Anne Waldschmidt (Hrsg.): Handbuch Disability Studies
Rezensiert von Prof. Dr. Hans Günther Homfeldt, 06.05.2022
Anne Waldschmidt (Hrsg.): Handbuch Disability Studies. Springer VS (Wiesbaden) 2022. 531 Seiten. ISBN 978-3-531-17537-9. 89,99 EUR.
Thema
Das Handbuch vermittelt einen Einblick in den internationalen Diskurs der Disability Studies und liefert einen Überblick über ihre nationalen bzw. deutschsprachigen Grundlagen und Debatten. Die Beiträge des Handbuches bearbeiten dabei theoretische, methodische und empirische Fragen unterschiedlicher Disziplinen sowie intersektionale und querliegende Themenfelder zu „dis/ability“. In den Beiträgen geht es darum, (Nicht-)Behinderung als eine historische, soziale, und kulturelle Konstruktion zu verstehen, mit anderen Worten, das Forschungsfeld der (Nicht-)Behinderung mit einer emanzipatorischen Zielrichtung aus einer sozial- und kulturwissenschaftlichen Sicht zu untersuchen und dabei (Nicht-)Behinderung von einer medizinisch-pädagogischen Umklammerung zu befreien.
Herausgeberin
Anne Waldschmidt ist Professorin für Soziologie und Disability Studies an der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität Köln. Die Herausgeberin des Handbuches leitet die Internationale Forschungsstelle Disability Studies und lehrt Soziologie der Behinderung und Politik der Rehabilitation. Forschungsschwerpunkte sind Wissenssoziologie, Körpersoziologie, Politische Soziologie, Behindertenpolitik im Vergleich, Zeitgeschichte der Behinderung (Disability History), Intersektionalitätsforschung, Diskurs- und Dispositivanalyse.
Aufbau
Alle Beiträge des Handbuches grenzen sich ab von Grundannahmen eines klinisch-medizinischen Blicks und damit auch von herkömmlichen Forschungen zur Behinderung. In den Beiträgen geht es vielmehr um einen Perspektivwechsel, indem gefragt wird, „wie, warum und wozu historisch, sozial und kulturell `Andersheit` als Behinderung hergestellt, verobjektiviert und praktiziert“ (S. 4) wird. Vor diesem Hintergrund verdeutlichen die Beiträge, dass es die Disability Studies sowohl auf internationaler wie auch nationaler Ebene erreicht haben, Behinderung als eine gesellschaftliche Gegebenheit zu denken, die durch vielerlei kulturelle, ökonomische, räumliche, soziale und technische Umwelthürden entsteht. Mit diesem Paradigmenwechsel ist eine sozial- und kulturkritische Sicht und mit ihr ein neues Forschungsprofil verbunden. Sie kommt in den Einzelbeiträgen des Bandes in den verschiedenen Themenfeldern durchgehend zum Ausdruck.
Das Handbuch gliedert sich in vier Teile. Nach Beiträgen zu Grundlagen der Disability Studies folgen die Teile Interdisziplinarität in den Disability Studies, Intersektionale und querliegende Perspektiven in den Disability Studies und Kontroversen in den Disability Studies. Nach zwei Jahrzehnten Entwicklungsgeschichte sei es geboten, „das interdisziplinäre Forschungsfeld in seinen Grundlagen zu erschließen und die Entwicklung zu bilanzieren“ (S. 6), so die Herausgeberin. Diese Zielsetzung wird in den Einzelbeiträgen facettenreich umgesetzt. Sie setzen sich zusammen aus einer Einführung, Überblicksdarstellung und Vermittlung des Forschungsstandes. Alle Beiträge beginnen überdies mit einer Zusammenfassung, benennen Schlüsselwörter, formulieren nach einer Einleitung historische Facetten, richten den Blick auf internationale bzw. transnationale Erkenntnisstände und fassen in einem Fazit die wichtigsten im Text zum Ausdruck gebrachten Erkenntnisse zusammen.
Inhalt
Der einführende Beitrag von Anne Waldschmidt und Sarah Karim liefert Antworten auf die Frage „Was sind Disability Studies?“ Die Autorinnen verweisen auf das Profil der internationalen Disability Studies und auf die kurze Entwicklungsgeschichte, den Forschungsstand und das Vokabular in den deutschsprachigen Disability Studies.
