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Jaap van Ginneken: Kurt Baschwitz. A Pioneer of Communication Studies and Social Psychology

Rezensiert von Prof. em. Dr. Helmut E. Lück, 02.03.2018

Cover Jaap van Ginneken: Kurt Baschwitz. A Pioneer of Communication Studies and Social Psychology ISBN 978-94-6298-604-6

Jaap van Ginneken: Kurt Baschwitz. A Pioneer of Communication Studies and Social Psychology. Amsterdam University Press (Amsterdam) 2017. 360 Seiten. ISBN 978-94-6298-604-6. 108,40 EUR.
Gekürzte niederländische Ausgabe: Kurt Baschwitz. Peetvader van Journalistiek en communicatie. Uitgeverij AMB (Diemen) 2018. 268 Seiten, EAN 9789079700912, brosch. 24,75 EUR.

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Thema

Zu den vielen Begründern der Sozialwissenschaften im 20. Jahrhundert, die jüdischer Herkunft waren und aus rassistischen Gründen fliehen mussten, gehörte Kurt Baschwitz (1886-1968), ein Wissenschaftler und Autor, der in Deutschland heute fast unbekannt ist. Unbekannt, obwohl er in den benachbarten Niederlanden lehrte, auch noch als Exilautor in deutscher Sprache veröffentlichte und in seiner Zeit die Kommunikations- und Medienwissenschaften mitgestaltete. Man hat vermutet, dass Baschwitz heute weltbekannt wäre, wenn er in die USA emigriert wäre. In einer umfassenden Biographie hat sich der niederländische Autor Jaap van Ginneken nun mit Baschwitz befasst.

Autor

Jaap van Ginneken ist ein breit gebildeter Sozialwissenschaftler, Medienwissenschaftler und Autor im Bereich der Geschichte der Psychologie und Sozialwissenschaften. Er hat Psychologie und Medienwissenschaften u.a. an der Universität von Amsterdam studiert und als Journalist gearbeitet. Zu seinen Forschungsgebieten und Veröffentlichungen zählt die Geschichte der Massenbewegungen und besonders der Massenpsychologie. Die Einrichtung, an der van Ginneken studierte, wurde später Kurt Baschwitz zu Ehren in „Baschwitz Instituut“ umbenannt. In dieser Biographie macht der Autor Gebrauch von historischen Quellen zu Baschwitz, dazu nutzt er frühere Arbeiten und mündliche Äußerungen von Zeitzeugen.

Die Biographie ist insgesamt ziemlich genau chronologisch angelegt. Die nachfolgende Buchbesprechung folgt dieser Chronologie.

Aufbau und Inhalt

Herkunft und Studium von Kurt Baschwitz

Kurt Baschwitz – eigentlich Siegfried Kurt Baschwitz – kam aus einer gebildeten, assimilierten, ursprünglich ostjüdischen Familie. Er war protestantisch getauft und seine eigene Familie lebte in Offenburg nicht in dem Bewusstsein, jüdischer Herkunft zu sein, bis die Verfolgung durch Nazis begann. Kurt Baschwitz studierte in Heidelberg, war Mitglied einer schlagenden Verbindung und promovierte schließlich in München bei Lujo Brentano zum Doktor der Wirtschaftswissenschaften, wobei seine Dissertation soziologische und politische Akzente hatte. Für ihn spielten Autoren wie Ferdinand Tönnies, Max Weber und andere Autoren seiner Zeit eine wichtige Rolle. Baschwitz gelangte in der Weimarer Zeit zu einer liberalen Haltung. Diese prägte sein Leben und auch seine späteren Schriften.

