Michael Ramminger, Michael Segbers (Hrsg.): »Alle Verhältnisse umzuwerfen (...).« (Christen und Marx)
Rezensiert von Prof. Dr. Norbert Wohlfahrt, 05.04.2018

Michael Ramminger, Michael Segbers (Hrsg.): »Alle Verhältnisse umzuwerfen ... und die Mächtigen vom Thron zu stürzen.«. Das gemeinsame Erbe von Christen und Marx.
VSA-Verlag
(Hamburg) 2018.
240 Seiten.
ISBN 978-3-89965-790-6.
D: 16,80 EUR,
A: 17,30 EUR.
In Kooperation mit ITP Kompass .
Thema und Entstehungshintergrund
Der vorliegende Sammelband ist ein weiterer Beitrag zum 200. Geburtstag von Karl Marx. Sein Anliegen ist es, zwei scheinbar unvereinbare Traditionen, die des Marxismus und des Christentums, von ihrer oft behaupteten Gegensätzlichkeit zu befreien und auf Gemeinsames hinzuweisen. Das Magnifikat aus dem Lukasevangelium bildet deshalb aus Sicht der Herausgeber die passende Ergänzung zu dem kategorischen Imperativ von Marx, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist (MEW 1, S. 385). Während die evangelische und katholische Kirche längst ihren Frieden mit dem Kapitalismus gemacht haben, soll hier ein Zeichen gesetzt werden: dass die von Marx aufgeworfenen Fragen und analysierten Tatbestände auch für Christen von aktueller Bedeutung sind und die Kritik des Kapitalismus eine „gemeinsame Herausforderung“ christlicher und marxistischer Anliegen darstellt.
Aufbau und Inhalt
Der Band gliedert sich nach einem Vorwort von Michael Ramminger und Franz Segbers und einer Hommage an Karl Marx von Kuno Füssel in drei Abschnitte:
- „Ein Blick zurück auf Marx“,
- „Mit Marx in die Gegenwart“ und
- „Mit Marx international“.
Die in Abschnitt 1 „Ein Blick zurück auf Marx“ versammelten Beiträge befassen sich mit Wilhelm Weitling und Karl Marx (Martin Stöhr), mit Marxismus, Glauben und Religion in der DDR (Günter Wirth) und mit dem Verhältnis von Sozialpolitik und Arbeiterbewegung bei Kolping und Ketteler (Julia Lis). Unter dem Titel „Ausbeuter auf Thronen zu stützen, heißt, die Befreiungsgeschichte der Bibel zu bestreiten“ finden sich politisch-biografische Anmerkungen einer ehemaligen Pfarrerin in der DDR (Ilsegret Fink).
Franz Segbers analysiert in seinem Beitrag „Kommunistisches Manifest und die Denkschrift der Inneren Mission“ das Verhältnis des aus der Religionskritik des Post-Hegelianismus heraus tretenden Karl Marx zu Wicherns Denkschrift „Die Innere Mission der deutschen Evangelischen Kirche“. Er kommt dabei zu eindeutigen Urteilen: während Marx und Engels zutreffende Einsichten über die Entwicklungsdynamiken und Grundstrukturen des Kapitalismus hatten, bezeichnet er Wichern als „verblendet“. Wicherns Denkschrift gilt als ein Dokument, das in der Summe dadurch charakterisiert ist, „nicht zu rechtfertigende Verhältnisse“ zu rechtfertigen.
Hermann-Josef Große Kracht thematisiert den Marx-Bezug des Nestors der katholischen Soziallehre, Oswald Nell-Breuning, und verweist auf die starke Ablehnung, aber auch die immer wieder affirmativen Bezüge des Katholizismus auf Karl Marx. Für Nell-Breunig, so sein Fazit, bleibt die kapitalistische Klassengesellschaft eine Gesellschaftsformation, „die grundsätzlich zu überwinden sei“ (S. 76).
Abschnitt 2 führt „Mit Marx in die Gegenwart“. Dick Boer berichtet hier von der Marxlektüre „nach dem Ende der großen Erzählungen“ und den Widersprüchen zwischen dem weltweiten Sieg des Kapitalismus und der bleibenden Notwendigkeit einer revolutionären Veränderung der ökonomischen Verhältnisse.
Ulrich Duchrow setzt in seinem Beitrag die Marx'sche Wachstumskritik ins Verhältnis zum Gesetz des Todes bei Paulus und Luther und er schlussfolgert, dass „in letzter Konsequenz“ das Gesetz, dass das Kapital wachsen muss zur „Zerstörung der Springquellen allen Reichtums“ (Natur und Arbeiter) führt und sich damit „als Gesetz des Todes“ erweist.
Rainer Kessler behandelt in seinem Beitrag „Marx und die biblische Vorstellung von Gerechtigkeit“. Er sieht – trotz aller Differenzen – eine „verblüffende Übereinstimmung“ zwischen den Texten der alttestamentarischen Propheten und dem Autor des 19. Jahrhunderts: nur die Unterwerfung der Herrschenden wird eine Zukunft eröffnen, „in der die Produzenten ohne Entfremdung und Ausbeutung“ die Früchte ihrer Arbeit genießen können.
