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Reinhard Mehring: Philosophie im Exil

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 14.03.2018

Cover Reinhard Mehring: Philosophie im Exil ISBN 978-3-8260-6449-4

Reinhard Mehring: Philosophie im Exil. Emil Utitz, Arthur Liebert und die Exilzeitschrift ‚Philosophia‘. Dokumentation zum Schicksal zweier Holocaust-Opfer. Verlag Königshausen & Neumann (Würzburg) 2018. 344 Seiten. ISBN 978-3-8260-6449-4. D: 49,80 EUR, A: 51,20 EUR.
Orbis phaenomenologicus / Quellen, 6.

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Thema

Wenn die Philosophie nicht als l´art pour l´art, also im elfenbeinernen Turm und zum Selbstzweck gerinnt, sondern zum Nachdenken über das gute, gelingende, menschenwürdige Leben in einer humanen Gesellschaft verstanden und als Praxis des Lebens gelebt wird, ist es hilfreich, bei Philosophinnen und Philosophen nachzuschauen und sich mit deren Denken und Tun auseinander zu setzen (vgl.: Herbert Schnädelbach, Was Philosophen wissen und was man von ihnen lernen kann, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/13290.php). Umso mehr dann, wenn deren Wirken aus ideologischen, nationalistischen und rassistischen Gründen be- oder verhindert wird und sie gezwungen sind, den Ort ihres Schaffens zu verlassen und Exil in anderen Ländern zu suchen und damit zu Opfern von Ideologie, Willkür und Politik werden.

Entstehungshintergrund und Autor

In der wissenschaftlichen, internationalen Buchreihe „Orbis Phaenomenologicus“ werden Theorie- und Praxisbeiträge zur Phänomenologie publiziert und zur Diskussion gestellt. Im Bereich „Perspektiven“ werden phänomenologische Fachaspekte thematisiert; im Bereich „Quellen“ werden Studien und Untersuchungen als Primärtexte veröffentlicht; und im Bereich „Studien“ Forschungsergebnisse vorgestellt. Die wissenschaftliche Koordination wird vom Mitteleuropäischen Institut für Philosophie (SIF) an der Karls-Universität in Prag wahrgenommen. Der (em.) Sozial- und Politikwissenschaftler von der Berliner Humboldt-Universität und der Pädagogischen Hochschule Heidelberg, Reinhard Mehring, hat mit zahlreichen wissenschaftlichen Arbeiten zu Fragen nach der historischen und aktuellen Bedeutung der Philosophie als Wissenschaft Stellung bezogen, Fragen nach Sinn und Herausforderungen der Philosophie als Lebenskunde gestellt und die „Weltanschauung(en)“ von Bildung, Pädagogik und Schule thematisiert (Reinhard Mehring, Die Erfindung der Freiheit. Vom Aufstieg und Fall der Philosophischen Pädagogik, 2018, siehe Rezension).

Aufbau und Inhalt

Mit der Dokumentation „Philosophie im Exil“ greift Mehring Aspekte der Emigrationsgeschichte in der deutschen Universitätsphilosophie am Beispiel von zwei deutsch-jüdischen Philosophen auf, die ihre Studienorte in Berlin und Halle wegen der verbrecherischen, nationalsozialistischen Politik verlassen mussten und emigrierten: Arthur Liebert (1878 – 1946) nach Belgrad und England, Emil Utitz (1883 – 1956) nach Prag. Die Studie wird in sechs Teile gegliedert. Im ersten Teil werden grundsätzliche Aspekte der Philosophiegeschichte als Universitätsgeschichte thematisiert, die Lebensgeschichten von Arthur Liebertund Emil Utitz nachgezeichnet, an ihr akademisches Wirken erinnert und ihre Aktivitäten zur Gründung von philosophischen Gesellschaften gewürdigt. Im zweiten Teil werden „Dokumente zur Vertreibung und Rückkehr von Utitz nach Prag (1933/34)“ ausgewiesen und sein Überleben im Konzentrationslager Theresienstadt erzählt. Im dritten Teil wird die „Korrespondenz UtitzLiebert (1935 – 1939)“ auszugsweise transkribiert. Im vierten Teil werden mit der Briefkorrespondenz mit der britischen „Society for Prostection of Science and Learning“ die Bemühungen Utitz´ nachgewiesen, von Prag nach England zu kommen. Im fünften Teil werden Kontakte und Kooperationen Utitz´ mit Partnern und Institutionen dokumentiert. Im sechsten Teil werden Publikationen von Liebert und Utitz abgedruckt. Im „Editorischen Bericht“ erläutert Mehring, wie er an die dokumentierten Materialien von und über Liebert und Utitz gekommen ist und sie ausgewertet hat.