Journalist im Ersten Weltkrieg

Baschwitz hatte schon für die Schülerzeitung des Lessing-Gymnasiums in Frankfurt geschrieben. Offenbar war er kreativ und eloquent, wenn auch in seinem Temperament eher introvertiert. So wurde Baschwitz nach seiner Promotion Journalist, arbeitete für namhafte Tageszeitungen, längere Zeit für das „Hamburger Fremdenblatt“. Baschwitz verhielt sich zu dieser Zeit noch kaisertreu und patriotisch. Kurt Baschwitz war noch jung, aber er war als Journalist bald kein Unbekannter mehr. Seine Leitartikel wurden von anderen Zeitungen nachgedruckt. Das Hamburger Fremdenblatt hatte einen eigenen Korrespondenten in Rotterdam, der von den neutralen Niederlanden aus über internationale Entwicklung berichten konnte. Als 1916 dieser Korrespondent wegen Spionage angezeigt und dann abgeschoben wurden, schickte die Zeitung kurzfristig Baschwitz nach Rotterdam, der mit seiner Mutter und Schwester bis Januar 1919 blieb und für seine Zeitung in Hamburg u.a. über die Deutschfeindlichkeit in Holland und der internationalen Presse berichtete. Seine Beobachtungen bildeten später die Grundlage für sein erstes Buch: „Der Massenwahn“, erschienen 1923 in München, dem Jahr der Hochinflation in Deutschland.

„Der Massenwahn“

In diesem Buch untersuchte Baschwitz u.a. deutschfeindliche politische Karikaturen und deren Rolle für den ständig geschürten Deutschenhass. Zu den Kriegslügen gehörte auch das Gerücht, Deutschland nutze die Leichen von gefallenen Soldaten, um daraus – wie aus Tierkadavern – Fett, Seife, Kerzen und Tierfutter herzustellen. Nach dem Krieg waren der französische und britische Geheimdienst stolz auf die Verbreitung dieser lancierten Greuelpropaganda. Baschwitz ging in seinem Buch auf die Versailler Verhandlungen. Natürlich bezog Baschwitz auch massenpsychologische und psychoanalytische Konzepte ein, nutze sogar Ergebnisse experimentalpsychologischer Untersuchungen von Walther Moede. Das Buch galt als neuartig, wurde durchweg positiv aufgenommen und erwies sich als Erfolg. Das lag vielleicht auch daran, dass Baschwitz noch die damals verbreitete Auffassung vertrat, Deutschland sei eher schuldlos in den Ersten Weltkrieg geraten. 1932 brachte Baschwitz das Buch völlig überarbeitet in dritter Auflage heraus.

Zwischenzeitlich hatte er in München beim Verein Deutscher Zeitungsverleger (VDZV) eine leitende Stellung, die ihm Freiheiten gab, Treffen zu organisieren, bei Rundfunksendung mitzuwirken, Leitartikel und Bücher zu schreiben. So lud Baschwitz den eben erwähnten Walther Moede zu einem Vortrag zur Hauptversammlung des VDZV ein. Baschwitz sagte: Massenmedien könnten nicht auf psychologische Forschung warten, diese folge der Praxis nach. Was fehle, sei eine interdisziplinäre Zeitungswissenschaft. So pflegte Baschwitz auch Kontakte zu Medienwissenschaftlern in anderen Ländern. Begriffe wie „Masse“, „Öffentliche Meinung“ usw. erschienen ihm zunehmend unscharf. So wurden detaillierte Vorstellungen von Propaganda und Feindbild, Pressezensur, Meinungsfreiheit, politischer Verfolgung und Hasskampagnen, später auch der Hexenwahn zu seinen Forschungs- und Buchthemen.

Emigration

1933 sah sich Baschwitz als Jude (i.S. der Rassengesetze) und als Gegner des Nationalsozialismus gezwungen, in die Emigration zu gehen. Er ging nach Amsterdam, wo er an der Universität lehren durfte, wenngleich er erst nach längeren Schwierigkeiten 1935 Privatdozent wurde. In Holland wie in Deutschland ist die Privatdozentur im Wesentlichen ein Ehrenamt. Baschwitz musste also noch auf andere Weise Geld verdienen. Er war nun fast 49 Jahre alt. Für eine Emigration in die USA fehlte ihm das nötige Geld.

Im Amsterdamer Exil hatte Familie Baschwitz freundschaftlichen Kontakt mit einer Familie Frank, deren Tochter Anne ein Tagebuch verfasste, das später weltbekannt werden sollte. Kurt Baschwitz setzte sich nach dem Krieg für die Veröffentlichung dieses Tagebuches ein.

