Jürgen Krusche (Hrsg.): Die ambivalente Stadt
Rezensiert von Alexander Krahmer, 20.06.2018
Jürgen Krusche (Hrsg.): Die ambivalente Stadt. Gegenwart und Zukunft des öffentlichen Raums. JOVIS Verlag GmbH (Berlin) 2017. 175 Seiten. ISBN 978-3-86859-467-6. D: 28,00 EUR, A: 28,80 EUR.
Thema
Das Buch veröffentlicht Beiträge einer Vortragsreihe, die der Herausgeber 2015–16 an der Züricher Hochschule der Künste (ZHdK) veranstaltete. Sie kreisen thematisch allesamt um die „Offene“ bzw. die „ambivalente Stadt“ und diskutieren beide anhand unterschiedlicher Aspekte wie Segregation und Vielfalt, städtische Do-it-Yourself-Praxis und (Un-)Sicherheit, aber auch am aktuellen Migrationsdiskurs, der Sanierung von Slums und abschließend am Fotografieren als künstlerischer ‚Raumeroberung‘. Die Texte, die sich dabei auch hin und wieder über die Schwelle von Wissenschaft und Kunst hinwegbewegen, geben hinlänglich Einblick in Trends der (Groß-) Stadtentwicklung und zudem diverse Anreize, die Räume der Stadt umfassend, aber auch einmal anders wahrzunehmen.
Herausgeber und Entstehungshintergrund
Jürgen Krusche, Herausgeber des Bandes, ist selbst Wissenschaftler und Künstler und lehrt an der ZHdK, wo er seit 2011 den Forschungsschwerpunkt „Public City“ betreut. Seine Arbeiten sind vor allem im weiten Feld der kulturwissenschaftlichen Stadtforschung verortet, wobei ein besonderer Fokus auf der Beschäftigung mit dem öffentlichen Raum, der Idee der „Offenen Stadt“ und auf künstlerischen (insbesondere bildbasierenden) Forschungsmethoden liegt. Besagte Interessen werden auch in der Auswahl der Beitragsthemen erkennbar.
Aufbau
Einschließlich der Einleitung besteht das Buch aus elf Beiträgen, die in drei Abschnitte aufgeteilt und von zahlreichem (nicht nur dokumentarischem) Bildmaterial begleitet sind. Die Deutsche Nationalbibliothek bietet Einblick in das vollständige Inhaltsverzeichnis.
Nach Einführung und kurzem Überblick durch den Herausgeber beginnt der erste Abschnitt mit „Tendenzen und Analysen“ der zeitgenössischen Stadtentwicklung. Hier konzentriert sich der Band v.a. auf Fragen der Segregation, der möglichen Fragmentierung der (deutschen) Städte und setzt sich mit der Wirkung von Vielfalt (Jens Dangschat) auseinander. Außerdem werden (in den Beiträgen von Johanna Rolshoven und Manfred Rolfes) Ursachen und Auswirkungen der sich intensivierenden Sicherheitsdiskurse und -maßnahmen in der Stadt diskutiert. Abschließend beschäftigt sich Erol Yildiz mit der Beziehung von Migration und Stadt und kritisiert deren vorherrschende Wahrnehmung. Ein fotografisch-narratives Intermezzo, „Eine (meine) Geschichte der Gewalt“, des Künstlers Kai Ziegner berichtet anschließend, aus persönlicher Sicht und mit assoziativem Bildmaterial, über den Zusammenhang von Gewalterfahrung und Stadtraum.
Der zweite Abschnitt richtet die Aufmerksamkeit auf städtische „Praxis und Partizipation“. Im Zentrum stehen individuelle und kollektive Do-It-Yourself-(DIY-)Praktiken, mit einem Schwerpunkt auf Urban Gardening (Christa Müller), aber auch ein zivilgesellschaftlich gestütztes, international gefördertes Nachbarschaftsprojekt in Lagos (Nigeria) wird präsentiert. Der Autorin Fabienne Hoelzel dient es als Beispiel für eine „behutsame Stadterneuerung“. Den Abschluss bildet ein Aufsatz von Siu King Chung, der sich anhand von Museumsprojekten mit kritisch-künstlerischer Intervention in Quartieren beschäftigt. Deren Ziel ist die Sichtbarmachung urbaner Lebenswelten, aber auch die Bewahrung tradierten Wissens vor dem Hintergrund fortschreitender Gentrifizierungsprozesse.
