Nadine Ochmann: Gesundheit hinter Gittern
Rezensiert von Prof. Dr. phil. Sigrid Haunberger, 08.06.2018

Nadine Ochmann: Gesundheit hinter Gittern. Gesundheitsförderung und -versorgung aus Sicht von inhaftierten Frauen. Springer VS (Wiesbaden) 2018. 259 Seiten. ISBN 978-3-658-20776-2. D: 44,99 EUR, A: 46,25 EUR, CH: 46,50 sFr.
Autorin und Entstehungshintergrund
Beim vorliegenden Buch handelt es sich um die leicht veränderte Dissertationsschrift der Autorin, die vom Promotionsausschuss Dr. Public Health der Universität Bremen angenommen wurde. Das Buch ist in der Reihe „Sozialwissenschaftliche Gesundheitsforschung“ erschienen, die sich zum Ziel gesetzt hat, den staatlichen und sozialen, den kulturellen und gemeinschaftlichen sowie den individuellen und biographischen Umgang mit Gesundheit und Krankheit zu untersuchen. Zum Zeitpunkt der Rezension ist die Autorin Nadine Ochmann als wissenschaftliche Angestellte an der Universität Bremen im Institut für Public Health und Pflegeforschung in der Abteilung 6 „Gesundheit und Gesellschaft“ tätig. Entstehungshintergrund der Dissertation sind empirische Hinweise darauf, dass weibliche Gefangene unter den intramuralen Gesundheitsbedingungen in besonderem Masse leiden und eine besonders vulnerable Gruppe darstellen. Weiterhin können über den gesundheitlichen Status von Inhaftierten kaum flächendeckende Aussagen getroffen werden (S. 2-3). Schließlich existieren gemäß Ochmann kaum (qualitative) Forschungsprojekte, die die soziale, psychische und physische Gesundheit von inhaftierten Frauen im Fokus haben.
Aufbau
Die Arbeit umfasst inklusive dem Literaturverzeichnis und dem Anhang 259 Seiten und gliedert sich in sieben aufeinander aufbauende Kapitel.
- Nach der Einleitung (1) wird in Kapitel 2 der Forschungsstand zur intramuralen Gesundheit und gesundheitlichen Versorgung dargestellt.
- An den Forschungsstand knüpft Kapitel 3 an, indem das qualitative Forschungsprojekt, das die soziale, psychische und physische Gesundheit von inhaftierten Frauen aus ihrer subjektiven Perspektive erforscht, vorgestellt wird.
- In den beiden folgenden Kapiteln werden die Interviews ausgewertet, wobei in Kapitel 4 die Stichprobe ausführlich beschrieben wird und in Kapitel 5 die mittels strukturierender Inhaltsanalyse nach Kuckartz und Mayring gefundenen Kategorien ausgewertet werden.
- In Kapitel 6 werden die Ergebnisse zusammengefasst und diskutiert, in Kapitel 7 zieht die Autorin ein Fazit und stellt Handlungsempfehlungen für gesundheitsförderliche Gefängnisse auf.
Die Deutsche Nationalbibliothek bietet Einblick in das vollständige Inhaltsverzeichnis.
Inhalt
In Kapitel 2 werden zunächst historisch-soziologische Erkenntnisse zu Gefängnissen referiert. Insbesondere wird die gesundheitliche Lage von Inhaftierten in dieser besonderen Lebenswelt analysiert. Weiterhin wird die für die gesundheitliche Lage der Inhaftierten bedeutsame intramurale gesundheitliche Versorgung dargestellt und vor allem die Gefängnismedizin diskutiert. Zuletzt wird das Konzept Healthy Prisons beleuchtet. Ochmann stützt sich in ihrer historisch-soziologischen Betrachtung über Gefängnisse hauptsächlich auf die Arbeiten von Goffman und Harbordt, die auf die eigene Welt der Insassen und des Personals sowie auf eine besondere Subkultur der Gefangenen hinweisen (S. 17). Als gesundheitliche Hauptprobleme in deutschen Gefängnissen werden Suchterkrankungen, Infektionskrankheiten, psychische Erkrankungen und Selbstschädigung identifiziert (S. 18).