1940, nach dem deutschen Einmarsch in die Niederlande, musste Baschwitz in den Untergrund gehen. Durch unglückliche Umstände geriet er jedoch im August 1942 in das Durchgangslager Westerbork, von dem aus Transporte in die Vernichtungslager abgingen. Der älteren Tochter gelang es, ihren Vater mit teils echten, teils gefälschten Papieren herauszuholen, bevor er deportiert und sehr sicher ermordet worden wäre. Baschwitz konnte sich dann in Amsterdam bis Kriegsende verstecken und blieb auch nach 1945 in den Niederlanden, lehrte weiter an der Universität Pressewissenschaft, Propaganda und Öffentliche Meinung.

Das zweite Buch von Baschwitz wurde „De krant door allen tijden – Die Zeitung in allen Zeiten“ (Amsterdam,1938, 2., überarbeitete Aufl. 1949). Für dieses schon früher verfasste, aber erst 1938 veröffentlichte Sachbuch schöpfte er aus seinen Erfahrungen als führender Journalist und aus seiner Tätigkeit für den Verein der Zeitungsverleger. Baschwitz stellte die Geschichte der Zeitungen dar: Wie wurden Nachrichten verbreitet, bevor es Zeitungen gab? Wie wirkten sich technische Entwicklungen auf das Zeitungswesen aus? Welche Wirkungen haben Zeitungen auf soziale Bewegungen?

„Du und die Masse“

Nach van Ginneken ist aber „Du und die Masse“, das ebenfalls 1938 erschien, das interessanteste Buch von Baschwitz. Das Buch erhielt allerdings nicht die Aufmerksamkeit, die es verdient hätte. Dies lag am Nationalsozialismus, an der Veröffentlichung in deutscher Sprache im Exil (Amsterdam) und an dem wenige Monate später erfolgenden Einmarsch deutscher Truppen in die Niederlande. Eine niederländische Übersetzung sollte in Druck gehen, erschien aber wegen der Besetzung erst nach dem Krieg. Für die heutige deutsche Leserschaft klingt der Text des 80 Jahre alten Buches ein wenig pathetisch und antiquiert.

Jaap van Ginneken, der selbst intensiv zur Geschichte der Massenbewegungen und Massenpsychologie geforscht hat, referiert „Du und die Masse“ ausgesprochen kompetent. Tatsächlich überwindet Baschwitz mit diesem Buch die ältere Massenpsychologie von Tarde, Lombroso und LeBon: „Die niederdrückende Angstvorstellung vom Vorherrschen dunkler, vernunftfremder Gewalten im gemeinsamen Tun und Meinen der Menschenmassen beruht auf einer Augentäuschung“ (Baschwitz, 1938, S. 341). Und: „Wollen wir nur hoffen, dass auch die praktische Staatskunst zu der wichtigen Entdeckung kommt, die von der Massenpsychologie vorbereitet ist: zu der Wiederentdeckung der überwältigend großen Liga der anständigen Menschen“ (S. 341). Man muss nicht lange rätseln, was Baschwitz mit diesem letzten Satz seines Buches meinte.

Nachkriegszeit

Recht ausführlich beschreibt van Ginneken die Zeit der deutschen Besatzung, das Verhalten von Kollaborateuren, das Verstecken von Juden, die Nutzung gefälschter Papiere, Demütigungen und Deportationen und die in Holland besonders umfangreiche Pressearbeit im Untergrund. Kurt Baschwitz überlebte in wechselnden Verstecken. Viele seiner Verwandten, Freunde und Kollegen überlebten diese Zeit jedoch nicht.

Neben den Lehrverpflichtungen leistete Baschwitz für sein Forschungs- und Lehrgebiet besondere Aufbauarbeit: Er begründete ein Presseinstitut, ein Pressearchiv und ein Pressemuseum. Aber die Nachkriegszeit war nicht frei von Problemen: Die Niederlande hatten nach dem Krieg starke Bestrebungen, Personen deutscher Herkunft des Landes zu verweisen, Deutschfeindlichkeit war verbreitet. Baschwitz wurde sogar wegen seiner Sekretärin und nahestehender Kollegen kommunistischer Tendenzen bezichtigt und seine Ernennung zum Professor 1948 erfolgte später als erhofft. 1955 nahm er die niederländische Staatsbürgerschaft an.

Baschwitz war viele Jahre aktiv in der Gestaltung internationaler Beziehungen seines Fachs. Er lehrte länger als üblich, fehlten ihm doch wichtige Jahre für seine Pension. Er starb Anfang 1968 in vergleichsweise hohem Alter. Die Studentenunruhen in Paris und den Prager Frühling und dessen Niederschlagung erlebte er in diesem denkwürdigen Jahr jedoch nicht mehr.