Der Beitrag von Julia Biermann und Justin J. W. Powell im ersten Teil des Handbuches geht auf internationale Entwicklungen in den Disability Studies mit dem Fokus auf englischsprachige Diskurse ein, indem drei historische Abschnitte (die 1970ger und 1980ger Jahre, die 1990ger und 2000er sowie die 2010 Jahre) in den Blick genommen werden. Insbesondere im letzten Jahrzehnt ist, so die Autor*innen, „eine Pluralisierung der Disability Studies durch die Diversifizierung von Ansätzen, Methoden und Konzepten“ (S. 20) zu beobachten. Ein charakteristisches Merkmal ist die Verbindung von Wissenschaft und Behindertenbewegung. Für die Zukunft sollten bei Anerkennung der globalen Hierarchien in der Wissensproduktion Wege gefunden werden, um Forschungen aus dem globalen Norden und Süden gleichberechtigt nebeneinander zu stellen (S. 29).
Im Fokus des Beitrags von Petra Fuchs `Behinderung` – eine bewegte Geschichte stehen die Biographien und Schriften von vier frühen Autor*innen der deutschen Behindertenbewegung der 1920er und 1930er Jahre auf dem Hintergrund der Genese des Phänomens der `Behinderung`. Als körper- und sinnesbehinderte Aktivist*innen entwickelten diese während der Weimarer Zeit ein soziales Modell von Behinderung, das mit seinem emanzipatorischen Anliegen in den damaligen Behindertenbewegungen eingebettet sind.
Der nachfolgende Beitrag von Swantje Köbsell thematisiert Entstehung und Varianten der deutschsprachigen Disability-Studies, indem die Behindertenbewegungen in den deutschsprachigen Ländern sowie die frühen Disability Studies in Deutschland, Österreich und der Schweiz bis hin zu ihrem aktuellen Stand reflektiert werden. Gleichzeitig geht die Autorin auf konzeptionelle Debatten und die Ausweitung der Diskurse in den zurückliegenden Jahrzehnten ein, insbesondere unter Einbindung, aber auch über das soziale und menschenrechtliche Modell von Behinderung hinaus, auf die länderspezifischen Ausprägungen der Disability Studies. Dabei beklagt Swantje Köbsell die schleppende akademische Institutionalisierung der Disability Studies.
Geben die ersten Beiträge einen entwicklungsbezogenen Einblick in die Disability Studies, so stellt der Artikel von Anne Waldschmidt und Michael Schillmeier drei grundlegende Theorieansätze vor, u. z. von Parsons, Goffman und Foucault, da diese in der Sicht der beiden Autor*innen von zentraler Bedeutung sind. Regte der Ansatz von Parsons die Disability Studies zu produktiver Kritik an, so sind die Ansätze der beiden anderen Autoren von Relevanz, „weil sie ein situiertes und kritisch-konzeptionelles Weiterdenken stimuliert haben und dies auch weiterhin tun“ (S. 74). Anknüpfend an Goffman und Foucault zeigt der Beitrag in einem zweiten Teil unter Einbeziehung internationaler Entwicklungen, insbesondere in Großbritannien und den USA, die vielfältigen theoriebezogenen Weiterentwicklungen in den Disability Studies. Hervorzuheben ist hier als transdisziplinärer Ansatz der Ableismus. Auf ihn wird in nachfolgenden Beiträgen wiederholt eingegangen.
In den Disability Studies sind verschiedene eigene Modelle von Behinderung entwickelt worden: das Minderheitenmodell, das soziale, das affirmative, das kulturelle und das Menschenrechtsmodell. Auf sie geht der Beitrag von Marianne Hirschberg ein, indem sie vom individuellen und relationalen Modell von Behinderung abgegrenzt werden. Geprägt wurden die unterschiedlichen Modelle durch die regionalen und internationalen Behindertenbewegungen. Die Autorin gibt eine Begriffsbestimmung von Modell in Abgrenzung zu Theorie, stellt des Weiteren das individuelle und relationale Modell von Behinderung, das auf dem Normalisierungsprinzip beruht, dar, und skizziert anschließend die Behinderungsmodelle der Disability Studies vom sozialen bis hin zum menschrechtsbezogenen Modell.
