBN 978-3-498-06434-1. D: 22,95 EUR, A: 23,60 EUR.

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Thema

Wer Oliver Sacks und seine Fallgeschichten kennt, so etwa in „Awakenings“ oder „Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte“ (beide als rororo-Taschenbuch erhältlich), weiß, dass der anglo-amerikanische Neurologe und Psychiater auch ein herausragendes schriftstellerisches Talent hatte. In den kurzen Pathographien und in Sacks Autobiographie „On the move“ (2015) gelangt nicht nur das Diktum vom „homo narrans“zur vollen Entfaltung, sondern auch ein sehr empathischer Blick auf all das, was sich jenseits der Grenzen des sogenannten „Normalen“ befindet. Dabei offenbart sich einerseits, dass Oliver Sacks empirisches Material meisterhaft und mit literarischem Anspruch aufarbeiten kann und er andererseits Diversität im Allgemeinen und Abweichungen vom Mainstream im Besonderen mit einer sehr wohlwollenden, sehr förderlichen Haltung begegnet.

Vor diesem Hintergrund durfte man auf die postum veröffentlichte Essay-Sammlung „Der Strom des Bewusstseins“ gespannt sein. Sacks öffnet hier einen breiten interdisziplinären Schirm über eine Reihe von natur-, geistes- und sozialwissenschaftlichen Fachgebieten, die ihm zeit seines Lebens vertraut waren.

Autor

Oliver Sacks (1933-2015) stammte aus London, studierte Medizin in Oxford und zog als fertig ausgebildeter Arzt in die USA. Während seiner Berufstätigkeit als Professor für Neurologie und Psychiatrie an der Columbia University publizierte er seine weltberühmten Fallgeschichten, nach denen auch Filme gedreht wurden, insbesondere „Zeit des Erwachens“ (1990) mit Robert de Niro und Robin Williams.

Entstehungshintergrund

„Der Strom des Bewusstseins“ ist das letzte Buch, das Oliver Sacks verfasste. Einige Monate vor seinem Tod bat er drei seiner Mitarbeiter, die Publikation zu organisieren. Diese berichten im Vorwort, dass es viele Auslöser für das Buch gegeben habe, insbesondere Sacks Teilnahme an der dokumentarischen Fernsehserie „A Glorious Accident“, in deren letzter Folge sich sechs Wissenschaftler aus unterschiedlichen Disziplinen zusammensetzen, um über den Ursprung des Lebens zu diskutieren. Dabei wird deutlich, wie versiert Oliver Sacks die Grenzen der wissenschaftlichen Einzeldisziplinen auszuloten und zu transzendieren vermag. In seiner letzten Publikation betrachtet er scheinbar mühelos „Evolution, Botanik, Chemie, Medizin, Neurowissenschaft und die Kunst, wobei er sich auf seine großen wissenschaftlichen und kreativen Helden beruft – allen voran Darwin, Freud und William James“ (S. 10).

Aufbau und Inhalt

Da die meisten Texte der hier vorliegenden zehn Kapitel zuvor als eigenständige Essays in The New York Review of Books erschienen sind, bauen sie nicht aufeinander auf und können somit auch unabhängig voneinander gelesen werden.

Im ersten Kapitel, „Darwin und der Sinn der Blumen“, nimmt Sacks auf eine wenig bekannte Facette des Evolutionstheoretikers Bezug, Darwins botanisches Interesse nämlich, das in der Literatur über ihn tendenziell vernachlässigt wird. Darwin selbst habe sich ebenfalls kaum für einen Botaniker gehalten, habe er sich doch mit den deskriptiven und taxonomischen Systemen des 19. Jahrhunderts nicht anfreunden können. Vielmehr habe er die evolutionären Aspekte der Flora verfolgt, aus dieser forschenden Haltung heraus minutiös beobachtet und die später verifizierte Hypothese aufgestellt, dass „ein chemischer Botenstoff von der lichtempfindlichen Spitze des Setzlings zu seinem ‚motorischen‘ Gewebe transportiert werde“ (S. 29). Diese zielgerichtete Bewegung kontrastiert auf den ersten Blick mit der Evolutionstheorie. Doch sein Vater habe, so räumt Francis Darwin ein, trotz der Evolutionstheorie, die auf der natürlichen Selektion ohne Ziel beruhe, die Teleologie wiederbelebt und dem „Studium der organisierten Wesen ein Leben und eine Einheit gegeben, welche vorher fehlten“ (S. 31). Trotz der Evolution offenbare sich hier ein zutiefst teleologisches Bewusstsein, der Gedanke, so lässt sich folgern, dass alle lebenden Organismen individuell und einzigartig sind, sie aber dennoch mit allen anderen zuvor gewesenen und später sein werdenden in Verbindung stehen.

