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Manfred Spitzer: Einsamkeit – die unerkannte Krankheit

Rezensiert von Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind, 31.08.2018

Cover Manfred Spitzer: Einsamkeit – die unerkannte Krankheit ISBN 978-3-426-27676-1

Manfred Spitzer: Einsamkeit – die unerkannte Krankheit. Droemer Knaur (München) 2018. 317 Seiten. ISBN 978-3-426-27676-1. 19,99 EUR.

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Thema

Einsamkeit ist ein gesellschaftliches Phänomen, es ist Ausdruck einer Mangelsituation, denn es fehlt das Empfinden des sozialen Eingebundenseins in ausreichendem Maße. Einsamkeit bedeutet somit, dass ein Grundbedürfnis keine ausreichende Befriedigung finden kann. Homo sapiens als Gruppenwesen benötigt für sein psychosoziales Gleichgewicht vertraute Menschen im Nahbereich.

Bis vor einigen Jahrzehnten noch war dies die erweiterte Familie (Verwandtschaft, Sippe etc.) meist im Rahmen einer dörflichen oder kleinstädtischen Nachbarschaft. Der rasche soziale Wandel, die Moderne, führte zu einem stetigen Schwinden dieser Sozialstrukturen, denn die Wirkfaktoren des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Geschehens erfordern zunehmend die Mobilität, Flexibilität und damit auch Individualisierung der Menschen. Anstelle verwandtschaftlicher und damit gemeinschaftlicher Lebenszusammenhänge treten fragilere Strukturen wie die relativ isolierte Kernfamilie, die das Potenzial für das Isolierungserleben in sich birgt. Ökonomische Sachzwänge lösen somit in einer stetig wachsenden Dynamik das biosoziale Substrat des menschlichen Daseins auf. Ein „artgerechtes“ Leben ist in diesem Kontext kaum möglich. Die Erkenntnis des Philosophen Theodor Wiesengrund Adorno „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“ bringt dieses Leiden an den gegenwärtigen Verhältnissen deutlich zum Ausdruck. Oder wie es der Volksmund ausdrückt: „Allein bist du Mangel, allein bleibst du Mangel.“

Die vorliegende Publikation enthält die Bearbeitung dieser Thematik auf populärwissenschaftlicher Weise.

Autor

Manfred Spitzer (Prof. Dr. med., Dr. phil. im Fach Philosophie und Dipl. Psych.) leitet die psychiatrische Universitätsklinik in Ulm und das Transferzentrum für Neurowissenschaften und Lernen. Bundesweit bekannt ist er u.a. als Sachbuchautor mit dem Themenschwerpunkt Mediennutzung (Fernsehen, Computer u.a.) in der Kindheit und Jugend und deren Auswirkungen auf die kognitive Entwicklung bekannt.

Aufbau und Inhalt

Das Buch ist in zehn Kapitel mitsamt 38 Abbildungen (Graphiken, Tabellen, Illustrationen und Fotos) untergliedert. Zusätzlich enthält die Publikation Anmerkungen, ein Literaturverzeichnis (ca. 550 Fachbeiträge) und ein Register.

Kapitel 1 (Megatrend und Krankheit, Seite 11 – 45) beschreibt den augenblicklichen Zustand der gesellschaftlichen Gegebenheiten, der durch eine zunehmende Singularisierung gekennzeichnet ist, denn ca. 40 Prozent aller Haushalte in Deutschland sind Einpersonenhaushalte. Besonders die Älteren und vor allem dabei die älteren Frauen sind vom Alleinleben bedroht. Alleinleben heißt noch nicht soziale Isolation, doch diese Lebensform ist meist erste Stufe hin zur Vereinsamung. Neben den Alten sind es vor allem die Jungen, die das Empfinden der Einsamkeit verspüren. Des Weiteren konstatiert der Autor den Trend hin zum Narzissmus und Egozentrismus verbunden mit einem abnehmenden Gemeinschaftsdenken.

Kapitel 2 (Einsamkeit tut weh, Seite 46 – 70) enthält Informationen über neurophysiologische Aspekte der Empfindungen der Einsamkeit, denn die hierfür lokalisierten Hirnareale sind identisch mit denen für die Schmerzempfindungen.

In Kapitel 3 (Soziale Ansteckung, Seite 71 – 91) postuliert der Autor das Phänomen einer „Ansteckung“ bezüglich des Einsamkeitsempfindens anhand einiger Studien, ohne jedoch den genauen Hergang der so genannten „Ansteckung“ mittels konkreter Beispiele verdeutlichen zu können.