In ihrem Artikel Partizipatorische und emanzipatorische Forschung in den Disability Studies spricht sich Birgit Behrisch dafür aus, Forschung von und mit behinderten Menschen zu realisieren. Nach einer einführenden Skizze allgemeiner Grundsätze partizipatorischer Forschung werden vier für die Disability Studies relevante partizipatorische Forschungsansätze vorgestellt, und zwar emanzipatorische Forschung, partizipatorische Handlungsforschung, inklusive Forschung und betroffenenkontrollierte Forschung. Emanzipatorische Forschung betont, dass vor allem Menschen mit eigenen Erfahrungen von Behinderung forschen sollten. Partizipatorische Forschung richtet nicht nur den Blick auf die Herrschafts- und Machtverhältnisse in Forschungsprojekten, sondern auch auf die durch den wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn eingeschränkten Möglichkeiten. Birgit Behrisch spricht sich abschließend dafür aus, den Begriff der Partizipation genauer zu bestimmen und explizit an die Debatten der Disability Studies anzuschließen (S. 121).
Die Beiträge der beiden nächsten Teile, zum einen zur Interdisziplinarität und zum anderen zur Intersektionalität, werden nachfolgend unterschiedlich ausführlich vorgestellt.
Elsbeth Bösl und Bianca Frohne liefern einen Überblick über Grundannahmen und Vorgehensweisen der internationalen und deutschsprachigen Disability History. Vor diesem Hintergrund geht es den Autorinnen um Konzepte von Behinderung in der Geschichte, um den Körper in der Geschichte, um die Historiographie von Disability und ihre Quellen und schließlich um Disability History als Korrektiv von Geschichtswissenschaft und Disability Studies. In der Geschichtswissenschaft wird Disability History zum Korrektiv, weil sie diese weitgehend ignoriert hat oder aber konventionell und ontologisierend als individuelles biologisches Merkmal fehldeutete. Disability sollte, so die Autorinnen, in den gesamtgesellschaftlichen und kulturellen Kontext einer untersuchten Epoche eingefügt werden.
Sarah Karim hebt hervor, dass soziologische Theorien und die Methoden der empirischen Sozialforschung die interdisziplinären Diability Studies geprägt haben (S. 143). Nachdem eingangs das soziale Modell der Behinderung vorgestellt worden ist, werden anschließend die Entwicklungslinien und die empirischen Methoden der deutschsprachigen soziologischen Disability Studies nachgezeichnet. Forschungsfelder sind vor allem Biographieforschung, Körpersoziologie, soziale Ungleichheit, Bildung und Schule, Erwerbsarbeit und Arbeitsalltag sowie soziale Interaktionen und Alltag.
Die nachfolgenden Beiträge thematisieren politikwissenschaftliche Disability Studies, Rechtswissenschaft in den Disability Studies, Kulturwissenschaftliche Disability Studies, Literatur- und Sprachwissenschaften in den Disability Studies, Disability Culture und Disability Arts, Anthropologie und Ethik in den Disability Studies sowie Psychologie in den Disability Studies.
Lisa Pfahl und Volker Schönwiese stellen in ihrem Beitrag zu Disability Studies in der Erziehungswissenschaft die vielfältigen Bezüge zwischen den Disability Studies und der Erziehungswissenschaft anhand der historischen Debatten im 20. Jahrhundert bis heute insbesondere am Beispiel des Menschenrechts und der inklusiven Bildung dar. Nach der Diskussion um die Bedeutung der Disability Studies und der UN-Behindertenrechtskonvention für die Erziehungswissenschaft geht es anschließend im Beitrag um die Entwicklung von der Segregation zur Inklusion und dabei um den Wandel des Verständnisses von Behinderung insbesondere um das menschenrechtliche Verständnis von Behinderung in der Pädagogik. Für den Rezensenten unklar ist dabei die nicht erklärte Nutzung der Begriffe Erziehungswissenschaft, Pädagogik und Bildungswissenschaft. Beziehen sie sich auf Unterschiedliches oder sind sie einzig Benennungen für ein Gleiches?
