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Jean-Claude Kaufmann: Der Morgen danach

Rezensiert von Prof. Dr. Thomas Münch, 14.06.2005

Cover Jean-Claude Kaufmann: Der Morgen danach ISBN 978-3-89669-752-3

Jean-Claude Kaufmann: Der Morgen danach. Wie eine Liebesgeschichte beginnt. UVK Verlagsgesellschaft mbH (Konstanz) 2004. 290 Seiten. ISBN 978-3-89669-752-3. 24,00 EUR. CH: 42,00 sFr.
Reihe: Edition discours - Band 36. Originaltitel: Premier matin.

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Eine neue Leseerfahrung

"Wer würde nicht von der Liebe träumen, wer hätte nicht je von ihr geträumt?" Mit diesem "Aufschlag" beginnt Jean-Claude Kaufmanns neues Werk "Der Morgen danach". Kann so der erste Satz einer "ernsthaften" soziologischen Analyse lauten? So poetisch, so am "wirklichen Leben" orientiert, so hautnah am Menschen - denkt sich der deutsche Leser. Geschult am Weberschen Stil, an Marx und Luhmann ist die erste Lektüre des deutschen Lesers geprägt von einer verstörenden Verblüfftheit, die im Fortgang des Lesevergnügens einer neuen Einsicht weicht: Ja, auch so kann Soziologie verstehen und erklären. Zumindest in unserem Nachbarland Frankreich.

Bereits Kaufmanns erstes Buch "Schmutzige Wäsche" (1995), welches den schönen Untertitel "Zur ehelichen Konstruktion von Alltag" führt, zeigte diesen neuen soziologischen Blick auf die "Hinterbühne" des Beziehungsalltags. Unter diesem Blick entpuppte sich die scheinbare Hinterbühne der "schmutzigen Wäsche" in Wirklichkeit als ein Kampfzentrum um die Gleichheit der Geschlechter in der Ehe. Jede liegen gebliebene Socke wird so eine soziale Geste und muss als Ausdruck dieser Auseinandersetzung um neue Geschlechter- und Beziehungsrollen gelesen werden. Und gleichzeitig schleichen sich alltäglich alte Beziehungsmuster als Socke und Slip in diese neue "Bastelbeziehung" ein: Ehe im Zeitalter der Individualisierung.

Die Methode des "verstehenden Interviews"

Dabei versteht sich Kaufmann jenseits aller poststrukturalistischer Ziselierung und dekonstruktivistischer Pirouetten als ein "intellektueller Handwerker", der im Spannungsfeld zwischen der Weberschen "Intropathie", der Theorieproduktion bei Elias und der Grounded Theory und dabei immer "basierend auf dem Untersuchungsfeld, selbst seine Theorie und seine Methode konstruiert". Das "verstehende Interview" ist die dabei entwickelte und verwendete Methode; eine Methode die er bereits 1996 in seinem Büchlein "Das verstehende Interview. Theorie und Praxis" ausführlich beschrieb. Als Franzose legt er dabei wert auf den Stil; mit "leichter Feder" soll der soziologische Text klar und aufrichtig den Gegenstand der Untersuchung und die Ergebnisse beschreiben; so wird "erklären" und "verstehen" jenseits des Rheins Wirklichkeit.

"Warum sollte man nicht auch von kleinen soziologischen Kunstwerken träumen?" lautet der letzte Satz in "Der Morgen danach" und diese Studie über eine spezifische Form von Intimität ist genau dies: ein soziologisches Kunstwerk.

Mit seiner Methode des verstehenden Interviews gelingt es Kaufmann, den Beginn oder Nichtbeginn einer Liebesbeziehung analytisch in den Begriff zu bekommen: Ausführlich schildern die Interviewten das Auf und Ab, das Hin und Her des ersten Morgens: "Soll ich oder soll ich nicht eine Beziehung mit diesem Mann, mit dieser Frau beginnen?"

Inhalt

Denn dies ist das eigentliche Thema seiner Studie; wie wird im Zeitalter der reflexiven Modernisierung, jenseits der romantischen Liebe - die "natürlich" jede Französin und jeder Franzose aus der Literatur kennen - eine Beziehung begründet? Und die Entscheidung fällt allen Beteiligten schwer: Pro und Kontra werden abgewogen, Frühstückstische und Frühstückssitten fallen auf die Waagschalen, Rituale der allmorgendlichen Selbstkonstruktion werden zu schwerwiegenden Gründen und unterschiedliche Tempi und Launen zwischen Bett, Bad und Tisch führen zur Entscheidung - wir erkennen die entscheidende Prägekraft des Alltags.