Der dritte Abschnitt des Buches, der eher ein Anhang zu den anderen ist, wirft seinen Blick abschließend gewissermaßen durch das Auge der Kamera auf die Stadt. Verhandelt wird „Fotografie als Medium der Stadtforschung“ über die Fragen, was in der Stadt fotografiert wird und wie Fotograf*innen ihren Gegenstand auswählen, interpretieren und gleichzeitig in Szene setzen. Richtet der Beitrag von Jürgen Hasse seine neo-phänomenologische Perspektive auf meist Übersehenes, „Infra-Gewöhnliches“ im städtischen Alltag, das er an scheinbar banalen Objekte wie Garagen enthüllt, begibt sich der Historiker Philipp Sarasin vermittels eigener Fotografien auf die Suche nach der „Welthaltigkeit“ globaler Städte.
Ausgewählte Inhalte
Der Herausgeber, Jürgen Krusche, kündigt einleitend an, dass der Band „Aufsätze von Expertinnen und Experten aus verschiedenen Disziplinen rund um die oft widersprüchlichen Sichtweisen auf die Herausforderungen der heutigen Stadt“ vereint (8). Stärker als das vorgeschlagene Thema der „(Un-)Sicherheit“ scheint mir jedoch das Paradigma der „Offenen Stadt“ den „thematischen Kern des Buches“ auszumachen. Jedenfalls werden im Band verstärkt deren Bedingungen, Freiheiten, spezifische Potenziale, aber v.a. auch Widersprüche thematisiert. Ihr Verständnis schließt dabei locker an Richard Sennetts Konzept der „Open City“ an. Johanna Rolshoven (35) z.B. beschreibt die „Offene Stadt“ als demokratischen und allen zugänglichen „Ort der Differenz“, während sie gleichzeitig dadurch charakterisiert sei, dass sie mit Konflikten und ambivalenten Erfahrungen (wie Fremdheit und Verunsicherung) souverän umgehen könne.
Krusche beobachtet jedoch auch, dass der Glaube an die „Offene Stadt“ mehr und mehr erschüttert sei und spürbar die Bereitschaft sinke, sich der Ambiguität städtischen Lebens auszusetzen. Allenthalben nimmt der Wunsch nach „strengerer Regulierung“ (7) zu. Den verbundenen Tendenzen: Rückzug ins Private, Abschottung gegen Andersartigkeit, Versicherheitlichung des öffentlichen Raumes, hält Erol Yildiz im Buch entgegen, dass neben den von Rolshoven (35) betonten „Aushandlungsprozessen um Raum, Ressourcen und individuelle Entfaltung“ auch Migration geradezu daseinsmäßig mit Stadt zusammengehöre. Schließlich mache sie das Städtische tagtäglich zum Ort der Integration und Generierung von Vielfalt. Während entlang der drei Abschnitte wiederholt auf die diversen Ausdrucksformen und Voraussetzungen, aber auch Möglichkeiten und Grenzen der „Offenen Stadt“ Rekurs genommen wird, werden en passant auch verschiedene Formen der titelgebenden Ambivalenz erläutert. (Darauf komme ich in der Diskussion zurück.) Hier soll zunächst ein Einblick in einige Beiträge gegeben werden, der die Bandbreite des Buches illustrieren kann.
Tendenzen und Analysen
Der Geograph Manfred Rolfes und die Kulturanthropologin Johanna Rolshoven gehen auf das aktuell viel diskutierte Thema Urbane Sicherheit ein. Beide heben in ihren Beiträgen v.a. auf nicht intendierte Folgen von Sicherheitsmaßnahmen im Stadtraum ab, also darauf „dass auch Sicherheit erzeugende Entscheidungen und kriminalpräventives Agieren“ neue „Risiken und Gefahren“ schaffen können (52). Letztere vermehren sich heute auch deshalb so schnell, weil der Diskurs um Sicherheit längst von wirtschaftlichen Interessen entdeckt worden sei. Dagegen behandelt der Soziologe Jens S. Dangschat mit den Fragen Segregation und Durchmischung scheinbare Standardthemen der Stadtsoziologie. Allerdings geht er ganz grundsätzlich der Frage nach, ob urbane „Vielfalt“ wirklich zugenommen habe und kommt, wie in der Frage, wann Vielfalt wünschenswert und nützlich sei, zu spannenden Ergebnissen: Einerseits lässt sich nämlich zeigen, dass die Feststellung großer oder wachsender städtischer Vielfalt zwar eine lange Tradition hat, bisher jedoch kaum empirisch nachgewiesen wurde (was auch für die Gegenwart gilt; 19f). Zumindest teilweise handelt es sich also auch um ein Artefakt der Forschung, bedingt u.a. dadurch, dass vergleichsweise spät begonnen wurde, neben ‚vertikalen‘ auch ‚horizontale‘ Parameter (wie Geschlecht, Alter, Haushaltstyp, Ethnie) zu berücksichtigen. Derweil könne, so Dangschat, die „quantitative und qualitative Zunahme der als zentral betrachteten Dimensionen“ zumindest als relativer Indikator „einer wachsenden gesellschaftlichen Vielfalt“ (20) gelten.
