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Sabine Hindrichs, Ulrich Rommel et al.: Kognition/­Kommunikation und Verhaltensweisen

Rezensiert von Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind, 30.08.2018

Cover Sabine Hindrichs, Ulrich Rommel et al.: Kognition/­Kommunikation und Verhaltensweisen ISBN 978-3-86630-563-2

Sabine Hindrichs, Ulrich Rommel, Margarete Stöcker, Manuela Ahmann: Kognition/Kommunikation und Verhaltensweisen. PSG II, Expertenstandard und Pflegebedürftigkeitsbegriff in der Praxis anwenden. Vincentz Network (Hannover) 2018. 298 Seiten. ISBN 978-3-86630-563-2. 36,80 EUR.

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Thema

Durch die Pflegestärkungsgesetze findet eine gravierende Verlagerung in der Leistungserbringung statt, denn nun werden Demenzkranke den vorwiegend körperlich Gebrechlichen bei dem Anspruch auf Pflegeleistungen gleichgestellt. Nicht mehr allein das Ausmaß an Einbußen in der Verrichtung alltäglicher Handlungen der Selbstversorgung wie Anziehen, Waschen, Essen und Toilettengang dient als Richtschnur für die Versorgungsleistungen, es wird nun auch weitergehend der Umfang an Betreuungsleistungen quantifiziert und in Ansprüche an Hilfeleistungen umgesetzt.

Der Pflegebedürftigkeitsbegriff wurde nun komplexer, da der Grad an Selbstständigkeit in allen Lebenslagen im Mittelpunkt steht und nicht mehr ausschließlich die Minderleistungen oder Defizite der basalen Alltagshandlungen. Entsprechend werden die Bewertungsinstrumente zur Erfassung des Leistungsspektrums der Pflegebedürftigen modifiziert. Die vorliegende Publikation befasst sich mit den wesentlichen Aspekten dieser neuen Bewertungs-Assessments.

Autorin und Autor

Bei den AutorInnen handelt es sich um Kranken- bzw. Altenpfleger mit weiteren Zusatz- und Weiterqualifikationen, die teils in leitenden Positionen in stationären Einrichtungen und zusätzlich in der Fortbildung und Beratung tätig sind.

Aufbau und Inhalt

Die Arbeit besteht aus sieben Kapiteln nebst Vorwort und ist mit mehrfarbigen Tabellen, Graphiken und Fotos illustriert. Die Deutschen Nationalbibliothek zeigt das vollständige Inhaltsverzeichnis.

Kapitel 1 (Pflegethema Kognition/Kommunikation, Verhaltensweisen und psychische Problemlagen, Seite 11 – 43) beinhaltet verschiedene Definitionen zum Themenfeld des geistigen Abbaus mit seinen verschiedenen Facetten vor dem Hintergrund der zunehmenden Abnahme der Selbstständigkeit in der Bewältigung des Alltags. Dabei werden u.a. der so genannte „personenzentrierte Ansatz“ von Rogers und Kitwood und das Kommunikationsmodell von Schulz von Thun („Vierohrenmodell“ oder „Nachrichtenquadrat“) als Orientierungsrahmen angeführt. Des Weiteren werden die im Modul 3 „Verhaltensweisen und psychische Problemlagen“ des Neuen Begutachtungs-Assessments (NBA) angeführten Verhaltensauffälligkeiten und Verhaltensstörungen aufgelistet: u.a. motorisch geprägte Verhaltensauffälligkeiten, nächtliche Unruhe, selbstschädigendes und autoaggressives Verhalten, physisch aggressives Verhalten gegenüber anderen Personen, verbale Aggression: Beschimpfen, Bedrohen anderer Personen, Abwehr pflegerischer oder anderer unterstützender Maßnahmen, Wahnvorstellungen, Sinnestäuschungen, Ängste, Antriebslosigkeit und depressive Stimmungslage. Zum Schluss werden u.a. in Anlehnung an eine medizinische Leitlinie Hinweise auf die medikamentöse Behandlung demenzieller Symptome gegeben.

In Kapitel 2 (Kognition/Kommunikation und Verhaltensweisen im Kontext des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffes, Seite 45 – 76) werden die Inhalte des Moduls 2 „kognitive und kommunikative Fähigkeiten“ (Erkennen von Personen aus näherem Umfeld, örtliche und zeitliche Orientierung, Erinnern an wesentliche Ereignisse oder Beobachtungen, Steuern von mehrschrittigen Alltagshandlungen, Treffen von Entscheidungen im Alltag, Verstehen von Sachverhalten und Informationen, Erkennen von Risiken und Gefahren, Mitteilen von elementaren Bedürfnissen, Verstehen von Aufforderungen und Beteiligen an einem Gespräch) eingehend nebst den Verhaltensweisen und Krankheitssymptome des Moduls 2 anhand von Beispielen (u.a. Fotos) erläutert. Das Kapitel schließt mit Ausführungen zum Gegenstandsbereich „Prävention und Rehabilitation/Hilfsmittel“ für diese Patientengruppe.

