Reinhard Mehring: Die Erfindung der Freiheit
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 14.03.2018

Reinhard Mehring: Die Erfindung der Freiheit. Vom Aufstieg und Fall der Philosophischen Pädagogik. Verlag Königshausen & Neumann (Würzburg) 2018. 292 Seiten. ISBN 978-3-8260-6428-9. D: 39,80 EUR, A: 41,00 EUR.
Die „Weltanschauung“ von Bildung und Schule
Es genügt, wenn man sich die Mühe macht, in ältere Pädagogik-Lexika zu schauen, um in den Definitionen über „Bildung“, „Erziehung“, „Pädagogik“ die ständigen Veränderungs- und Revisionsprozesse zu erkennen, die sich in der „Vielfalt-Wissenschaft“ über die Jahrtausende und Jahrhunderte vollzogen haben. Wenn Bildung heute als „die individuelle Gestaltung, Prägung und Entfaltung einer Person mit dem Ziel (verstanden wird), in Wechselwirkung mit der Natur und den jeweiligen historisch bedingten kulturellen Gegebenheiten die eigenen Anliegen in möglichst umfassender Weise zu entwickeln, sodass diese Person einerseits den an sie gerichteten Anforderungen zu entsprechen vermag, wie sie andererseits sich frei zu diesen Anforderungen verhalten kann“ (Lexikon der Philosophie, 2009, S. 98), scheint durch, was bereits in der antiken griechischen Philosophie als „paideia“, Erziehung und Bildung, aufgefasst und von Aristoteles mit den drei Fragen verstanden wurde: „Soll man für die (Bildung und Erziehung) feste Anordnungen treffen?“ – „Soll man die Sorge (um sie) zu einer gemeinsamen Angelegenheit machen und sie dem Staat übertragen oder sie den einzelnen Bürgern überlassen?“ – „Welcher Art soll sie sein?“ (R. Geiger, in: Otfried Höffe, Aristoteles-Lexikon, 2005, S. 419ff).
Dieser anthropologisch und geisteswissenschaftlich bezogenen Fokussierung auf die Theorien und Praxen der Pädagogik stehen Interpretationen und Zielsetzungen gegenüber, die sich an natur- und gesellschaftswissenschaftlichen Strukturen orientieren. Diese im erziehungswissenschaftlichen Diskurs bis heute geführten, kontroversen Auseinandersetzungen gilt es, wahrgenommen und kritisch betrachtet zu werden. Angesichts der sich durch die Globalisierung der Welt vollziehenden Entgrenzungen und des scheinbar ausufernden Momentanismus werden die Rufe lauter, sich den Fragen nach einem guten, gelingenden, gerechten und gleichberechtigten Leben für alle Mitglieder der menschlichen Familie zuzuwenden, und damit die Bedeutung des anthropologischen, philosophischen Bewusstseins zu betonen, wie sie in der geisteswissenschaftlichen Pädagogik grundgelegt ist. Es sind die vielfältigen Versuche, die „Spaltung“ in der pädagogischen Theorie und Praxis aufzuheben und dem philosophischen Nachdenken über eine humane, lokale und globale Existenz der Menschen (wieder) eine Chance zu geben. Es genügt, dabei nur einige aktuelle Beispiele für dieses Bemühen zu nennen: Da sind die Überlegungen, wie sie etwa Hermann Lübbe mit seiner eher pessimistischen Sicht über eine gelingende Weltentwicklung vorlegt (Zivilisationsdynamik. Ernüchterter Fortschritt politisch und kulturell, 2014, www.socialnet.de/rezensionen/16708.php), wie sie Julian Nida-Rümelin mit der Auffassung formuliert, dass die Bildungskrise sich als Lebenskrise darstellt ( Philosophie einer humanen Bildung, 2013, www.socialnet.de/rezensionen/14556.php), wie sie Oskar Negt als politische Herausforderung bezeichnet (Der politische Mensch. Demokratie als Lebensform, www.socialnet.de/rezensionen/11988.php), und wie sie Hans Lenk als Zusammenführung von ökonomischen und ökologischen Interessen versteht (Human zwischen Öko-Ethik und Ökonomik, 2018, www.socialnet.de/rezensionen/23859.php).
Autor
Der (em.) Sozial(Politik-)wissenschaftler Reinhard Mehring hat an der Berliner Humboldt-Universität und der Heidelberger Pädagogischen Hochschule gearbeitet. Sein Anliegen: Die Bedeutung der pädagogischen, theoretischen und praktischen Kompetenz für die Lehrenden und die pädagogischen Verhältnis und die Institution Schule im Rahmen der Bildungs- und Erziehungswissenschaft darzustellen. Er legt dazu in seinem Buch „Die Erfindung der Freiheit“ mehrere Studien vor, die bereits als Auseinandersetzungen über die Stellung und Entwicklung der Philosophischen Pädagogik in der Universitätsphilosophie und als pädagogische Analysen und Erfahrungen als Aufarbeitung der bedeutsamen Stationen „nach PISA“ und „Bologna“ an anderen Stellen (u.a. in der Zeitschrift „Pädagogische Rundschau“) veröffentlicht wurden. Anlass der zusammenfassenden Publizierung wird mit dem Untertitel des Buches „Vom Aufstieg und Fall der Philosophischen Pädagogik“ begründet.