In Bezug auf die zweite Frage, konstatiert Dangschat, dass Steuerung von Vielfalt generell schwierig und ein normativ fragwürdiges Unterfangen sei. Nichtsdestotrotz bleibt „Durchmischung“ bei vielen kommunalen Planer*innen populär. Ihr Erfolg stelle sich dennoch bloß zaghaft und zumeist nur für wenige ein. Für Dangschat liegt das zum einen an der marktabhängigen Logik der Wohnraumverteilung, wodurch v.a. jene mit Vielfalt konfrontiert würden, die über wenig bis gar keine Ressourcen für dauerhaft gelingende konfliktfreie Kontaktaufnahmen verfügen und auch nur selten über die benötigten kommunikative Fähigkeiten (22). Konflikte werden aber auch wahrscheinlich, weil nicht nur Voraussetzungen und Copingfähigkeit, sondern ebenso die Einstellung zur Vielfalt selbst strukturell (mit-)bedingt sei (vgl. 25ff). Dangschat betont derweil, dass nicht nur ‚Unterschichten‘ oder „prekäre Gruppen“, sondern ebenso Schichten mit mehr Ressourcen und Fähigkeiten immer häufiger von städtischer Vielfalt überfordert scheinen und mit pauschalen Stereotypen und Abwertung auf sie reagieren. Für die Ausgangssituation der (Groß-)Städte heute lasse sich deshalb resümieren, dass durch den information overflow (26) tendenziell alle mehr belastet werden und deshalb – wenn möglich – mit „Rückzug in homogene sozial(räumlich)e Gemeinschaften“ (29) und „mentale gated communities“ reagieren. Eine begleitende kognitive Reaktion sei zudem die „Essentialisierung“ sozialer Unterschiede, aber auch ein starrsinnigeres „Beharren auf der eigenen Sichtweise“ (30).
Gegen solche Trends plädiert Yildiz in seinem Beitrag für Migration und „Vielheit“ als unverzichtbare Voraussetzungen von Urbanität (68). Seine Aufforderung, beides neu zu denken (62), richtet sich v.a. an Wissenschaft und Politik, wobei er hervorhebt, dass erst durch Migration jene Diversität entstehe, die so typisch für Städte sei. Dabei kritisiert er einen „ontologischen Dualismus“ (65), der zwischen Sesshaftigkeit und Beweglichkeit nahezu manichäische unterscheide, was auch in der konventionellen Migrationsforschung zu beobachten sei (74). Mit ähnlichen Argumenten tadelt er eine verbreitete „Doppelmoral“ (63), die zwischen ‚Mobilen‘ (wie Pendlern, Touristen, Gästen) einerseits und ‚Migranten‘ andererseits unterscheidet, während die „mehrheimische“ Bevölkerung (63) mit scheinbar neutralen Herkunftsdialogen – „Wurzeldiskursen“ (66) – und der Warnung vor ‚Parallelgesellschaften‘ überzogen werde. Ausgehend von der Einsicht, dass die „Art der Fragestellung … fest[legt], was wir sehen – und was wir übersehen“ (63) fordert Yildiz generell, Städte mehr vom Standpunkt der Migration zu denken, denn: „Stadt ist Migration“ (68). Anschauungsmaterial dafür liefert ihm das ehemalige Innsbrucker Arbeiterviertel St. Nikolaus. In seiner heutigen Infrastruktur und auch sozialstrukturell ist es stark durch „migrantische Ökonomien“ (70ff) geprägt und somit exemplarisch für Räume, die Yildiz als „Transtopien“ (74) bezeichnet. Darin ist die Bevölkerungsmehrheit eines Landes oft schon Minderheit unter anderen, während Herkunfts-, Sprach- und Lebensstil-Unterschiede gemeinsam vor Ort in Sozialisation und Enkulturation einfließen. Der Alltag vor Ort bleibe so dauerhaft „mit der Welt“ verbunden.