Kapitel 3 (Verhaltensweisen und psychische Problemlagen, Seite 77 – 107) befasst sich recht ausführlich mit dem Umgang mit psychiatrischen Krankheitssymptomen, wobei die Autoren auf die psychiatrische Fachliteratur (u.a. die psychopathologischen Syndrome einer psychiatrischen Krise) zurückgreifen. In diesem Kontext werden die Phänomene eines psychiatrischen Notfalls und allgemeine Leitsätze im Umgang mit abwehrenden und „herausfordernden“ Verhalten expliziert (u.a. Regeln zur Kontaktaufnahme und „zehn goldene Regeln der Deeskalation“). Recht ausführlich mittels konkreter Beispiele mit Fotodarstellungen werden Schutz-, Abwehr- und Befreiungstechniken bei tätlichen Übergriffen seitens der Patienten als Selbstverteidigungstechniken Schritt für Schritt beschrieben: u.a. Handgelenksbefreiung, Schlagangriff, Umklammerung, Schwitzkasten, Würgen und Angriff mit einer Waffe (Messer, Werkzeug). Abschließend werden rechtliche Hinweise u.a. zum Thema Notwehr und Schutzmaßnahmen gegeben.

In Kapitel 4 (Kognition, Kommunikation und Verhaltensweisen in der Dokumentation, Seite 109 – 185) steht die Dokumentation der kognitiven Minderleistungen und Verhaltensweisen der Module 2 und 3 anhand fiktiver Beispiele im Mittelpunkt. Zu Beginn wird auf Varianten des Pflegeprozesses verwiesen (u.a. auf Vier-Phasen-Modelle: Informationssammlung, Planung, Intervention und Evaluation). Es folgen Darstellungen verschiedener Erhebungsverfahren: u.a. „Mini Mental Status Examination“ (MMSE) zur Erfassung der kognitiven Leistungsfähigkeit mit einem konkreten Beispiel und das „Cohen-Mansfield-Assessment-Instrument“ (CMAI) zur Ermittlung der nicht-kognitiven Krankheitssymptome (u.a. tätliche Aggression, anhaltendes Schreien, Gefährdung durch Weglaufen und Eindringen in fremde Räume). Mittels zweier sehr ausführlicher fiktiver Beispiele werden folgend die Dokumentationsschritte „Maßnahmenkatalog“, „Berichteblatt“ und „Evaluation“ anhand mehrerer Tabellendarstellungen praxisnah erläutert.

In Kapitel 5 (Konzepte in der praktischen Umsetzung, Seite 187 – 226) werden verschiedene Vorgehensweisen im Umgang mit Demenzkranken und ihren spezifischen Krankheitssymptomen beschrieben. Die Autoren lassen sich hierbei von der Metapher des „Werkzeugkastens“ mit den diversen „Handwerkzeugen“ leiten, die es nur situationsgerecht anzuwenden gilt (Seite 187) (siehe hierzu Rezension www.socialnet.de/rezensionen/1206.php). Auf der Grundlage der „Rahmenempfehlungen zum Umgang mit herausforderndem Verhalten bei Menschen mit Demenz in der stationären Altenhilfe“ (Bartholomeyczik et al.) erläutern die Autoren ihre „Konzepte“ für die Pflege und Betreuung Demenzkranker: u.a. die „Validation“ nach Naomi Feil (siehe hierzu Rezension www.socialnet.de/rezensionen/260.php), die „Integrative Validation“ nach Nicole Richards, die „Mäeutik“ von Cora van der Kooij (siehe hierzu Rezension www.socialnet.de/rezensionen/23592.php), „Basale Stimulation“ (Siehe hierzu Rezension www.socialnet.de/rezensionen/299.php) und „Snoezelen“ (Siehe hierzu Rezension www.socialnet.de/rezensionen/641.php ).