Aufbau und Inhalt
Der Autor gliedert den Sammelband in fünf Teile und untergliedert die Beiträge in weitere Kapitel:
- Der erste Teil ist überschrieben mit „Möglichkeitsbedingungen“,
- der zweite in „Pioniere des 20. Jahrhunderts: Paulsen, Weber, Kerschensteiner“,
- im dritten Teil fokussiert er „Hauptvertreter Spranger“,
- den vierten titelt er als „Politischer Umbruch“ und
- den fünften mit „Paradigmenwechsel“.
Eine Darstellung des Werdens, Wirkens und Wollens von Bildungszielen und -ansprüchen ist ein historischer Akt. Sie muss zwangsläufig als „Geschichte“ zu einem bestimmten, vom Autor ausgewählten Zeitpunkt beginnen und beendet werden.
Mehring beginnt seine Analyse mit der Zeit des Neuhumanismus s und Klassizismus, in der, vor allem durch Wilhelm von Humboldt (1767 – 1835) ein Gegenpol zum (Gemein-)Nutzen in der Aufklärungspädagogik gesetzt und die Individualität des Menschen, vor allem in der schulischen Bildung, betont wurde. Es ist der Wandel hin zur säkularen Gesellschaft, in der der freiheitlich-selbstbestimmte Gedanke als Priorität festgelegt wurde. Die in dieser Zeit sich vollziehenden (Neu-)Gründungen und Weiterentwicklungen der Universitäten, wie auch des dreigliedrigen Schulsystems (!). Es sind die idealistischen Betrachtungen, die den europäischen, nationalstaatlichen Tendenzen zuarbeiten und sie fördern. Es ist kein unumschränktes Plädoyer des Autors für diese Auffassungen, jedoch der Rat, sich mit den Entwicklungen wie auch den „Wi9ndmühlenkämpfen“ gegen sie historisierend auseinanderzusetzen. Heute über Bildung zu reden, entweder philisterhaft oder überzeugt oder mit der Nachhilfe durch „Wikipedia“, unterliegt dem Wagnis, in die Falle des Vollzugs-, Verwertungs- und Kompetensgerangels zu geraten und die „formale Bildung“ als curriculare Verordnung zu verstehen: „Jeder Ausbildungs- und Wissenskanon (hängt) von konstanten lebensweltlichen Praktiken ab ( ), die schwinden. Jeder Tausch- und Gebrauchswert des Wissens wird heute flüchtig“.
Ausgewählte „Pioniere des 20. Jahrhunderts“ dienen als Beispiele für die (vergessenen?) Innovationen, Zielperspektiven und Irrungen dieser Zwischenzeit des philosophisch-geisteswissenschaftlich-pädagogischen Aufbruchs:
- Friedrich Paulsen (1846 – 1908) mit seiner metaphysischen Präferenz zu den aufkommenden naturwissenschaftlichen Diskussionen und zur Evolution, setzte sich in der universitären Berliner Ordinarienordnung dafür ein, die Pädagogik als Teil der praktischen Philosophie zu etablieren;
- der Soziologe Max Weber (1864 – 1920) engagierte sich für die Transformation des Wilhelminismus in der Weimarer Republik, für „Selbstbescheidung“ und „Selbstbesinnung“ und wirkte damit auf den Anspruch zur politischen Bildung innerhalb des pädagogischen Prozesses ein;
- der Reformpädagoge und Schulpolitiker Georg Kerschensteiner (1854 – 1932) setzte sich mit seiner „Theorie der Bildung“ dafür ein, Die (Aus-)Bildung der Lehrkräfte als Fachleute und Ethiker und forderte: „Individualität, Aktivität, Persönlichkeit“
In der Referenz und Rezeption zur Geschichte der Universitätspädagogik wird Eduard Spranger (1882 – 1963) als ein Hauptvertreter der Philosophischen Pädagogik geführt. Es sind seine wissenschaftlichen und reflexiven Verdienste, wie auch seine politischen und ideologischen Irrungen und Wirrungen, die ihn heute als umstrittenen Geist zeigen und vergessen lassen. Seine geisteswissenschaftliche Pädagogik prägte über Jahrzehnte hinweg LehrerInnen-Generationen. Er gilt als Gründer der „Pädagogischen Hochschulen“ und damit auch als sein entscheidender Förderer der Professionalisierung in der Volksschullehrer-Ausbildung: „Nur mit dem Eigensinn und Selbsterziehungswillen des Zöglings kann der Erzieher arbeiten“. Indem er den Diltheyschen Bildungs- und Erziehungsethos modernisierte, schuf er die Grundlagen dafür, dass sich die Wertvorstellungen des „Bildungsindividualismus“ zu verteidigen. Konsequenterweise rührt (oder rüttelt) Mehring im Zusammenhang mit dem Spranger-Diskurs an der institutionellen und systematischen Entwicklung in der universitären bzw. PH-Ausbildung in den Lehrämtern: „Für eine berufsbildorientierte und praxisnahe Lehrerausbildung sind die Pädagogischen Hochschulen eigentlich nach wie vor ein attraktives Modell“.