In einem weiteren Unterkapitel werden die (soziodemographischen) Merkmale von weiblichen Inhaftierten dargestellt (S. 26-35), dies schließt die Anzahl Strafgefangener, die Deliktstruktur, die Vollzugsform, die Inhaftierungsdauer, die Hafterfahrung sowie die Staatsangehörigkeit, das Alter, den Familienstand und das Bestehen einer Mutterschaft mit ein.
Soll die gesundheitliche Lage von weiblichen Inhaftierten charakterisiert werden, kommt erschwerend hinzu, dass in deutschen Gefängnissen keine systematische, einheitliche oder flächendeckende Gesundheitsberichterstattung existiert (S. 35). Für weibliche Inhaftierte gilt, dass sie höhere Prävalenzen von psychischen Erkrankungen gegenüber der Allgemeinbevölkerung als auch gegenüber männlichen Inhaftierten zeigen, wie auch bezüglich der Quantität als auch der Schwere physischer, psychischer und sexueller Gewalterfahrungen höhere Prävalenzen aufweisen (S. 37). In Bezug auf die gesundheitliche Lage von inhaftierten Frauen fasst die Autorin zusammen, dass die meisten inhaftierten Frauen komplexe gesundheitliche Vorbelastungen zeigen und die spezifischen Bedürfnisse von inhaftierten Frauen häufig aufgrund ihrer geringen Anzahl im Gefängnis unberücksichtigt bleiben (S. 48-49).
Erschwerend kommt hinzu, dass die gesetzlichen Regelungen zur Gesundheitsfürsorge in Deutschland heterogen in den Landesgesetzen geregelt wurde (S. 53-67) und internationale Empfehlungen existieren (z.B. European Prison Rules (EPR), Standard Minimum Rules for the Treatment of Prisoners, Mindestgrundsätze der Vereinten Nationen für die Behandlung der Gefangenen (Nelson Mandela Regeln)), die jedoch keinen rechtlich bindenden Charakter haben (S. 67-72). Ochmann resümiert, dass es in Deutschland und den meisten europäischen Ländern von der Gesundheitsfürsorge zur Gesundheitsförderung in Haft noch ein weiter Weg ist (S. 82).
In Kapitel 3 folgt der eigenständige empirische Teil der Arbeit der Autorin. Mittels explorativen qualitativen Interviews (problemzentrierte Interviews mit Leitfaden, dieser wird auf S. 87 gezeigt) werden 22 inhaftierte Frauen, die jeweils in eigenständigen Frauengefängnissen untergebracht sind, zu ihrem subjektiven Verständnis von Gesundheit und zu ihren Erfahrungen mit der Gesundheitsversorgung und der Gefängnismedizin interviewt. Ochmann wählte die JVA für Frauen in Vechta und die JVA für Frauen in Berlin/Lichtenberg aus, wobei in den Auswertungen nicht zwischen den Gefängnissen unterschieden wird. Die Interviewteilnehmerinnen wurden über die Vollzugsbediensteten und Informations-Aushänge in deutscher Sprache akquiriert. Alle Interviews wurden in verschiedenen Räumen innerhalb der Gefängnisse durchgeführt und dauerten im Durchschnitt 61 Minuten, wobei das kürzeste Interview 20 Minuten und das längste Interview 120 Minuten beanspruchte.
Das Forschungsvorhaben sollte gemäß Ochmann die folgenden Fragen beantworten (S. 84):
- „Welches Gesundheitsverständnis und welche gesundheitlichen Bedürfnisse haben inhaftierte Frauen?
- Wie erhalten bzw. fördern inhaftierte Frauen im Gefängnis ihre Gesundheit?