Praxis und Partizipation
Der zweite Abschnitt des Bandes geht, wie erwähnt, auf praktische Beispiele für die „Offene Stadt“ sowie Bedingungen und Bedrohungen ein. Christa Müller, die sich als Soziologin u.a. mit nachhaltigen Lebensstilen und Themen wie Open Source und städtischen Commons beschäftigt, stellt Urban Gardening als Beispiel für städtische DIY-Kulturen vor. Seine Akteure gehören einer sehr heterogene Gruppe an, wiewohl gut ausgebildete, technikaffine und junge Menschen häufiger darunter vorkommen. Sie praktizieren diverse Formen des „Selbermachens“ durch Urban und Guerilla Gardening, Hausbesetzungen und etablieren Repair-Cafés, womit sie sich gleichzeitig gegen das kapitalistische Wachstumsimperativ und für eine Rückgewinnung von „Gestaltungsmacht“ (88) einsetzen. Der öffentliche Raum übernimmt dabei die Funktion einer „Bühne“ (ihrer Praktiken), aber auch die eines „Mediums“, das Formen unreflektierten Konsums und problematisches Investitionsverhalten irritieren soll. Mit solchen „Unterbrechnungen“ sollen Haltungsalternativen aufgezeigt und die Wiederaneignung des öffentlichen Raumes propagiert werden.
Müller stellt somit klar, dass es sich nicht um eine romantisierte Rückkehr in die Vormoderne (mit dezentralisierter Produktionsweise) handelt. Die Akteur*innen seien vielmehr „angetrieben von der Suche nach einer anderen Stadt (…), die sich für die ökologischen und die sozialen Kosten ihrer Existenz zuständig erklärt“ (90) und hängen einer erweiterten Idee der Aufklärung an. Überhaupt äußern viele über ihre verschiedenen Praktiken eine Kritik, die sich sowohl aus einer Ressourcen- als auch einer Resonanzkrise speist. Ziel ist nicht einfach sparsamer zu leben, sondern ein „anderer Umgang mit den Dingen“ und ein gutes Leben zu realisieren (91). Deshalb ist es kein Widerspruch, wenn die (im ursprünglichen Wortsinn) Dilettanten der DIY-Kultur gerade Städte aufsuchen: Für sie sind es „Experimentierräume“ (93) und „Lösungslabore“, wo neue Gemeinschaftsformen und Anbauarten ausprobiert, aber auch rurale und urbane Ästhetiken für den neuen „Öko-Urbanismus“ gemischt werden können (ebd.). – Derweil stehen auch die Praktiken der DIY-Kulturen ständig in Gefahr durch neue Formen der Produktion angeeignet und (z.B. durch die ‚Kreativwirtschaft‘) in neue Vermarktungs- und Ausbeutungsstrategien umgewandelt zu werden. Deshalb sei es nötig, die Ziele des „Selbermachens“ und besagte Kritik nicht aus den Augen zu verlieren. In Anlehnung an Andreas Reckwitz („Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung“, 2013) empfiehlt Müller, die eigene DIY-Kultur als eine Art nachhaltige Meisterschaft zu pflegen, aber auch gezielt auf das Schaffen von Commonszu bauen: allen zugängliche Mittel der Produktion, sei es in der Form gemeinsamer Werkzeuge oder offener Programmcodes.
Fabienne Hoelzel, Architektur- und Städtebau-Professorin in Stuttgart und Direktorin des Planungsbüros FABULOUS URBAN (Standort Zürich), berichtet in ihrem Beitrag vom Projekt „behutsamer Stadtsanierung“ in Lagos (Nigeria). Die ehemalige Hauptstadt Nigerias ist zugleich Ausdruck des Wirtschaftsbooms und der städtischen Krise Westafrikas, die sich am besten als „urbane Involution“ beschreiben (104) lässt. Charakterisiert sei sie durch schnelles Wachstum der Bevölkerung und rasche Ausdehnung der Siedlungen, während eine Mehrheit der Menschen vor Ort vom Wohlstand ausgeschlossen bleibt (ebd.). Die Folge ist ein typisches Urbanisierungsmuster, bedingt durch hohe Geburtenraten, Landflucht und Armut (114): Allein in Lagos leben rund zwei Drittel der rund 18 Millionen Einwohner in Slums. Verstärkt wird diese Krise dadurch, dass Lagos eine „self-help city“ ist (102), worin Stadtplanung weitgehend fehlt; was wiederum die Bevölkerung zur Selbstorganisation zwinge, mit vielen informellen Siedlungen in der Folge. Derweil führe auch mangelhafte Kontrolle in den Verwaltungsbehörden zur „Korruption auf allen Ebenen“ (104), während die fehlende Rechtsstaatlichkeit (106) Investitionen fernhält. Ergebnis von alledem sei, dass den Slumbewohner*innen dringend benötigte Infrastrukturen fehlen.