In Kapitel 4 (Einsamkeit löst Stress aus, Seite 92 – 116) wird eingehend der Wirkzusammenhang von sozialer Isolation beziehungsweise Einsamkeit und daraus entstehender Erkrankungen beschrieben. Langfristiges Erleben der Isolation führt zu teils unbewussten Stresserleben, das sich zusehends chronifiziert und damit physiologisch den Gesamtorganismus überfordert. Bluthochdruck, erhöhter Blutzuckerspiegel und Herz-Kreislauf-Belastungen sind die pathologischen Folgen, die mit einer erhöhten Mortalität einhergehen.

Kapitel 5 (Online (gem)einsam?, Seite 117 – 142) thematisiert die Auswirkungen der wachsenden Nutzung des Internets und hier vor allem der sozialen Netzwerke auf das Sozialverhalten. Wer ständig online ist, sei es mittels Computerspiele oder sei es beim permanenten „Posten“ und „Chatten“, der ist überwiegend dabei allein und hat dadurch weniger zwischenmenschliche Kontakte. Untersuchungen haben ergeben, dass die ständige Nutzung von sozialen Netzwerken wie Facebook sich negativ auf die Stimmung und Lebenszufriedenheit bis hin zu depressiven Verstimmungen auswirkt. Auch ein zunehmender Kontrollverlust in Richtung auf suchtartiges Verhalten bei der Nutzung dieser relativ neuen Medien konnte empirisch nachgewiesen werden.

In Kapitel 6 (Einsamkeit als Krankheitsrisiko, Seite 143 – 158) wird nochmals vertiefend auf die pathologischen Dimensionen der Empfindungen von Vereinsamung und Isolation eingegangen. Die Anfälligkeit für Schnupfen und andere Infektionskrankheiten sowie diverse Zivilisationskrankheiten wie Bluthochdruck, Herzinfarkt, Schlaganfall und Krebs weisen auf den Mangel einer gemeinschaftlichen Einbindung hin. Darüber hinaus fördert dieses soziale Deprivationserleben psychisches Leiden. Auch Alkohol- und Nikotinabusus korrelieren mit diesem Erleben des sozialen Ausschlusses.

Kapitel 7 (Todesursache Nummer eins, Seite 159 – 172) enthält die Darstellung dieser von der Vereinzelung hervorgerufenen krankhaften Prozesse unter dem Aspekt der erhöhten Sterblichkeit. Anhand epidemiologischer Untersuchungen wird u.a. der Sachverhalt belegt, dass Einsamkeit mehr noch als Rauchen und unmäßiger Alkoholkonsum zum vorzeitigen Tode führt. Angesichts dieser Gefahr des vorzeitigen Sterbens aufgrund der Isolation und Einsamkeit, die sich statistisch als Kategorien gar nicht trennen lassen, stellt der Autor sich die Frage, warum diesbezüglich seitens des Staates keinerlei Präventionsprogramme initiiert werden ähnlich wie beim Rauchen. Denn aus der Sicht des Autors handelt es sich bei der Einsamkeit um ein vermeidbares Risiko.

In Kapitel 8 („Du machst mich krank!“, Seite 173 – 190) stehen die Paarbeziehungen und hierbei vorrangig die Probleme in diesen Beziehungen bis hin zu Trennungen und Scheidungen im Fokus unter dem Aspekt der damit verbundenen Leidens und der Isolation. Gestörte Beziehungen in der Ehe führen statistisch nachgewiesen u.a. aufgrund des Dauerstresses zu einer erhöhten Morbidität und zugleich auch Mortalität. Scheidungen hingegen sind auch nicht die Lösung, da hier ein Stressmodul durch ein anderes mit den entsprechenden Folgen für Gesundheit und Lebenserwartung ersetzt wird.

In Kapitel 9 (Was tun?, Seite 191 – 216) werden Perspektiven und Lösungsansätze zur Herstellung einer psychosozial ausreichenden Kontaktdichte aufgezeigt, die laut der einschlägigen Forschung Wirksamkeitsnachweise erbringen konnten. Es sind folgende Interventionskonzepte: Vermehrung der Kontaktmöglichkeiten, soziale Unterstützung, Training sozialer Fähigkeiten und kognitive Verhaltenstherapie „zum Erlernen neuer Gedanken“ (Seite 195). Konkretisiert werden u.a. folgende Verhaltensstrategien: „Geben“ im Sinne von Abgeben bzw. Spenden, „Helfen“ im Sinne von ehrenamtlichem Wirken, des Weiteren Musizieren, Singen und Tanzen in der Gemeinschaft, wobei u.a. als Vorbild oder Beispiel die so genannten „Naturvölker“ angeführt werden. Abschließend kommt der Autor zu der Erkenntnis: „Einsamkeit ist daher kein Schicksal, weder für den Einzelnen noch für unsere Gesellschaft.“ (Seite 216).