Bemerkenswert sind bei der Exilierung und Rettung von Arthur Liebertund Emil Utitz vor dem nationalsozialistischen Terror die zahlreichen, solidarischen und empathischen Hilfen, Unterstützungen und Förderungen, die es den beiden Exilanten ermöglichten, philosophisch und akademisch weiter zu arbeiten: Utitz in Prag, wo er aktiv daran beteiligt war, dass sich Anfang 1935 der Verein „Cercle philosophique de Prague pour le recherches de l´entendement humain“ gründete und als Ziel „die Pflege der Philosophie im Geiste einer strengen, freien Wissenschaft“ ausgewiesen wurde. Als Vereinsaktivitäten waren Diskussionen über philosophische Themen, philosophische Vorlesungen, die Herausgabe von wissenschaftlichen Publikationen und die Einrichtung eines philosophischen Archivs vorgesehen. Liebert traf im Belgrader Exil nicht die gleichen günstigen Situationen wie Utitz in Prag. Die Gründung der Zeitschrift „Philosophia“ kann auch als Bemühen Lieberts verstanden werden, sein dort eher isoliertes und eingeschränktes wissenschaftliches Arbeiten durch Austausch, Publikation und Kommunikation zu erweitern. Durch sein nachfolgendes Exil in England verbesserte sich sowohl seine persönliche Lage, als auch sein akademisches Wirken. Die Londoner Hilfsorganisation Society for the Protections of Science and Learning (SLSL), wie auch die „Notgemeinschaft Deutscher Wissenschaftler im Ausland“ waren hier hilfreich.

Während nach dem Krieg Utitz in Prag bleibt und dort weiter akademisch tätig ist, kehrt Liebert im August 1946 nach Berlin zurück. Er wurde gegen zahlreiche Widerstände als Professor für Philosophie an der Pädagogischen Fakultät der Humboldt-Universität berufen. In seinem, 1945 in Birmingham verfassten, handschriftlichen Text „Das Buch von der Heimkehr“ reflektiert und prognostiziert Liebert diese ersehnte Rückkehr nach Berlin und bekennt sich patriotisch zu Deutschland. Ohne die Lehrtätigkeit aufgenommen zu haben, stirbt Liebert im November 1946. Sein Assistent, der letzte Spranger-Schüler Hans-Joachim Lieber (1923 – 2012) erinnert sich: „Liebert rieb sich in den wenigen Wochen, die er als philosophischer Ordinarius und damit als Leiter des Seminars tätig war, im wahrsten Sinne des Wortes menschlich auf“.

Utitz Leidensweg allerdings begann erst richtig, als die Nazis im März 1939 die Rest-Tschechei besetzten und das „Reichsprotektorat Böhmen und Mähren“ ausriefen. Seiner Deportation am 30. Juli 1942 in das Konzentrationslager Theresienstadt gingen verzweifelte, nicht gelingende Versuche voraus, ein Visum für Großbritannien zu erhalten. Er überlebt und kehrt nach Kriegsende nach Prag zurück. Er publiziert, überwiegend bei DDR-Verlagen, erhält auch von der Universität in Halle im Februar 1946 das Angebot zur erneuten Übernahme des Lehrstuhls. Er lehnt ab und bleibt mit seiner Frau in Prag. In den Jahren bis zu seinem Tod 1958 arrangiert er sich mit der Situation des „Eisernen Vorhangs“ und des „Kalten Krieges“. Er konzentriert sein Schaffen auf die literarische Dokumentation der Situation im Theresienstädter KZ. Seine Betrachtung, dass der Philosemitismus als Konversion des Antisemitismus zu betrachten sei und die „Rehabilitierung“ von NS-Tätern und Kollaborateuren am prägnanten Fall des Schauspielers Werner Krauß erklärt werden könne, bringen ihn nicht nur Zustimmung ein, sondern auch Ablehnung ein, die sich auch auf die verzögerte (deutsche) Herausgabe der Biographie „Egon Erwin Kisch. Der klassische Journalist“ durch den (Ost-)Berliner Aufbau-Verlag auswirkten

Fazit

Das Bewusstsein wird durch historische Kenntnisse erweitert. Die Schicksale von Menschen lassen es dabei nicht unberührt. Die intellektuelle, philosophische und lebensweltliche Auseinandersetzung damit bietet die Chance zur eigenen Standortbestimmung und Antrieb zum humanen, vergangenheitsbewussten, gegenwartsbezogenen und zukunftsorientierten Denken und Handeln. Reinhard Mehring zeigt mit der Dokumentation über die Fluchtschicksale der deutschen Geisteswissenschaftler Emil Utitz und Arthur Liebert deren wissenschaftliches Wirken vor, während und nach ihren Exilaufenthalten auf. Er schreibt keine Migrationsgeschichte von vertriebenen oder zur Flucht gezwungenen deutschen Wissenschaftlern. Er will vielmehr, ganz in der phänomenologischen Tradition, darauf aufmerksam machen, dass Quellenstudium zum unverzichtbaren Bestandteil einer seriösen und kompetenten wissenschaftlichen Auseinandersetzung gehört – und Ergebnisse zeitigt, die Vergessenes erinnert, Wissen schafft und Wegweiser für gegenwärtiges und zukünftiges intellektuelles Denken und Handeln sein kann.

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Es gibt 1702 Rezensionen von Jos Schnurer.

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ISSN 2190-9245