Hier nun setzt das Projekt des 2015 eröffneten „Makoko Neighborhood Hotspot“ an. Hoelzel bezeichnet ihn als Prototyp (111) einer neuen Entwicklungsstrategie, deren Ziel ist, auf kleinerem Maßstab – und in Zukunft in einem Netzwerk solcher Versorgungspunkte – Basisinfrastrukturen wie Wasser-, Kochgas- und Stromversorgung anzubieten, aber auch Arbeitsplätze und alles betrieben durch erneuerbare Energieanlagen (ebd.). Mit solchen Game changers – wie die kleinmaßstablichen Strategieprojekte genannt werden – soll erreicht werden, was typischen Top-down-Projekten bislang nicht gelingt (113): Die Bevölkerung mit dem Nötigen versorgen, aber auch Knowhow und Fähigkeiten vor Ort einzubeziehen, damit längerfristig die Hilfe zur Selbsthilfe (re-)aktiviert wird. Der „demokratisch organisierte und konzipierte“ Hotspot schaffe so eine nützliche und zugleich flexible Struktur, die auch an „künftige Bedürfnisse der Menschen“ adaptierbar bleibe (114).
Fotografie als Medium der Stadtforschung
Der dritte Abschnitt des Buches geht über die bisher weitgehend dokumentarische Verwendung von Bildern hinaus, indem er konkret Möglichkeiten und Grenzen des Fotografierens in der Stadt reflektiert. Der Historiker Philipp Sarasin konzentriert sich in seinem Beitrag vor allem auf Fragen der Haltung des fotografierenden Subjekts und auf Maßstabsprobleme mit dem ‚Objekt‘ Stadt; überlegt aber auch, wie man deren komplexe „Welthaltigkeit“ in einem Bild „lesbar“ machen kann (160, 164). Währenddessen widmet sich Jürgen Hasse einer grundsätzlicheren Ambivalenz: Vermag es Fotografie eigentlich, mehr als nur (städtische) Realität abzubilden? Historisch sah sie sich schließlich des Öfteren mit dem Vorwurf konfrontiert, nur „Diener des Bestehenden zu sein“ (134) und vorhandene Denk- und Deutungsmuster bloß zu bestätigen. Dagegen betont der Neo-Phänomenologe Hasse jedoch ihren ambivalent bleibenden Charakter: Fotokunst ist nicht per se affirmativ, sondern zur Zersetzung gewohnter Denkweisen in der Lage.
Das hängt v.a. damit zusammen, dass Fotografie eben nicht nur „rohes Abbild der Realität“ sei, sondern „Ausdruck“ einer (modulierbaren) Beziehung von Fotograf*in und Gegenstand. Es hängt folglich vom Subjekt ab, ob es sich vorrangig dem als ‚sehenswert‘ Normiertem beugt oder den Apparat gezielt für ein genaueres Hinsehen nutzt: für „Mikrologien“, die Hasse als „Erkundungen des Kleinen“ (142) „im Abseits lebensweltlicher Aufmerksamkeit“ (133) bestimmt. Er selbst hat dafür als Alltagsgegenstände Garagen ausgewählt und stößt an ihnen auf etwas, das der französische Autor George Perec als „Infra-Gewöhnliches“ bezeichnete. Nur scheinbar handelt es sich dabei um Banalitäten. Vielmehr werden durch das Fotografieren solcher Gegenstände sonst übersehene Eigenschaften sichtbar, die hintergründige Weltbeziehungen identifizierbar machen und „Wirklichkeit“ als Bedeutungsnetz diverser Eigendynamiken zu zeigen vermögen. So werde Fotografie zu einem „multisensoriellen Medium“, das „gelebte“ und „atmosphärische Räume“ (135) ent-decken hilft und die kulturelle Bedeutsamkeit von Objekten sichtbar mache (etwa als Um- und Verhüllung von Kultobjekten wie dem Auto). Zudem werde dabei die Unberrschbarkeit und „eine gewisse Lebendigkeit“ der Dinge selbst (150) erkennbar. Das Foto konserviert sie und weckt so „Bedenklichkeit“ (133), aber auch ein subversives Potenzial (155).