Geschwindigkeit“ – so der knappe Titel von Kapitel zwei, in dem Sacks zuerst Geschwindigkeit als kinematographisches Dispositiv würdigt, beruhend auf den kameratechnischen Möglichkeiten Zeit zu beschleunigen oder zu stauchen. Ein besonderes Augenmerk legt er außerdem auf zwei Erzählungen von H.G. Wells, Die Zeitmaschine und Der neue Beschleuniger. Wie nehmen wir normalerweise Zeit wahr? Wann vergeht die Zeit schneller, wann dominieren die langen Augenblicke? Wann befinden wir uns in einer Art Flow? Solche und ähnliche Fragen stehen hier im Mittelpunkt, bevor Sacks das ihn zeitlebens umtreibende Thema neuronale Geschwindigkeit betrachtet, ein Thema, das besonders anschaulich in den sich gegensätzlich gebenden Syndromen des Tourettismus und des Parkinsonismus zu fassen ist. „Physiologisch“ – so konstatiert Sacks – „ist neuronale Normalität Ausdruck eines Gleichgewichts zwischen den exzitatorischen und inhibitorischen Systemen des Gehirns, eines Gleichgewichts, das in Abwesenheit von Drogen oder Schädigungen eine bemerkenswerte Breite und Resilienz besitzt“. (S. 66). Sind jedoch Drogen oder Schädigungen im Spiel, dann gewinnt die neuronale Geschwindigkeit, einhergehend damit das Zeitempfinden, an Fahrt oder verläuft stockend. Doch es wäre falsch, hier von einem Entweder-Oder zu sprechen, denn viele Störungen sind janusköpfig, wie Sacks differenziert ausführt. Bei Parkinsonismus oder beim Tourette-Syndrom gebe es, genauso wie bei der „manischen Depression“, kaum eine Normalität, für sie sei das Hin und Her von Exzitation und Inhibition, letztendlich von Explosion und Implosion, charakteristisch.

Nach diesem Kapitel, das sich sehr eng an Sacks Profession anlehnt, steht erneut Darwin im Fokus, dieses Mal mit „Empfindungsvermögen: Das geistige Leben von Pflanzen und Würmern“. Darwin und andere Naturwissenschaftler in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts suchten in Quallen und Einzellern nach einem geistigen Prinzip, nach „geistigen Prozessen“, die auch Eric Kandel ca. 100 Jahre später in dem einfachen und zugänglichen Nervensystem der Meeresschnecke aufspüren wollte. Solche Forschungen seien erhellend für das Studium der Organisation der neuronalen Netzwerke im Menschen.

Der andere Weg: Freud als Neurologe“ bezieht sich auf Freuds berufliche Tätigkeit vor der Entwicklung der Psychoanalyse. Sacks geht davon aus, dass die neurologische Arbeit insofern der Schlüssel zur Psychoanalyse sein könnte, als hier deutlich werde, wie wenig sich Freud von dem „lokalisationistischen Hype seiner Zunft“ (S. 94) habe beeindrucken lassen, um vielmehr einen evolutionären Ansatz zum Begreifen des Nervensystems weiter zu entwickeln. Der englische Neurologe Hughlings Jackson, der Freud in dieser Hinsicht stark beeinflusst habe, sei davon ausgegangen, dass das Nervensystem bei Krankheit eine „Dis-evolution“, eine „Auflösung oder Regression“ durchlaufe. Freud interpretierte auf dieser Grundlage die Aphasie, auch die Hysterie, zunächst als auf ein Zentrum im Gehirn bezogene Schädigung. Obwohl er keine statischen Läsionen nachweisen konnte, war er überzeugt davon, dass dennoch in bestimmten Hirnregionen eine physiologische Läsion, eine vorübergehende, dynamische Zustandsänderung, stattfinde. Grob gesagt verfasste Freud vor diesem Hintergrund den Entwurf einer Psychologie, der – so Sacks – „die Bereiche von Gedächtnis, Aufmerksamkeit, Bewusstsein, Wahrnehmung, Wünschen, Träumen, Sexualität, Abwehr, Verdrängung, primären und sekundären Denkprozessen […] in einem einzigen zusammenhängenden Bild der menschlichen Psyche“ (S. 104) vereine. Lokale neuronale Spuren des Erinnerns seien in Freuds Auffassung vom Gedächtnis zwar nicht zu unterschätzen, grundsätzlich jedoch habe er die Gedächtnistätigkeit als offene Dynamik mit permanenter Transformation und Re-Kreation konzipiert.