„Hexen und Hexenprozesse“

Ein wissenschaftliches Thema, dem sich Baschwitz in seinen drei letzten Büchern widmete, waren Verfolgungen durch Massen, wobei er die Hexenverfolgungen besonders untersuchte. Das Thema der Hexenverfolgungen war schon in allen drei früheren Büchern von Baschwitz angeklungen. Es bildete für Baschwitz gewissermaßen das Paradebeispiel für Massenbewegungen und Massenverfolgungen. Der fast 500 umfassende Band „Hexen und Hexenprozesse“ (München, 1963) erschien in deutscher Sprache und wurde vielfach nachgedruckt. Es ist wohl das einzige Buch von Baschwitz, das in Westdeutschland einen gewissen Bekanntheitsgrad erreichte und auch heute noch gut lesbar ist. Die Kapitel sind nach Ländern angelegt. So hat Baschwitz in seine Darstellung auch aktuellere Verfolgungen einbezogen: Rassenverfolgungen in den amerikanischen Südstaaten, in Vorderasien und natürlich die Judenverfolgungen. Das Buch wurde überwiegend positiv rezensiert. Heute, mehr als ein halbes Jahrhundert später ist die Forschung zur Hexenproblematik fortgeschritten, so wird das Thema seit einigen Jahrzehnten mit der Genderthematik verbunden. Auch hat sich der Stil der Darstellungen ein wenig gewandelt, was aber nicht die Leistungen von Baschwitz mindert.

Fazit

Die Lektüre der Baschwitz-Biographie von Jaap van Ginneken lässt deutlich werden, dass es Wissenschaftler gibt, die in Deutschland immer noch weitgehend unbekannt geblieben sind, weil sie durch die NS-Zeit zur Emigration gezwungen wurden. In diesem Fall war es sogar ein Wissenschaftler, der lange in einem Nachbarland wirkte, der alle seine sechs Bücher in deutscher Sprache schrieb und wichtige Beiträge zur Entstehung einer neuen Wissenschaft leistete. Die Verdienste dieser Biographie sind nennenswert: Leben und Werk von Kurt Baschwitz werden unter Nutzung von Quellen und Zeitzeugenaussagen erstmals einer internationalen Leserschaft zugänglich gemacht. (Tatsächlich wurde bislang keins der sechs Bücher von Baschwitz ins Englische übersetzt. Dies könnte sich durch diese umfassende Biographie bald ändern.) Breiten Raum widmet der Autor Jaap van Ginneken der internationalen Politik des 20. Jahrhunderts, insbesondere natürlich Deutschlands und der Niederlande. So kann man nicht nur Leben und Werk eines deutsch-jüdischen Journalisten und Wissenschaftlers im Kontext der schweren Zeiten des 20. Jahrhunderts besser verstehen; man kann das Buch in gewisser Weise auch lesen, um die Zeit vom Kaiserreich bis zum Beginn der Studentenbewegung zu erleben und um zu beobachten, wie Menschen in dieser Zeit sich anpassten, Widerstand leisteten, lavierten, sich durchschlugen und zu überleben versuchten.

Schließlich geht es in diesem lesenswerten Buch auch um die wissenschaftliche Leistung eines Medienwissenschaftlers, dessen liberale Haltung und Gegnerschaft zum Nationalsozialismus Respekt verdienen.

Rezension von
Prof. em. Dr. Helmut E. Lück
FernUniversität in Hagen, Fakultät für Psychologie
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Es gibt 13 Rezensionen von Helmut E. Lück.

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Zitiervorschlag
Helmut E. Lück. Rezension vom 02.03.2018 zu: Jaap van Ginneken: Kurt Baschwitz. A Pioneer of Communication Studies and Social Psychology. Amsterdam University Press (Amsterdam) 2017. ISBN 978-94-6298-604-6. Gekürzte niederländische Ausgabe: Kurt Baschwitz. Peetvader van Journalistiek en communicatie. Uitgeverij AMB (Diemen) 2018. 268 Seiten, EAN 9789079700912, brosch. 24,75 EUR. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/24063.php, Datum des Zugriffs 16.09.2024.


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