In Kapitel 10 (Einsamkeit suchen, Seite 217 – 242) dreht sich der Autor regelrecht um 180 Grad und propagiert die Einsamkeit als Erlebnis, das besonders in der Natur und vor allem im Wald erfahrbar ist. Wald, Natur und Begrünung im städtisches Bereich senken den Cortisolspiegel, vermindern die Depression und erhöhen das Glück und die Zufriedenheit (Seite 224f). Als Begründung hierfür und Orientierung zugleich werden die Pfadfinder angeführt, bei denen aufgrund ihrer Gemeinschafts- und Naturerfahrungen in der Jugend auch noch Jahrzehnte später gemäß einer Studie positive Effekte hinsichtlich Wohlbefinden und Gesundheit diagnostiziert wurden.

Diskussion und Fazit

Die vorliegende Publikation wird als ein „überfälliger Weckruf an die Gesellschaft“ klassifiziert, denn Einsamkeit, die „unerkannte Krankheit“ ist „schmerzhaft, ansteckend und tödlich“ (Klappentext). Leser sind angesichts dieser Aussagen interessiert zu erfahren, wie nun der Arzt Manfred Spitzer sich dieses Leidens hinsichtlich Diagnose und Therapiemöglichkeiten annimmt. Trotz der immensen Datenfülle angesichts der vielen zitierten Untersuchungen ist eine Reihe von Mängeln zu konstatieren, die dem Gegenstandsbereich „Einsamkeit“ nicht gerecht werden:

  • Es fehlt eine medizinische Definition der „Erkrankung“ mitsamt einer Symptomatologie einschließlich der Abstufungen bis hin zu den nichtpathologischen Phänomenen wie Alleinsein, Rückzug etc.. Der Autor verwendet wiederholt die Kategorie „soziale Isolation“ als die Ursache, wobei er jedoch widersprüchlich in seiner Argumentation ist: So führt er eine Studie an, die nur eine Korrelation von 0,2 von Einsamkeit und sozialer Isolation gemessen hat (Seite 25) und um an anderer Stelle darauf hinzuweisen, dass sich das subjektive Erleben „Einsamkeit“ vom objektiven Tatbestand „soziale Isolation“ statistisch nicht trennen lässt (Seite 167).
  • Es fehlen einschlägige ethnographische und anthropologische Erhebungen zu diesem Gegenstandsbereich, die den gesellschaftlichen und kulturellen Zusammenhang zwischen Einsamkeit und sozialer Umwelt untersucht haben. Dieser Mangel wird deutlich, wenn der Autor zum Beispiel eine Abbildung über die hierarchische Abstufung von Freundschaften und Bekanntschaften anführt (Seite 26), ohne zugleich als Ergänzung auf die Hierarchisierung der Verwandtschaftsbeziehungen und deren Bedeutung für das soziale Leben hinzuweisen.
  • Der Rezensent neigt zu der Annahme, dass der Autor den Gegenstandsbereich Einsamkeit und Isolation nicht eingehend erforscht zu haben scheint, denn seine Lösungsstrategien wirken hilflos und banal zugleich. Geld spenden, ehrenamtlich tätig sein, die Gesangsgruppe und vor allem der Aufenthalt in der Natur, das sind die Vorschläge des Autors.

Es bleibt das betrübliche Fazit zu ziehen, dass ein virulentes Thema der modernen Gesellschaft mitsamt seinem Leiden und den damit verbundenen verzweifelten Bewältigungsbemühungen in diesem Sachbuch nicht in seiner Komplexität und Tiefe zugleich erfasst werden konnte.

Rezension von
Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind
Gerontologische Beratung Haan
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Es gibt 225 Rezensionen von Sven Lind.

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Zitiervorschlag
Sven Lind. Rezension vom 31.08.2018 zu: Manfred Spitzer: Einsamkeit – die unerkannte Krankheit. Droemer Knaur (München) 2018. ISBN 978-3-426-27676-1. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/24081.php, Datum des Zugriffs 20.09.2024.


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