Im Mittelpunkt des Beitrags von Carla Wesselmann zu Disability Studies in der Sozialen Arbeit stehen die Begriffe Normalisierung, Ableismus, Teilhabe, Partizipation und Inklusion. Nach einer Einführung in das Fach Soziale Arbeit mit einem Betrachtungsschwerpunkt auf Deutschland sowie einem Blick auf die Zielgruppe behinderter Menschen in der Sozialen Arbeit zeigt die Autorin, wie sich mit den Behinderungsbegriffen der UN-BRK der Blick der Sozialen Arbeit verändert hat, nicht zuletzt aufgrund der mit ihm verbundenen Rechtsansprüche auf Hilfen zur Teilhabe, insbesondere durch die Implementierung des BTHG und mit ihm durch die Steigerung des Gebrauchswertes der ICF. Überdies haben Schlüsselbegriffe der UN-BKK wie Teilhabe, Partizipation und Inklusion an Bedeutung in der Sozialen Arbeit gewonnen. Abschließend arbeitet Carla Wesselmann Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Disability Studies und Sozialer Arbeit heraus. Gemeinsam ist beiden Disziplinen das Verständnis von Behinderung als soziale Konstruktion und mit ihr verbunden die Aufgabe, hegemoniale Normalitätsvorstellungen von Behinderung als individuelles Defizit zu dekonstruieren.
In Disability Studies in der Sportwissenschaft reflektiert Vera Tillmann das Handlungsfeld des inklusiven Sports mit behinderten Menschen und damit auch die mit ihm verbundenen Exklusionsrisiken. Bislang sei aus der Perspektive der Disability Studies die Sport(-wissenschaft) ein noch marginal bearbeitetes Themenfeld. Die Autorin geht vor diesem Hintergrund auf Rehabilitations-, Freizeit-, Breiten- und Leistungssport ein. Hervorzuheben ist überdies der Blick von Seiten der Disability Studies auf den Lebensbereich Bewegung und die Debatte um die Körperlichkeit.
Im Artikel von Caroline Günther geht es um Disability Studies in Architektur, Design und Informationstechnik. Im Fokus steht die Diskussion zur Barrierefreiheit in den drei Segmenten als gesamtgesellschaftliche Herausforderung und hier vor allem für die Lebenswirklichkeit behinderter Menschen. Bezogen auf Deutschland sind rechtliche Regelungen und politische Maßnahmen zur Barrierefreiheit niedergelegt im Behindertengleichstellungsgesetz von 2002. Neue Impulse erhielt die Barrierefreiheit durch die UN-BRK im Jahr 2009 und durch die nationalen Aktionspläne (NAP). Beispielbezogen werden als Handlungsfelder Barrierefreiheit in der Informations- und Kommunikationstechnik, assistive Technologie und Smart Homes sowie in Architektur und Stadtplanung, z.B. in Bezug auf Anforderungen an eine inklusive Stadtplanung, und Architektur dargestellt.
Der erste Beitrag des dritten Teils, in dem es um intersektionale und querliegende Perspektiven in den Disability Studies geht, befasst sich mit Gender & Quer Studies in den Disability Studies. Nach der Reflexion des Wechselverhältnisses von (Nicht-)Behinderung und Geschlecht skizzieren Heike Raab und Simon Ledder die Debatten in den Feminist Disability Studies und Gender & Queer Disability Studies. Anschließend geht es um Körperdiskurse, um Intersektionalität und schließlich um eine Bestandsaufnahme der Forschungserträge in den Themenfeldern Sexualität, Biographie und Biopolitik.
Im Handlungsfeld Disability Studies in der Migrationsgesellschaft bestimmt Marianne Pieper im Spektrum interkultureller Kategorie die Begriffe Migrationshintergrund als Kategorie personaler und kollektiver Identität, Kultur, kulturelle Differenz sowie Interkulturalität und reflektiert dabei wegweisende Debatten, u.a. zu Rassismus und Ableismus, und im Hinblick auf Forschung kritische Rassismusforschung, Critical Whiteness Studies, den Forschungsstand zu interkulturellen Disability Studies und hierbei auch intersektionale Ansätze, ferner postkoloniale Kritik im Kontext der Critical Whiteness Studies und schlussendlich Fluchtforschung in den Disability Studies.