- Welche Rahmenbedingungen erleben sie als gesundheitsförderlich?
- Wo liegen die Grenzen der intramuralen Gesundheitsförderung?
- Welche Erfahrungen haben inhaftierte Frauen mit der intramuralen Gesundheitsversorgung?
- Wie können die intramurale Gesundheitsförderung und -versorgung in Haft verbessert werden?“
Die Interviews wurden anonymisiert, transkribiert und nach der inhaltlich strukturierenden Inhaltsanalyse nach Kuckartz (2012) und Mayring (2010) ausgewertet. Im anschließenden Kapitel 4 (S. 95-99) wird die Stichprobe beschrieben. Die Merkmale, die die Stichprobe der Frauen charakterisieren, wurden mittels eines kurzen standardisierten Fragebogens nach den Interviews erhoben. Die bisherige Inhaftierungsdauer der Frauen reicht von wenigen Wochen bis zu mehreren Jahren; für die meisten Frauen ist die aktuelle Inhaftierung nicht die erste; die meisten Frauen mit vorheriger Hafterfahrung weisen auch Drogenerfahrungen auf. Das Alter der Frauen liegt zum Zeitpunkt der Interviews bei durchschnittlich ca. 38 Jahren, die jüngste Frau ist 26 Jahre alt, die älteste Frau 56 Jahre alt; bis auf eine Frau besitzen alle die deutsche Staatsangehörigkeit; etwa die Hälfte der Frauen führen eine Beziehung und ebenfalls etwas über die Hälfe der Frauen sind Mütter; die Mehrheit der Frauen verfügt über einen Schulabschluss. Um die Stichprobe der Untersuchung einordnen zu können, vergleicht Ochmann diese mit Daten des statistischen Bundesamtes und kommt zum Ergebnis, dass ihre Stichprobe hinsichtlich Inhaftierungsdauer, Hafterfahrungen, Altersstruktur, Familienstand und Haft- und Drogenerfahrung der Grundgesamtheit aller inhaftierten Frauen ähnlich ist. Lediglich hinsichtlich der Staatsangehörigkeit wie auch des Bildungsstandes zeigen sich Abweichungen, die die Autorin auf den Zugang zu den Interviewpartnerinnen zurückführt (S. 98).
In Kapitel 5 werden die Ergebnisse aus den Interviews dargestellt. Gemäß Ochmann besonders auffällig war, dass viele Frauen in den Interviews von gesundheitsschädigenden Verhaltensweisen erzählt haben, obwohl sie den Fokus auf gesundheitsförderliches Verhalten im Sinne von Antonovsky und entsprechenden salutogenetischen Ressourcen der Gesunderhaltung fragte (S. 101). Im Unterkapitel, welches die unterschiedlichen Gesundheitsvorstellungen und gesundheitlichen Bedürfnisse der Frauen beschreibt (S. 101-140) wird die Vulnerabilität der inhaftierten Frauen (insbesondere psychische Erkrankungen) deutlich spürbar wie auch die Ambivalenzen mit dem eigenen Drogenkonsum. Zudem zeigen sich eine große Ohnmacht und Hilflosigkeit gegenüber dem Vollzug sowie negative Erfahrungen mit der Gefängnismedizin, resümiert die Autorin.
Für die Gefängnismedizin kann laut Ochmann festgehalten werden, dass die Anstaltsärztin den größten Einfluss auf die medizinische Versorgung hat und den Zugang zu externen Fachärztinnen und -ärzten ermöglichen oder verhindern kann. Die Anstaltsärztin wird von den inhaftierten Frauen als zum Anstaltspersonal zugehörig wahrgenommen, es wird teilweise beanstandet, dass die Frauen von der Anstaltsärztin mehr als Kriminelle denn als Patientinnen gesehen würden (S. 190-191).