Bruno Kern fragt in seinem Beitrag nach dem „letzten Grund der Wirklichkeit“ und dem Menschen „als Schöpfer seiner selbst?“ und versucht eine Versöhnung zwischen der Schöpfungstheorie und deren Kritik durch Marx als Ausdruck eines in Abhängigkeit lebenden Menschen. Er sieht in den Folgewirkungen des Kapitalismus (der Deindustrialisierung durch Rationalisierung) bestimmte Vorstellungen gesellschaftlicher Transformation zur Disposition gestellt und plädiert dafür, den Sozialismus als „ethisches Projekt“ (was immer das sei) zu entdecken.
Michael Ramminger reflektiert über „Götzen, Fetische und das Jenseits des Kapitalismus“, er analysiert den Marxschen Fetischbegriff und setzt diesen ins Verhältnis zur Götzenkritik in der biblischen Tradition. Er fragt nach dem Zusammenspiel von Ausbeutung und Teilhabe und sieht darin „vielleicht das perfideste Verwertungsregime“ (S. 153), weil es Teilhabe nur im Rahmen der existierenden Gesellschaftlichkeit verortet.
Der von Marx (im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit Feuerbach) getätigte Ausspruch von der Religion als dem „Opium des Volkes“ beschäftigt Helge Meves in seinem Aufsatz. Für ihn sind die im Religiösen enthaltenen „Sehnsuchts- Protest- und Utopiemotive“ eine Basis der von Marx diskutierten Begrifflichkeiten und in diesem Sinne macht Marx Metapher vom Opium des Volkes „das ideologie- und metaphysische Potenzial der Weltreligionen deutlich“ (S. 166).
Von „Marktreligion und Religionskritik“ handelt der Beitrag von Franz Hinkelammert. Für ihn ist sowohl die Vorstellung von der „Erlösung des Leibes“ (Paulus) als auch die „Auflösung des Widerstreits zwischen dem Menschen mit der Natur und mit dem Menschen“ (Marx) keine Zielvorstellung, sondern ein Handlungskonzept und damit bleibender Versuch, das Reich Gottes gegenwärtig zu machen.
Im abschließenden Beitrag dieses Abschnitts des Buches thematisiert Philipp Geitzhaus die „Wiederkehr der Religion“? und betrachtet hierbei Alain Badious Entdeckung des Christentums. Er sieht das Befreiungschristentum von Badious Frage nach dem Universalismus herausgefordert und fragt, ob ChristInnen „angesichts eines immensen Auflösungsprozesses basiskirchlicher Strukturen“ auf ihre Identität verzichten sollen?
Im dritten Abschnitt des Buches „Mit Marx international“ berichtet Franz Segbers über Karl Marx und die Gründung der philippinischen Arbeiterbewegung, thematisiert Michael Löwy den Marxismus als Theologie der Befreiung und reflektiert Nancy Cardoso „Marxismen in Lateinamerika“. Den abschließenden Beitrag dieses Abschnitts des Buches stellt ein Beitrag von Jörg Rieger zum Thema „Die Christen, Marx und die USA“ dar.
Diskussion und Fazit
Dass der Glaube an Gott und die Überzeugung von der Richtigkeit der Marxschen Kapitalanalyse zusammen gehen können, bedarf keines Beweises. Der Tatbestand, dass Christen überzeugte Marxisten sein können, ist Beweis genug. Marx hat die Feuerbachsche Religionskritik beiseite gelegt und sich an das Studium der wirklichen Welt gemacht und ist darüber zum Gegner der kapitalistischen Gesellschaft geworden, deren Gesetzmäßigkeiten er dann als Ökonom dechiffriert hat. Das vorliegende Buch berichtet von dem Verhältnis zwischen Marx und christlichen Grundüberzeugungen und es sieht zwischen beiden mehr Übereinstimmungen als Gegensätze. Es tritt damit als Projekt in Gegensatz zu den Versuchen der etablierten Kirchen, Marx in die Geschichtsbücher des 19. Jahrhunderts zu verweisen und es macht deutlich, dass die Behandlung des Kapitalismus als naturnotwendige Gesellschaftsordnung keineswegs selbstverständlich ist.
Allein dafür, dass sie diesen Vorstoß unternommen haben, gebührt den Herausgebern Respekt. Der Band vereint Beiträge unterschiedlicher Qualität, wobei diejenigen, die sich von der Frage lösen, ob Christentum und Marxismus zusammen passen, zu den Überzeugendsten gehören. Es ist zu wünschen, dass über Bücher wie dieses eine breitere Diskussion darüber ausgelöst werden könnte, warum auch für Christen eine Auseinandersetzung mit der Politischen Ökonomie des Kapitalismus in seiner heutigen Gestalt mehr denn je auf der Tagesordnung steht.
In diesem Sinne ist das Buch als Lektüre empfehlenswert und ist ihm eine weite Verbreitung zu wünschen: nicht als nostalgischer Rückblick auf ein 200 Jahre altes, widersprüchliches Verhältnis, sondern als Aufruf zu einer Auseinandersetzung, die entlang der Themen des 21. Jahrhunderts geführt werden muss.
Rezension von
Prof. Dr. Norbert Wohlfahrt
Professor i.R. für Sozialmanagement, Verwaltung und Organisation am Fachbereich Sozialarbeit der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe Bochum
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