Sabine Maschke, Ludwig Stecher: Sexuelle Gewalt
Rezensiert von Dr. Karoline Klamp-Gretschel, 08.06.2018

Sabine Maschke, Ludwig Stecher: Sexuelle Gewalt. Erfahrungen Jugendlicher heute. Beltz Verlag (Weinheim, Basel) 2018. 128 Seiten. ISBN 978-3-407-25789-5. D: 19,95 EUR, A: 20,60 EUR, CH: 27,90 sFr.
Thema
Zur Auseinandersetzung mit dem Thema ‚sexueller Gewalt‘ bei Kindern und Jugendlichen ist es notwendig, sich mit den Erfahrungen, Einschätzungen und Bedürfnissen der Personengruppe zu beschäftigen. Auf diesem Wege können Risiken erkannt und durch geeignete Präventionsansätze reduziert werden, sodass sich die alltägliche Umwelt sicherer für Kinder und Jugendliche gestaltet. Daraus ergeben sich Fragen nach der konkreten Betroffenheit von sexueller Gewalt, Täter_innen, Orten, an denen Übergriffe stattfinden, sowie förderlichen und hinderlichen Bedingungen der Umwelt, die mit Hilfe der Studie ‚Speak!‘ beantwortet werden sollen.
Autor_innen
Prof. Dr. Sabine Maschke ist Professorin für Allgemeine Erziehungswissenschaft an der Philipps-Universität Marburg. Sie forscht u.a. zu (außerschulischer) Bildung, Kindheit und Jugend, Übergängen, Biographie sowie qualitativer und integrativer empirischer Sozialforschung.
Prof. Dr. Ludwig Stecher ist Professor für Empirische Bildungsforschung am Institut für Erziehungswissenschaft an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Er forscht u.a. zu extra-curricularer und außerschulischer Bildung (Extended Education), Kindheit und Jugend, Lehrer_innenbildung und Ganztagsschulen.
Entstehungshintergrund
Das Thema ‚sexuelle Gewalt‘ ist allgegenwärtig, insbesondere pädagogische Fachkräfte stehen vor der Aufgabe, sich sowohl mit dem Thema auseinanderzusetzen wie auch die von ihnen betreuten Kinder und Jugendlichen präventiv zu begleiten. Auch Eltern sind u.a. hinsichtlich aktueller Berichterstattungen über sexuelle Gewalt in Institutionen der Kinder- und Jugendhilfe beunruhigt und fragen nach verlässlichen Daten über das Vorkommen und die Prävention von sexueller Gewalt. Sabine Maschke und Ludwig Stecher formulieren dazu: „Insgesamt verdeutlichen unsere Ergebnisse, dass sexuelle Gewalt eine weitverbreitete Erfahrung unter Jugendlichen ist. Für die pädagogische Arbeit heißt das, genauer hinzuschauen, nachzufragen, auch zu intervenieren“ (S. 6).
Aus diesem Grunde wurde durch das Hessische Kultusministerium die Studie ‚Speak!‘ finanziell gefördert. Mit Hilfe der Studie wurden insgesamt 2719 Schüler_innen an 53 allgemeinbildenden Schulen (ausgenommen Förderschulen) in Hessen befragt.
Aufbau und Inhalt
Das Buch von Maschke und Stecher beinhaltet acht Kapitel und ein Literaturverzeichnis.
- Einleitung
- Wer ist von sexueller Gewalt betroffen?
- Erweiterte Perspektiven auf sexuelle Gewalterfahrungen
- Lebensweltliche Zusammenhänge
- Schule
- Wie denken die Jugendlichen über die Befragung Speak!?
- Prävention – Was tun!?
- Die Studie Speak!
In Kapitel 1 geben die Autor_innen einen kurzen Überblick über die Studie ‚Speak!‘, die Gestaltung der Publikation und die Zielgruppe. Zudem erfolgt eine Definition des Begriffs ‚sexuelle Gewalt‘ und eine Danksagung an alle an der Studie Beteiligten.