Auf die Erkundung dieser stillen, aber wirkkräftigen Prägekrafte des Alltags nimmt uns der Autor mit: Wir erleben das Wachwerden nach der ersten Nacht, die Erotik des frühen Morgens, die erneute Scham der Nacktheit, aber auch das Flüchten oder Standhalten. In soziologischen Miniaturen erfahren wir die Motive und Beweggründe, die zur Paarwerdung führen. Dies ermöglicht uns Kaufmann durch eine Teilhabe an intimen Situationen, die nie voyeuristisch, sondern immer von großen Respekt vor und großer Zuneigung zu den eigentlichen Akteuren, den Frauen und Männern geprägt ist. Er zeigt uns dabei die Motive hinter den Motiven, wir erkennen mit seiner Hilfe die Strategien der Selbstkonstruktion und in einigen Szenen erkennen wir uns selbst; wir erinnern uns an unseren "Morgen danach".

Die hohe soziologische Attraktivität, die eine Lust an dieser Art soziologischer Lektüre bewirkt, erreicht Kaufmann durch einen steten Wechsel zwischen der beobachteten Alltäglichkeit und der begründeten Analyse. Wir werden nicht nur Zeuge einer wundersamen Erotik des frühen Morgens, sondern auch und vor allem begleiten wir ein soziologisches Nachdenken, welches den Alltag fruchtbar macht.

Vielleicht - und dies ist zugegeben eine waghalsige Vermutung - hat die französische Schule der "Annales" Geschichtsschreibung - mit ihrer Hinwendung zum Alltag und zu seinen untergründigen und wirkmächtigen Strukturen - auch das soziologische Denken in Frankreich verändert. Ob "La misère du monde" des "späten" Bourdieu, oder eben die Arbeiten von Jean-Claude Kaufmann; sie erinnern uns mit ihrer Hinwendung zu eben diesem Alltag und seinen Strukturen an die Arbeiten von Febvre, Braudel und vielen Anderen.

"Der Morgen danach" ist aber - europäisch gesehen - noch mehr. "Die Verwandlung der Gefühle", wie wir sie bei Anthony Giddens und Ulrich Beck theoretisch begründet vorfinden; hier gewinnt sie empirische Gestalt. Dass wir Liebe und Beziehung im Zeitalter der "reflexiven Modernisierung", der "Risikogesellschaft" und der "Bastelbiografie" als Experiment verstehen müssen, mit all seinen Brüchen und Rissen; das wussten wir bereits. Durch diese neue Arbeit von Kaufmann werden wir zu abwesenden Teilnehmern an diesem Experiment; wir sitzen auf der Bettkante, sind stiller Beobachter beim anschließenden Frühstück und selbst die Toilettentür lassen wir einen Spalt weit aufstehen.

Hier gewinnt eine soziologische Reflexion real und begrifflich Gestalt und wir können diesen aufregenden Prozess in der Lektüre begleiten, verstehen und uns erklären lassen. Was könnte mehr über eine soziologische Studie gesagt werden? Und was könnte eine soziologische Studie mehr leisten?

Fazit

Die ideale Leserin und der ideale Leser dieses "soziologischen Kunstwerkes" sollte eine wesentliche Voraussetzung mitbringen: Die Lust am soziologischen Denken. Ein Denken welches sich bewusst ist, dass das Abenteuer um die Ecke lauert und dass der Alltag ein abenteuerliche Gelände ist, "eine Welt des Wissens, die noch zu entdecken ist".

Rezension von
Prof. Dr. Thomas Münch
Hochschule Düsseldorf, Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften
Fach Verwaltung und Organisation

Es gibt 15 Rezensionen von Thomas Münch.

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Zitiervorschlag
Thomas Münch. Rezension vom 14.06.2005 zu: Jean-Claude Kaufmann: Der Morgen danach. Wie eine Liebesgeschichte beginnt. UVK Verlagsgesellschaft mbH (Konstanz) 2004. ISBN 978-3-89669-752-3. Reihe: Edition discours - Band 36. Originaltitel: Premier matin. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/2407.php, Datum des Zugriffs 05.10.2024.


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