Diskussion
„Die ambivalente Stadt“ trägt über die verschiedenen Beiträge zugleich unterschiedliche Ausdrucksformen städtischer Ambivalenz zusammen. Allerdings schafft das Buch auch insofern eine eigene, als die Einzelbeiträge nicht immer zu erkennen geben, ob es sich jeweils um eine genuin städtische oder doch schon kriseinduzierte Ambivalenz handelt.
Freud fasste die Ambivalenz bekanntlich (anhand von Melancholie und später Tabu) als Liebe und Hass zugleich. Schon bei ihm ist entscheidend, dass der grundlegende Zwiespalt dem Subjekt nicht bewusst wird, u.a. weil er sich auf verschiedenen „Seelenebenen“ abspielt. Ähnliches können wir auch in Städten beobachten, wenn uns an bestimmten Orten zeitweilig Angst und Verunsicherung heimsuchen, wir uns in dunklen Nebengassen aber auch wohlfühlen können und gern in städtischer Anonymität auf Entdeckungsreise gehen. Zudem ist den meisten nicht bewusst, dass der öffentliche Raum und auch städtische Menschenansammlungen (durch diversen Formen informeller Kontrolle) i.d.R. viel sicherere Aufenthaltsorte sind als der private Raum.
Außer am (Un-)Sicherheitsempfinden illustriert das Buch städtische Ambivalenz dadurch, dass uns Städte mitunter gleichzeitig schön und hässlich scheinen (vgl. Krusche, 15), aber auch darüber, dass sie uns zwar viele Überraschungen ‚versprechen‘,durch ständige Reizbeflutung aber auch schnell ermüden können. Außerdem (wie inbesondere Siu King Chun zeigt) wecken stadtintern hohe Dynamiken leicht das Gefühl, sich durch eine permanente Gegenwart fortzubewegen, während sehr wohl Spuren der Vergangenheit (wie bauliche Relikte, kulturelle Traditionen) vorhanden sind, sich jedoch wie die städtischen ‚Zukunftsvisionen‘ (Bauprojekte) schwer damit tun, dauerhaft unsere Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
Da Vielfalt schnell zur Überforderung und Reserviertheit führen kann (wie schon Simmel auffiel), muss wohl auch Yildiz' Gleichung „Stadt ist Migration“ (68) deutlicher in ihrer Ambivalenz betont werden. [1] Natürlich kennt fast jeder Stadtteile, die „sich permanent im Wandel befinden“ (75) und durch Migration geprägt sind. Einer Generalisierung dieser Tatsache zum „methodologischen Kosmopolitismus“ (76) steht aber entgegen, dass es ebenfalls starke Beharrungskräfte – Immobilien aber auch ‚Immobile‘ – in Städten bzw. Quartieren gibt. In Deutschlnad etwa wurden diese Kräfte zuletzt in eher negativer Form deutlich, nämlich als parallel zur sich etablierenden „Willkommenskultur“ in den Medien das Bild überforderter Städte dominierte. Angesichts einer ungewissen Zahl an Zuwanderer*innen verstärkten sich auch in den Mittelschichten spürbar die vorhandenen Abstiegsängste und sogar Fremdenfeindlichkeit und Gewaltbereitschaft wurden offener demonstriert. Da es sich zum Teil um Bedürfnisse nach Orientierung und Ordnung handelte, die sich im Hintergrund einer unübersichtlichen Situation und vielfach gespeist von Ängste vor zu schnellem Wandel, artikulierten, ist es mit einer bloßen Kritik des „ontologischen Dualismus“ nicht getan. Und während Reaktionen wie die Diffamierung von ‚Fremden‘ und v.a. deren ideologische Ausbeutung ganz sicher falsch sind, liegen solchen Phänomenen doch zumeist ganz andere Ursachen zugrunde als Unkenntnis über Migration oder das Messen mit zweierlei Maß („Doppelmoral“).