Kapitel 2 widmet sich der Frage, wer von sexueller Gewalt betroffen ist. Dazu werden die Studienergebnisse zu nicht-körperlichen und körperlichen Formen sexueller Gewalt (Kap. 2.1), zum Alter des ersten Erlebens sexueller Gewalt (Kap. 2.2), zu Orten der erlebten Übergriffe (Kap. 2.3) sowie zu Täter_innen (Kap. 2.4) dargelegt und der Blick auf ausgewählte Erfahrungsprofile gerichtet (Kap. 2.5).
In Kapitel 3 wird der Fokus auf sexuelle Gewalt erweitert, indem nicht nur das direkte Erleben sexueller Gewalt sondern auch das Beobachten dieser (Kap. 3.1) wie auch das indirekte Beobachten durch Hörensagen (Kap. 3.2) erhoben werden. Darüber hinaus werden Ergebnisse zu Jugendlichen, die selbst sexuelle Gewalt ausgeübt haben, skizziert (Kap. 3.3). In Kap. 3.4 erfolgt ein Überblick über die bisherigen Ergebnisse des Kapitels, während abschließend die Ergebnisse zur Kommunikation über beobachtete und ausgeübte sexuelle Gewalt ausgeführt werden (Kap. 3.5).
Die lebensweltlichen Zusammenhänge der befragten Jugendlichen werden in Kapitel 4 erörtert. Genauer werden die Aspekte Folgen sexueller Gewalt (Kap. 4.1), Auswirkungen auf das Selbstbild (Kap. 4.2), das Zusammenwirken freiwilliger sexueller Erfahrungen und sexueller Gewalt (Kap. 4.3), körperliche Entwicklung (Kap. 4.4), Konsum von Alkohol, Nikotin und Drogen (Kap. 4.5), Erwartungen an Partner_innenschaften (Kap. 4.6), Unterschiede zwischen Stadt und Land (Kap. 4.7), Konsum von Pornografie (Kap. 4.8) sowie familiäre Beziehungen (Kap. 4.9) betrachtet. Das Kapitel endet mit einer Zusammenfassung der Ergebnisse (Kap. 4.10).
Kapitel 5 befasst sich mit der Institution, in der Jugendliche einen großen Teil ihrer Lebenszeit verbringen, der Schule. Die Jugendlichen werden nach ihren Einschätzungen zu ihrer Freude an Schule und Lernen (Kap. 5.1), zu der Sicherheit im Schulalltag (Kap. 5.2), zu ihren Beziehungen zu den Lehrkräften (Kap. 5.4; es gibt kein Kap. 5.3), zu den Erfahrungen von und dem Umgang mit Mobbing (Kap. 5.5) sowie der Qualität des Klassenklimas (Kap. 5.6) befragt. In Kap. 5.7 wird eine Zusammenschau der Ergebnisse gegeben.
Kapitel 6 widmet sich der Einschätzung der befragten Jugendlichen zur Studie ‚Speak!‘. Einerseits können sie die Wirkung der Studie auf sich selbst bewerten (Kap. 6.1) und andererseits wird hervorgehoben, was die Befragten noch wissen wollen und mit wem sie – vor allem nicht – über sexuelle Gewalt sprechen (u.a. die Eltern; Kap. 6.2).
Möglichkeiten der Prävention sexueller Gewalt werden in Kapitel 7 beleuchtet. Gleichaltrige haben eine große Bedeutung für Jugendliche, insbesondere während der Pubertät, wenn sich Jugendliche von den Eltern zurückziehen; zugleich können Gleichaltrige sowohl als Unterstützer_innen wie auch als Täter_innen auftreten (Kap. 7.1). Konkrete Hinweise zur Prävention bezogen auf die Studienergebnisse werden in Kap. 7.2 beschrieben und als Kombination daraus ‚SEPP: Sensibilisierende Prävention durch Partizipation‘ (Kap. 7.3) vorgeschlagen. Zusätzlich werden weitere Anknüpfungspunkte aus der Studie vorgestellt (Kap. 7.4).