Dieses Thema greift Kapitel 5, „Die Fehlbarkeit des Gedächtnisses“, auf. Es ist ein bekanntes Phänomen, dass Erinnerungen keine Abbildungen des Gewesenen sind, sondern Rekonstruktionen. Außerdem sei nicht immer sicher, so führt Sacks aus, ob wir eine eigene Erfahrung oder die einer anderen Person wiedergeben. Nach einem hier nur kurzen Schlenker zu Freud und seiner Faszination von Fehlleistungen und Gedächtnisirrtümern betont Sacks, dass lebendige Erinnerungen Muster in den sensorischen, emotionalen und exekutiven Bereichen des Gehirns aktivierten, unabhängig davon, ob die Erinnerung auf Erfahrung zurückgehe oder nicht. Unser Gedächtnis sei einerseits fehlerhaft, andererseits aber höchst kreativ und selbst die sogenannte Quellenamnesie könne eine Stärke sein, weil man ohne sie mit unwichtigen Informationen zugeschüttet werde.

Hörfehler“ seien, so die These im folgenden Kapitel, immer eine Neuschöpfung und könnten vor allem unsere sprachliche Wahrnehmung in einem neuen Licht erscheinen lassen. Zwar seien am Verhören auch bewusste oder unbewusste Wünsche beteiligt, doch die Autonomie „neuronaler Mechanismen“ und der „offene, unvorhersehbare Charakter der Sprache“ spielten dabei eine nicht minder herausragende Rolle.

In Kapitel 7, „Das schöpferische Selbst“, konturiert Sacks den Balanceakt gelungener Bildung zwischen Strukturierung und Freiheit. Mit „Proto-Kreativität“ bezeichnet er „die Energie, die alles verschlingende Leidenschaft, der Enthusiasmus und die Liebe, mit der sich der junge Verstand allem zuwendet, was ihm Nahrung gibt, mit der er sich intellektuelle oder andere Vorbilder sucht und seine Fertigkeiten durch Nachahmung verfeinert“ (S. 141). Imitation, ein Lernen am Modell, so könnte man erweitern, in der Kunst sogar sei es das Epigonale, so Sacks, beflügele die eigene Kreativität, die sich oftmals erst nach jahrelanger bewusster Vorbereitung und gleichzeitig unbewusster „Inkubationszeit“ als Energie, Kühnheit und auch mitunter „subversive Mentalität“ (S. 150) äußere.

In den folgenden Überlegungen (Kapitel 8: „Ein gestörtes Gemeingefühl“) widmet sich Sacks der homöostatischen Regulation des menschlichen Körpers, an der das zentrale Nervensystem, das propriozeptive System und insbesondere das vegetative Nervensystem beteiligt seien, teile dieses uns doch mit, wie es uns gehe. Beispiele für die gestörte Regulation bezieht der Autor zum einen von seinen ehemaligen Migränepatienten, zum anderen aus eigenem Erleben nach einer Operation im Februar 2015.

Das titelgebende Essay, „Der Strom des Bewusstseins“ (Kapitel 9), führt hin zu der Art und Weise, wie Menschen Zeit erleben, zur Frage, ob diese eher eine Sequenz separater Momente sei oder in einem kontinuierlichen Strom verlaufe. Sacks entscheidet sich für die Metapher eines Films „mit seinem dichten Strom thematisch verknüpfter Bilder, seiner visuellen Erzählung“ (S. 171) und würdigt „die technischen und begrifflichen Mittel des Kinos – Zoomen, Überblenden, Abblenden, Auslassungen, Assoziationen und Gegenüberstellungen aller Art“ als „ein ziemlich genaues Abbild der vielfältigen Strömungen und Wendungen des Bewusstseins“ (S. 171). In manchen Krankheitsformen treten ausgeprägte Diskontinuitäten auf, so etwa bei Migränepatienten „flimmernde Folgen von ‚Standbildern‘“ (S. 173) oder „erstarrte Einzelbilder“, „freeze frames“ (S. 178), wie sie im „Wagenrad-Effekt“ (S. 180) auch im Alltag zu beobachten seien. Insgesamt, so hält Sacks fest, postuliere man heute, dass die Erfahrung des Individuums die Konnektivität und Funktion des Gehirns bedinge. Damit diese Erfahrung ins Bewusstsein vordringe, müsse die neuronale Aktivierung eine bestimmte „Intensitätsschwelle“ überwinden und „auf diesem Niveau gehalten werden“ (S. 187). Damit dies geschehen könne, müsse die zuerst aktivierte Neuronengruppe mit unzähligen weiteren Neuronen koalieren. Ein einziges „visuelles Perzept“ aktiviere u.U. Milliarden weiterer Nervenzellen und verschmelze mit vielen anderen Perzepten zu Kontinuität, seien verantwortlich „für ein fließendes, in Bewegung befindliches Bewusstsein“ (S. 189).