Entsprechend reicht das bloße „Beharren auf einer ‚aufgeklärten Sichtweise‘“ (Dangschat, 31) hier nicht aus. Gerade Anwohner*innen strukturell benachteiligter Viertel fehlen häufig, wie schon erwähnt, Ressourcen und Fähigkeiten, um mit zunehmender Vielfalt in der Lebensumwelt souverän umzugehen. Diese Benachteiligung wird spätmodern dadurch verschärft, dass „Sesshaftigkeit“ selbst zum diskriminierenden Faktor mit „realitätserzeugenden Effekten“ (Yildiz, 65) wird. Heute unterscheiden sich (auch) in Städten die Lebenschancen und -perspektiven von mobilen und tendenziell immobilen Gruppen deutlich und letztere gelten schon durch die stärkere Ortsverbundenheit häufig als rückständig. Anforderungen dynamischer Gesellschaften nach hoher räumlicher und zeitlicher Flexibilität in Arbeits- Wohn- und Konsumverhalten können sie jedenfalls kaum entsprechen und werden deshalb von sozialer Exklusion bedroht (vgl. H. Rosa, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, 2005).
Freilich bleibt an dieser Stelle zu betonen, dass weder diese Ambivalenz noch eine andere im Buch genannte, die Kommodifizierung von städtischen Räumen, Praktiken und Kulturen, strenggenommen keine genuin städtischen Ambivalenzen sind. Beide sind vielmehr Ausdruck ambivalenter Gesellschaftsentwicklungen: Dahinter steht ein neoliberales Projekt, das keine Chance auf Profit ungenutzt lässt, sondern ausweitet und (sozial-)staatliche Regulierungen gleichzeitig zurückdrängt, während gleichlaufend individuelle Verantwortung und Haftbarkeit zunehmen. Für die Städte bedeuten entsprechende Entwicklungen v.a. Verluste an ‚Gebrauchswert‘, da Bewegungsfreiheit (z.B. durch geschlossene Wohnkomplexe), Nutzungsoffenheit von Räumen (durch Überwachung sowie restriktive Hausordnungen in Shopping Malls) und verfügbare und preisgünstige Infrastrukturen in öffentlicher Hand abnehmen. Damit verbunden ist für nicht-konforme Lebensweise und insbesondere Randgruppen die ständige Gefahr, verdrängt und im „Selbermachen“ städtischer Räume beschränkt zu werden. Zuallererst setzen ihnen jedoch Sicherheitsmaßnahmen zu, die ihre „Raumrechte“ (Rolshoven, 39) einschränken.
Da solche neoliberalen Strategien (bekannt als Paradigma der „unternehmerischen Stadt“) sowie die besagte soziale Polarisierung älteren Datums sind als der Anstieg der Zuwanderungszahlen (seit 2014), scheint es geboten, sich deutlicher von einer (meist) rechts-populistischen Verknüpfung von Migration und Unsicherheit zu distanzieren. Die dahinter erkennbar werdende gedankliche und ideologische Konstruktion ist nicht nur „vereinfachend“ oder „gefährlich“ (7), sondern falsch – und sollte auch so benannt werden. Macht das Buch sehr wohl verschiedentlich deutlich, das es zu fremdenfeindlichen Haltungen und Handlungen auf Distanz geht, zeigt sich hier womöglich dennoch auch die Begrenztheit des Konzeptes der „Offenen Stadt“.