Das Buch schließt mit Kapitel 8, in dem Studie, Studiendesign und Durchführung skizziert werden.
Am Ende des Buches findet sich das Literaturverzeichnis.
Diskussion
Es liegen bereits vielfältige Veröffentlichungen zum Thema sexuelle Gewalt bei Jugendlichen vor, die sich jedoch auf keine derartig repräsentative und aktuelle Befragung gründen wie die von Maschke und Stecher durchgeführte Studie ‚Speak!‘. Es ist den Autor_innen gelungen, eine differenzierte Grundlage zur Diskussion und Prävention von sexueller Gewalt an und unter Jugendlichen zu schaffen.
Die Ergebnisse aus den 2719 Befragungen von hessischen Schüler_innen wurden so aufbereitet und in der vorliegenden Publikation dargestellt, dass sie eine gut nachvollziehbare Grundlage zur Prävention für Fachkräfte und Interessierte darstellen. Durch den Bezugsrahmen der Studie auf das Bundesland Hessen besteht die Möglichkeit der Übertragung auf andere Bundesländer, zugleich ergeben sich für andere Forscher_innen plausible Anschlussmöglichkeiten für Erhebungen in weiteren Bundesländern oder Regionen.
Es wird deutlich, dass Maschke und Stecher durch eine möglichst umfassende Gestaltung des Fragebogens und eine große Anzahl an Items eine sehr umfassende Erhebung zum Thema geplant und durchgeführt haben. Obgleich alle Ergebnisse eine hohe Relevanz zur Prävention sexueller Gewalt aufweisen, gefährdet die Datenmenge die Lesenden teilweise, den Überblick zu verlieren. Durch die sehr ansprechende optische Gestaltung des Buches (u.a. mit Grafiken) ist das Zurückfinden in die vorgegebene Struktur aber schnell möglich.
Es gelingt Maschke und Stecher herauszuarbeiten, dass sexuelle Gewalt an und unter Jugendlichen eine differenzierte Herangehensweise benötigt, da sowohl Auftretensformen wie auch Täter_innen äußerst heterogen sind. Es bedarf eines genauen Blicks auf die Bedürfnisse und die Gelegenheiten, die dazu beitragen. Dementsprechend erscheint eine Ausweitung auf das junge Erwachsenenalter schlüssig, muss aber aufgrund der Zielsetzung der Publikation außen vor bleiben. Gleichsam können die Ausführungen anderen Autor_innen als Grundlage zur Ergänzung um weitere Erhebungsergebnisse dienen.
Fazit
Es ist den Autor_innen gelungen, einen umfassenden Blick auf Erfahrungen sexueller Gewalt in Kindheit und Jugend zu werfen. Durch die fachliche Expertise und eine umfassende Befragung mit Items zu verschiedenen beteiligten Bereichen ist ein wesentlicher Beitrag zur Prävention sexueller Gewalt und zur gesellschaftlichen Auseinandersetzung damit entstanden.
Wie zu Beginn von Maschke und Stecher hervorgehoben, „ist [es] zentral, dass jugendliche Schüler/innen ein »Feeling« für kritische Situationen entwickeln und benennen können, was ihnen Unbehagen bereitet etc. Erwachsene, Lehrkräfte, Eltern usw. müssen zudem zu vertrauenswürdigen Gesprächsparter/innen werden“ (S. 6, Herv. i. O.). Die Publikation leistet diesen Beitrag, indem sie ebenjene kritischen Situationen aufzeigt, die wiederum Gesprächsanlässe für die Bezugspersonen bieten können.
Das Buch kann allen Lehrkräften, pädagogischen Fachkräften und Eltern, aber vor allem auch Studierenden sowie weiteren interessierten Leser_innen uneingeschränkt empfohlen werden.
Rezension von
Dr. Karoline Klamp-Gretschel
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