Es folgen des Weiteren Beiträge zu Critical Blindness Studies in den Disability Studies, Deaf Studies sowie Mad Studies.
Den Abschluss des dritten Teils bildet der Beitrag Diversity Studies und Disability Studies. Laura Dobusch betrachtet das Verhältnis beider `Studies`. Ferner wird die begriffliche Differenz von diversity und Diversität in den Blick genommen. Es werden die unterschiedlichen Strömungen der Diversity Studies sichtbar gemacht, um anschließend Forschungsarbeiten zu (Nicht-)Behinderung, die Rezeption der Diversity Studies sowie Forschungen an der Schnittstelle zwischen Disability Studies und Diversity Studies vorzustellen. Der Beitrag verdeutlicht insgesamt die wechselseitigen thematischen Anschlussmöglichkeiten beider Bereiche.
Der vierte Teil des Handbuches umfasst vier Beiträge.
Anne Klein fragt Wie kritisch können, sollen oder müssen die Disability Studies im Kontext einer wissenschafts- und gesellschaftskritischen Skizze sein? Dabei wird die Relevanz von Kritik für die Disability Studies deutlich. Die Verfasserin geht wie alle anderen Autor*innen von der Annahme aus, dass Behinderung nicht als körperbezogenes und individuelles Differenzphänomen zu verstehen ist, sondern als gesellschaftliche Problematisierungsweise, die auf kulturelle Ordnungsmuster aufmerksam macht (S. 472). Auf dieser erkenntnisbezogenen Folie ergibt sich die Frage, wie die oftmals fraglos hingenommenen Gegebenheiten gesellschaftlichen Zusammenlebens untersucht werden und im Sinne von Teilhabe und Inklusion verändert werden können. Auf dem Hintergrund dieser Frage wird eingangs in einer historischen Skizze Gesellschaftskritik als notwendiger Bestandteil von Wissenschaft und Forschung expliziert. Nach der Herausarbeitung, wie die sogenannten Post-Theorien die Disability Studies geprägt haben, wird herausgearbeitet, dass diese „qua Gegenstand als eine kritische Wissenschaft betrieben werden müssen“ (S. 472).
Die beiden nachfolgenden Artikel stellen Identität und Identitätspolitik: Welche Bedeutung haben sie für behinderte Menschen? und Sprecher*innenpositionen: Wer darf, kann und soll Disability Studies betreiben? dar.
Seltsam: Der letzte Titel des Handbuchs hat den Titel „Für und Wider der Inklusion“ und nicht den Titel „Für und Wider die Inklusion“. Carolin Tillmann geht es in ihrem Beitrag um die Diskussion des Inklusionskonzepts aus der Perspektive der Disability Studies. Sehr pointiert wird die Abgrenzung zwischen Integration und Inklusion vorgenommen und dabei verdeutlicht, dass es nicht selten zu begrifflichen Unklarheiten, vor allem in Deutschland, kommt. Eine kritische Sicht auf Integration herrscht in den Disability Studies vor, da mit diesem Begriff eine Angleichungsaufgabe beeinträchtigter Menschen verbunden ist. Hingegen liegt der Inklusion die Vorstellung einer Gesellschaft zugrunde, in der alle Menschen gleichberechtigt teilhaben können und niemand mehr ausgegrenzt und benachteiligt wird (S. 521). Bei der Inklusion wie auch der Exklusion geht es um die allgemeine Zugänglichkeit gesellschaftlicher Güter. Carolin Tillmann thematisiert nicht nur das Für, sondern auch das Wider der Inklusion aus der Perspektive der Disability Studies, und zwar in Bezug auf Minderheiten, die nicht inkludiert sein möchten, die Nutzung des Begriffs im Sinne von Political Correctness sowie die neoliberale Vereinnahmung des Inklusionskonzeptes. Kritisch merkt die Autorin an, dass trotz aller Lippenbekenntnisse zur Inklusion immer wieder gesellschaftliche Entwicklungen beobachtbar sind, in denen Exklusion befördert wird. Vor diesem Hintergrund sei nicht selten feststellbar, so die Autorin, dass nicht die Behinderung als soziale Situation verschwinden solle, sondern die Beeinträchtigung selbst.