In Kapitel 6 (Gerontopsychiatrie und Qualitätssicherung, Seite 227 – 249) verweisen die Autoren zu Beginn auf den Sachverhalt, dass zwar für Ärzte bereits eine so genannte „S3-Leitlinie Demenzen“ existiert, dass es hingegen für die Pflege Demenzkranker gegenwärtig keinen aktuellen Expertenstandard gäbe (Seite 227). Für die Erstellung eines „individuellen auf die Einrichtung angepassten Demenzkonzeptes“ werden als Handlungsleitlinie die Publikationen von Tom Kitwood, Erwin Böhm und Cora van der Kooij angeführt. Bezüglich der „internen Qualitätssicherung“ werden die „Auditinstrumente“ „Dementia Care Mapping“ (siehe hierzu Rezension www.socialnet.de/rezensionen/1647.php ) und H.I.L.D.E. („Heidelberger Instrument zur Erfassung von Lebenslagen Demenzkranker“) mit dem einschränkenden Hinweis eines hohen Personalaufwandes und eines relativ geringen Effektes bei der Anwendung dieser Instrumente genannt. Des Weiteren werden die „Qualitätsprüfungs-Richtlinien“ (QPR) für die ambulante und stationäre Pflege des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen (MDK) kurz erläutert.

Kapitel 7 (Anhang, Seite 251 – 291) enthält zusammenfassend nochmals ausführlich die fiktiven Falldarstellungen zweier Demenzkranker („Frau Sofia Isolde Schweizer“ und „Herr Siegfried Ingmar Schopenhauer“) zur Verdeutlichung und Veranschaulichung der sechs Themenfelder der neuen Begutachtungs-Assessments (NBA): kognitive und kommunikative Fähigkeiten, Mobilität und Beweglichkeit, krankheitsbezogene Anforderungen und Belastungen, Selbstversorgung, Leben in sozialen Beziehungen und Wohnen/Häuslichkeit.

Diskussion

Das vorliegende Buch wird als Ausbildungstext, Praxishandbuch und Nachschlagewerk im Berufsalltag beworben. „Es unterstützt alle in der Pflege und Betreuung Tätigen, ein zeitgemäßes aktuelles Verständnis zu diesem Thema zu entwickeln.“ (Klappentext). Der Rezensent kann sich aus folgenden Gründen dieser Einschätzung nicht anschließen:

  • Ausführlich werden zwar die Kategorien des „Neuen Bewertungs-Assessments“ (NBA) formal beschrieben, doch die Vielzahl an Tabellen, Standards, Instrumentarien etc. können nicht den Mangel an praxisnahem Wissen bezogen auf demenzielle Erkrankungen überdecken, wie den im Text angeführten Rezensionen zu entnehmen ist.
  • Die Ausführungen geben zu der Vermutung Anlass, dass die Autoren weder pflegerische noch klinische Praxis im Umgang mit Demenzkranken im fortgeschrittenen Stadium besitzen, denn in den vielen Beispielen wird als Lösungskonzept immer nur das so genannte „validierende Gespräch“ angeführt. Eine kürzlich veröffentlichte Studie wies hingegen nach, dass Pflegende die Kommunikationsformen der so genannten „Integrativen Validation“ ablehnen. Sie erscheinen ihnen nicht als alltägliche und zugleich demenzspezifische Interaktionsweisen, sondern eher als bloße „Schauspielerei“, die man nicht in Gegenwart Dritter anzuwenden wagt. Die Pflegenden kommen sich dabei „komisch“ und „dämlich“ vor (1).
  • Der Publikation ist nicht zu entnehmen, dass die Autoren über ein ausreichendes Fachwissen zum Themenschwerpunkt Demenzpflege verfügen. So werden z.B. ständig psychiatrische und demenzspezifische Aspekte ohne klare Unterscheidung erwähnt. Den Autoren scheint somit der Sachverhalt nicht bekannt zu sein, dass Demenzpflege keine Psychiatriepflege ist.

Fazit

Das vorliegende Buch kann als ein Versuch verstanden werden, durch ausführliche Beschreibung vieler Ansätze und Modelle dem Leser ausreichendes Orientierungswissen im Kontext der neuen Richtlinien zu vermitteln. Solange jedoch in Deutschland keinerlei Wirksamkeitsnachweise für die diversen Konzepte der Demenzpflege und Demenzbetreuung eingefordert werden, solange also die „Spreu nicht vom Weizen“ getrennt werden kann, solange kann dann auch kein sicheres Handlungswissen in Theorie und Praxis entstehen (2).

Literatur

  • Matthias Dammert u.a.: Person-Sein zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Beltz Juventa Verlag (Weinheim und Basel) 2016
  • Hans Gutzmann und Susanne Zank: Demenzielle Erkrankungen. Medizinische und psychosoziale Interventionen. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2005

Rezension von
Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind
Gerontologische Beratung Haan
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Zitiervorschlag
Sven Lind. Rezension vom 30.08.2018 zu: Sabine Hindrichs, Ulrich Rommel, Margarete Stöcker, Manuela Ahmann: Kognition/Kommunikation und Verhaltensweisen. PSG II, Expertenstandard und Pflegebedürftigkeitsbegriff in der Praxis anwenden. Vincentz Network (Hannover) 2018. ISBN 978-3-86630-563-2. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/24103.php, Datum des Zugriffs 13.09.2024.


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