Ebenso schätzen die inhaftierten Frauen die Veränderungsmöglichkeiten im Gefängnis überwiegend negativ ein; sie sehen kaum Möglichkeiten selbst Veränderungen umzusetzen und erleben sich als machtlos, fasst Ochmann zusammen (S. 202).
In Kapitel 6 diskutiert die Autorin die Ergebnisse aus den Bereichen Gesundheitsverständnis und gesundheitliche Bedürfnisse der Frauen, die intramurale Gesundheitsversorgung sowie Befunde zur Gefängnismedizin und verknüpft diese mit Befunden anderer Forscherinnen und Forscher (S. 203-231). Obwohl ihre Ergebnisse heterogen ausfallen und eine intramurale Gesundheitsförderung im Sinne von Healthy Prisons flächendeckend in Deutschland nicht verwirklicht wurde, zieht die Autorin den Schluss, dass es auch viele Bereiche gibt, in denen der Vollzug Gesundheitsförderung ermöglicht und umsetzt, z.B. indem Obst und Gemüse bereitgestellt werden, ein Fitnessraum genutzt werden kann sowie Substitutionsbehandlungen und psychosoziale Angebote existieren.
Aufbauend auf ihren empirischen Erkenntnissen leitet Ochmann im abschließenden Kapitel 7 (S. 233-237) konkrete Handlungsempfehlungen ab. Sie bescheinigt den interviewten Frauen viele Ideen und ein großes Interesse daran, Gefängnisse gesundheitsförderlicher zu gestalten und empfiehlt, die Frauen in diese Planungen unbedingt miteinzubeziehen (S. 233). Die zwölf formulierten Handlungsempfehlungen reichen von konkreten gesundheitsförderlichen Rahmenbedingungen über umfangreichere Informationen über gesundheitsfördernde Angebote in den Gefängnissen bis hin zu gesundheitsfördernden Aufklärungsfilmen, die in einem Gefängnis-internen Fernsehkanal gesendet werden könnten.
Diskussion
Anstoß der vorliegenden Dissertationsschrift der Autorin war, dass die gesundheitliche Situation von weiblichen Inhaftierten deutlich geringer untersucht wurde, als die von männlichen Gefangenen. Der gesundheitlichen Situation von Frauen nachzugehen ist umso wichtiger, da Frauen im Strafvollzug eine leicht zu vergessende Minderheit darstellen und in vielfältiger Hinsicht eine besonders vulnerable Zielgruppe sind. In der qualitativen Studie mit 22 inhaftierten Frauen aus 2 verschiedenen Haftanstalten in Deutschland wurden Erkenntnisse zur intramuralen Gesundheit und gesundheitlichen Versorgung, dem Gesundheitsverhalten und gesundheitlichen Bedürfnissen sowie dem Stand der Gefängnismedizin generiert. Besonders interessant sind die von Ochmann auf der Basis ihrer empirischen Erkenntnisse entwickelten Handlungsempfehlungen, weil einige von diesen – ohne große Kosten und Einbußen der Sicherheit der Haftanstalt zu verursachen – zum Wohl der inhaftierten Frauen (und Männer) umgesetzt werden könnten.
Fazit
Dem von der Autorin selbst gezogenen Fazit, „dass es gleichermaßen wichtig wie spannend (ist), sich mit dem Themenfeld Gesundheits(-förderung) von Frauen in Haft zu beschäftigen“ (S. 237) ist uneingeschränkt zuzustimmen. Das Buch ist lesenswert für Lehrende, Forschende und Studierende aus den Gesundheitswissenschaften und der Sozialen Arbeit, kann aber auch für Beschäftigte im Strafvollzug, insbesondere Ärztinnen und Ärzte sowie Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, als Grundlage dienen, wenn eine gesundheitsförderlichere Gestaltung von Gefängnissen angestrebt wird.
Rezension von
Prof. Dr. phil. Sigrid Haunberger
Dozentin und Projektleiterin Institut für Sozialmanagement, Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW)
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