Im vierten Teil „Politischer Umbruch“ thematisiert Mehring die Ideologie- und Missbrauchspolitiken zur Interpretation und Vereinnahmung des von Humboldt entwickelten Bildungsbegriffs; etwa, wenn die Nationalsozialisten zu seinem 100. Todestag in einer „Säkularfeier“ an Wilhelm von Humboldt erinnerten; aber auch – gewissermaßen als Vergessensvorwurf – dass zu Humboldts 250. Geburtstag, am 22. Juni 2017, kaum Aufhebens gemacht wurde. In der neueren erziehungswissenschaftlichen Geschichte gab es (vergessene oder verdrängte) Anlässe und Entwicklungen, die von Vertretern und Apologeten der Sprangerschen Pädagogik veranlasst wurden; etwa von Kurt Grube (1903 – 1936), der sich, als aufstrebender, früh verstorbener Geisteswissenschaftler von Prag aus zur Bedeutung der Jugendbewegung in der Pädagogik äußerte und mit seinen wissenschaftlichen Arbeiten eine neuhumanistische Politik gegen die nationalsozialistische in Stellung brachte. Auch der Humanist Ernst Robert Curtius (1886 – 1956) kann als Gegner der nationalsozialistischen Pädagogik verstanden werden, wenn er in seinen theoretischen Schriften einen „Patriotismus der Solidarität“ fordert.
Mit der „Kritischen Theorie“ und Theodor W. Adorno vollzieht sich ein Paradigmenwechsel im geisteswissenschaftlichen Diskurs. Als „praktisch eingreifende oder interventionistische Theorie der Praxis sozialen Handelns“ plädiert sie für eine „Erziehung zur Mündigkeit“. Seine, gegen die existenzphilosophischen Auffassungen gerichtete Kritik fasst er in dem vagen und unbestimmten Satz zusammen: „Das einzige, was man vielleicht sagen kann, ist, dass das richtige Leben heute in der Form des Widerstandes gegen die von dem fortgeschrittenen Bewusstsein kritisch durchschauten, kritisch aufgelösten Formen eines falschen Lebens bestünde“. Bedeutsam sind seine Interventionen zur Lehrerrolle zwischen den Polen Lernvermittler im hierarchischen System der Schule und Beansprucher der pädagogischen Freiheit.
Die Differenzierung zwischen doktrinalen und nichtdoktrinalen Traditionen bringt den Zürcher Philosophen Michael Hampe dazu, die „Lehren der Philosophie“ im Sinne des antiken, aristotelischen Denkens in den pädagogischen Diskurs einzubringen und „Kreativität“ als Brückenkonzept zwischen den widerstreitenden pädagogischen Systemen zu etablieren.
Zum Schluss der Zusammenfassung seiner Forschungstexte nennt Mehring einige der philosophischen Vertreter, die im kontroversen philosophischen und pädagogischen Diskurs zwischen dem pädagogischen Idealismus, dem kulturphilosophischen und zivilisatorisch-weltlichen Konzepten Position beziehen: den Soziologen und Publizisten Jürgen Kaube, den Philosophen Konrad Liessmann, und Julian Nida-Rümelin.
Fazit
Der historische, institutionelle, philosophisch-pädagogische Gang der Entwicklung der Pädagogiken, von Humboldt bis Spranger und darüber hinaus bringt Reinhard Mehring dazu, mit der Sammlung von ausgewählten Studien und Forschungsarbeiten zum geisteswissenschaftlichen Diskurs Position zu beziehen. Die Metapher „Erfindung der Freiheit“ ist dabei Programm und Bekenntnis. In diesen kontroversen, historischen und aktuellen Diskussionen kommt immer wieder die Frage zur Geltung: „Was kennzeichnet den guten Lehrer?“. Und damit natürlich die Frage: „Was ist ein gutes, humanes Lernen?“. Die eine, sowohl geisteswissenschaftlich als auch lebensweltlich gültige Antwort kann deshalb nur sein: Lernen als Ziel der Verhaltensänderung und der Gewährleistung dafür, für das Individuum und die Menschheitsfamilie ein gutes, gelingendes, gerechtes, gleichberechtigtes und menschenwürdiges Leben zu ermöglichen. Dafür ist die Nachschau darüber, wie wir geworden sind, was und wie wir sind, also der Blick in die Vergangenheit notwendig; zum anderen die Vergegenwärtigung des Hier und Heute erforderlich; und schließlich die Vision einer humanen Zukunft aufgegeben. Wer wollte leugnen, dass diese Ansprüche und Herausforderungen nur intellektuell denkend verwirklicht werden können. Die Philosophie als theoretisches Fundament und praktische Lebenskunde liefert dafür auch in pädagogischen Prozessen Grundlage!
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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