Zum Abschluss des Bandes begibt sich Kapitel 10 („Blinde Flecken: Vergessen und Vernachlässigen in der Wissenschaft“) zunächst auf eine Metaebene: wie kann man über ein medizinisches Phänomen, in diesem Falle Migräne und das Tourette-Syndrom, schreiben, wenn es dazu keine aktuelle Literatur gibt? Sacks rekurrierte auf ältere medizinische Texte, die eine gute Basis für seine Beobachtungen bildeten. Ähnlich war es, als er in Norwegen einen Unfall hatte, sein Bein nicht mehr spürte (nachzulesen in „Der Tag, an dem mein Bein fortging“) und bei der Erforschung des Ganzen auf die Arbeiten von Forschern stieß, deren Schriften in ein „Gedächtnisloch“, „ein historisches oder kulturelles Skotom“ (S. 205), gefallen zu sein schienen. Diese waren ihrer eigenen Zeit vermutlich voraus, sie waren „verfrüht“ und deshalb zum einstweiligen Vergessen verdammt. Um nicht vergessen zu werden, sei es also unabdingbar, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. Die Bedeutung des Zufalls, von Glück und Pech ebenso, sei in der Medizin nicht zu überschätzen, oft hänge der Fortschritt „entscheidend von seltenen und ungewöhnlichen – manchmal sogar einzigartigen – Fällen ab, auf die die richtige Person zur richtigen Zeit stoßen“ müsse (S. 224).

Diskussion

Vorab könnte man sich zu Recht fragen, warum „Der Strom des Bewusstseins“ auf einer sozialwissenschaftlichen Plattform besprochen wird. Sollte es im Verlauf der inhaltlichen Darstellung nicht gelungen sein, diese Frage zu beantworten, dann wird abschließend keine ausführliche Legitimationstirade lanciert. Nur so viel: Die hohe interdisziplinäre Wertigkeit, das generalistische und epistemologische Interesse, das in Sacks Texten zu Tage tritt, ist auch für sozialwissenschaftliche Disziplinen relevant.

Der Einstieg in die Essaysammlung, „Darwin und der Sinne der Blumen“, mag befremdlich erscheinen. Spätestens ab dem Moment jedoch, als Sacks die Verquickung von Evolution und Teleologie im Schaffen des Erfinders der Evolutionstheorie betont, erscheint das erste Kapitel als geschickt platzierter Opener für alles Weitere. Sacks schreibt sehr passend: „Ich genieße dieses Wissen um meine biologische Einzigartigkeit und mein unendliches biologisches Alter und meine biologische Verwandtschaft mit allen Lebensformen. Dieses Wissen verleiht mir Wurzeln, es erlaubt mir, mich in der natürlichen Welt zu Hause zu fühlen, es gibt mir ein Empfinden biologischer Sinnhaftigkeit, ganz unabhängig von meiner Rolle in der kulturellen, der menschlichen Welt“ (S. 34).

Die Ausführungen zum Tourette-Syndrom und der Parkinson-Krankheit im zweiten Kapitel bilden eine geeignete Reminiszenz an die beiden primären neurologischen Impulse, Exzitation und Inhibition, die Sacks ausführlich in seiner Fallgeschichten-Sammlung „Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte“ beschreibt. Das Wissen darüber, dass sich sowohl Tourette- als auch Parkinson-Patienten in ihrer bipolaren Spannung vom einen zum anderen wandeln können, ist nicht nur in der pflegerischen und/oder sozialen Arbeit von Vorteil.