Seine Stärke liegt freilich darin, dass es gewissermaßen bedingungslos gegenüber Differenz, Unbestimmtheit und offenen Situationen (die es in Städten zuhauf gibt) Rücksicht und Toleranz, aber auch Verständnis für allerlei Zumutbarkeiten abzuverlangt. Für viele Gruppen ist Öffentlichkeit schließlich auch ein Schutzraum und nötig für Austausch, Kontaktaufnahme und allerlei Formen der Begegnung, die nicht einfach ‚wegreguliert‘ werden sollten. Außerdem greifen nahezu alle Stadtnutzer*innen hin und wieder auf die Freiheit des Umherschweifens in der Stadt zurück und auf diverse verborgene Gelegenheitsstrukturen. In diesem Sinne unterstreicht das 2017 gegründete Zentrum für urbane Unsicherheit, dass uns Städte ebenso zumuten wie erlauben, „Neues zu entdecken“, „Bekanntes anders zu sehen und unreflektierte Routinen“ zu hinterfragen. Gerade weil städtische Komplexität auch Abenteuer, „Wagnis und Risiko“ bedeutet, hat sie ihren „eigenen Reiz“. [2]
Allerdings bleibt diese Unsicherheit nicht frei von einer eigenen Dialektik und nicht ohne Grund wünschen sich gerade Marginalisierte und Minderheiten, aber auch die erwähnten ‚Modernisierungsverlierer‘ oder Vertreter*innen urbaner Bewegungen wie Recht auf Stadt und Occupy Wall-Street (die leider im Band unterbelichtet bleiben) anstelle einer „Open City“ sicher vielmehr eine „Just City“ – eine gerechte(re) Stadt. In ähnlichem Sinne weist (im Band) Manfred Rolfes (55) darauf hin, dass das „Gerede von (…) den ‚Nutzungskonflikten‘ im öffentlichen Raum“ zwischen verschiedenen Gruppen auch verschleien kann, „dass die Nutzer*innen dieses Raumes keineswegs gleich an Rechten und an Macht sind“. Aus ähnlichen Gründen verteidigt der Geograph David Harvey (City University of New York) oder auch der Politikwissenschaftler Neil Brenner (Harvard University) das „Recht auf Stadt“ auch gegen die „Offene Stadt“. Häufig nämlich, so Brenner, sei die „open city“ unzureichend in ihrer kritischen Perspektive und „zu eng“ gedacht. Sie drohe deshalb zur bloßen Ideologie zu werden, „which masks, or perhaps merely softens, the form of top-down planning, market-dominated governance, sociospatial exclusion and displacement“ (vgl. N. Brenner, „Open City or the Right to the City?“ 2013).
Fazit
Das Buch vereint eine Fülle an Beiträgen, die Einblick in die „Offene“ und „ambivalente Stadt“, aber auch in aktuelle (groß-)städtische Tendenzen geben. Deren unterschiedliche Bedingungen, Freiheiten, Potenziale und Raum für alternative Praktiken kommen zur Sprache, aber auch Widersprüche, Defizite und gegenwärtige Bedrohungen werden erwähnt, aus denen sich teils akuter Handlungsbedarf ergibt. Das kurze künstlerische Intermezzo und die beiden abschließenden Beiträge öffnen zudem die Perspektive auf unterschiedliche Verwendungszusammenhänge von Stadt und Fotografie.
Während die einzelnen Beiträge zum Teil nur locker verbunden sind, bietet das gerade den Vorteil, sich gezielt auf spezifische Einzelthemen des aktuellen Städtediskurses einzulassen, aber auch diverse andere Assoziationsräume öffnen zu können. Einer tieferen Analyse bliebe derweil vorbehalten, das mögliche Schicksal der „Offenen Stadt“, aber auch die Gründe und Ursachen ihrer heutigen Bedrohung systematischer zu analysieren sowie Bedingungen zu klären, unter denen einem größeren Teil heutiger Stadtbevölkerungen möglich würde, mit der typischen städtischen Unbestimmtheit und Unsicherheit offener umzugehen und sie nutzen zu können.
[1] Ohnehin sind einseitige Feststellungen zu ‚der Stadt‘ meist problembehaftet. So wenig wie Städte immer Vielfalt oder auch Konflikte bejahen, ist bloße Differenz ausreichend für Integration (Rolshoven, 35). Solchen Behauptungen liegt weniger Erkenntnis als ein normativ verzerrendes Bild der Großstadt zugrunde. Auch vor dem Hintergrund, dass die städtische Lebensrealität der meisten Stadtmenschen (Deutschland eingeschlossen) sich immer noch in Klein- und Mittelstädten abspielt, wäre hier mehr Differenzierung zu wünschen.
Rezension von
Alexander Krahmer
M.A.,
Stadtsoziologe am Department für Stadt- und
Umweltsoziologie des Helmholtz Zentrums für Umweltforschung Leipzig
Website
Mailformular
Es gibt 6 Rezensionen von Alexander Krahmer.
Zitiervorschlag
Alexander Krahmer. Rezension vom 20.06.2018 zu:
Jürgen Krusche (Hrsg.): Die ambivalente Stadt. Gegenwart und Zukunft des öffentlichen Raums. JOVIS Verlag GmbH
(Berlin) 2017.
ISBN 978-3-86859-467-6.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/24107.php, Datum des Zugriffs 11.09.2024.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.