Diskussion
Das Handbuch gibt einen Einblick in die disziplinäre Vielfalt der Disability Studies. In der Einführung zum Band betonen Anne Waldschmidt und Sarah Karim, dass nicht alle möglichen Disziplinen im Band Berücksichtigung finden konnten. Bemerkenswert ist aber, dass es der Herausgeberin gelungen ist, eine große Vielfalt von Disziplinen mit ihrem Blick auf die Disability Studies zusammenzuführen.
Hervorzuheben sind die fundierten grundlagenbezogenen Beiträge wie auch die Darstellungen zu den intersektionalen Perspektiven und den Kontroversen in den Disability Studies.
Auch in Bezug auf das genutzte Vokabular wie auch das Grundverständnis von Disability Studies gibt es eine hohe Übereinstimmung zwischen den Einzelbeiträgen. Aber nicht nur dies! Die Beiträge weisen eine klare einheitliche Darstellungsstruktur auf, nicht nur in formaler, sondern auch in themenbezogener Hinsicht (z.B. in Bezug auf die Darstellung des Forschungsstandes). Hervorragend ist die Breite der in den Beiträgen genutzten nationalen wie internationalen Literatur sowie die Veranschaulichung durch Praxisbeispiele. Hoffentlich wirkt die nächste Anmerkung nicht zu schulmeisterlich. Sie resultiert aus Erfahrungen mit anderen Rezensionen. Was mir als Rezensent sehr positiv aufgefallen ist, ist die hervorragende redaktionelle Bearbeitung der Beiträge.
Aber nichts ist so herausragend, dass nicht doch noch Restfragen bleiben. Was unter Interdisziplinarität zu verstehen ist, bleibt mir unklar. So wäre es günstig gewesen, dies spätestens zu Beginn des zweiten Teils zu klären. Immerhin ist dieser ja mit „Interdisziplinarität“ überschrieben. In den Einzelbeiträgen ist auch von Multidisziplinarität und z.T. Transdisziplinarität zu lesen, ohne dass mir deutlich geworden ist, was genau diese Ausdrücke meinen. Dies hebe ich hervor, weil in den Einzelbeiträgen an anderen Stellen sehr präzise definiert wird (z.B. die Differenzbenennung von Modell und Theorie).
So hätte das Handbuch schlussendlich auch noch mehr an Präzision gewinnen können, wenn Vergleich und Vergleichen, nicht zuletzt in methodischer Hinsicht, genauer in den Blick genommen worden wären, zumal es in vielen Beiträgen um eben diesen Vorgang geht, z.B. in Gestalt der international vergleichenden Forschung.
Letztlich mindern die beiden Hinweise zum Schluss aber kaum die vorzügliche Qualität des Handbuches. Sie sind als Anregungen für eine zweite Auflage gedacht.
Fazit
Das Handbuch adressiert eine vielfältige Leserschaft, nämlich all jene, die sich „für die Lebenssituation behinderter Menschen interessieren oder die mehrdimensionale und widersprüchliche Differenzkategorie Behinderung verstehen und sich für Inklusion, Partizipation und Gleichstellung engagieren wollen“ (S. 10 f.). Diesen Anspruch löst das Handbuch uneingeschränkt ein. Insbesondere wendet es sich an Studierende unterschiedlicher Fachrichtungen, an Wissenschaftler*innen, Praktiker*innen und Politiker*innen. Auch diesen Zielgruppen vermittelt das Handbuch vielfältige Anregungen.
Rezension von
Prof. Dr. Hans Günther Homfeldt
Prof. em. an der Universität Trier, Fach Sozialpädagogik/ Sozialarbeit
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Es gibt 56 Rezensionen von Hans Günther Homfeldt.
Zitiervorschlag
Hans Günther Homfeldt. Rezension vom 06.05.2022 zu:
Anne Waldschmidt (Hrsg.): Handbuch Disability Studies. Springer VS
(Wiesbaden) 2022.
ISBN 978-3-531-17537-9.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/24110.php, Datum des Zugriffs 12.09.2024.
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