Sacks legt sehr überzeugend dar, dass es verfehlt ist, Sigmund Freuds Schaffen auf die Entwicklung der Psychoanalyse zu reduzieren. Dass Freud ebenso Neurologe war und er physiologische Erinnerungsspuren im Gehirn annahm, beweist, wie hellsichtig und bahnbrechend er eigentlich war und somit, welche Bedeutung er heute trotz mancherlei Kritik immer noch hat. In seinen Werken thematisiert er, genauso wie Sacks, das Widerspiel von Physischem und Psychischem als lebendige Dynamik, die sich in den einerseits fehlerbehafteten, andererseits höchst kreativen Leistungen des Gedächtnisses niederschlägt. Sacks wird nicht müde zu betonen, dass wir keinen direkten Zugang zur Welt haben, also immer konstruktivistisch vorgehen, denn was wir als wahr ansehen, „hängt im gleichen Maße von unserer Phantasie wie von unseren Sinnen ab“ (S. 131). Auf rein existenzieller Ebene höchst wertvoll ist die oft formulierte, hier neurowissenschaftlich untermauerte Erkenntnis, dass jeder Mensch die Welt und ihre Geschehnisse auf subjektive Weise erfährt, diese dabei sowohl konstruiert als auch im Erinnern rekonstruiert, bewertet und interpretiert.

Konsequenterweise avanciert die narrative Wahrheit zur einzigen Wahrheit (S. 131). Dies ist eine Einsicht, die Sacks sehr am Herzen lag (vgl. etwa die letzten Seiten von „On the move“), die eng mit dem „Strom des Bewusstseins“ verquickt ist, mit der regelrecht kinematographischen Organisation des hochgradig komplexen und dynamischen menschlichen Bewusstseins, dessen Kreativität sich in nicht allzu ferner Zeit noch genauer mit bildgebenden Verfahren fassen lassen wird. Dabei kommt eine Pädagogik ins Spiel, die Möglichkeiten bietet, diese aber nicht festlegt, die Kreativität nicht unterdrückt, sondern ganz im Gegenteil in einer fröhlich konzipierten Wissenschaft von ganzem Herzen feiert. Solche und ähnliche Schlüsse, die hier zu ziehen sind, ordnen die Essaysammlung in das Kontinuum einer neurologisch begründeten Didaktik ein.

Oliver Sacksschöpft in seinem letzten Buch aus einem reichhaltigen Forschungs- und Erfahrungsschatz. Es ist eine große Freude, seine Gedankengänge zu registrieren, die Erträge eines tiefgründigen und flexiblen Geistes zu lesen und an seinen intellektuellen Streifzügen teilzuhaben. Nicht selten verflechten sich in ihnen vielerlei Assoziationen, was vielleicht als kleiner Wermutstropfen genannt werden sollte. Sacks' Texte lassen jeweils an mehreren Stationen unterschiedliche Namen, bekannte und weniger bekannte, Revue passieren, was zum Facettenreichtum eines außergewöhnlich intelligenten und geistig wendigen Menschen passt. Als durchschnittlicher Leser würde man jedoch an manchen Punkten gerne etwas länger verweilen.

Fazit

Sollte jemand bislang noch keine Texte von Oliver Sacks gelesen haben, empfiehlt es sich entweder, mit leicht verdaulicher Kost, höchst empfehlenswert „Der Mann, der seine Frau mit einem Hut“ verwechselte, zu beginnen oder aber die vorliegenden Essays einzeln zu genießen. Wer sich auf einfache und ansprechende Weise mit zeitgemäßen Diskussionen im Bereich Neurologie, Psychologie und Psychiatrie vertraut machen möchte und ohne in einen komplizierten naturwissenschaftlichen Diskurs einzusteigen die interdisziplinäre und ontologische Relevanz von Kreativität und Gehirn kennen und besser schätzen lernen möchte, dem seien die Texte von Sacks im Allgemeinen und „Der Strom des Bewusstseins“ im Besonderen empfohlen.

Rezension von
apl. Prof. Dr. Anne Amend-Söchting
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Es gibt 37 Rezensionen von Anne Amend-Söchting.

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Zitiervorschlag
Anne Amend-Söchting. Rezension vom 13.06.2018 zu: Oliver W. Sacks: Der Strom des Bewusstseins. über Kreativität und Gehirn. Rowohlt Verlag (Reinbek) 2017. ISBN 978-3-498-06434-1. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/24025.php, Datum des Zugriffs 02.04.2023.


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