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Katharina Jacke: Widersprüche des Medizinischen

Rezensiert von Prof. Dr. Heinz-Jürgen Voß, 07.03.2018

Cover Katharina Jacke: Widersprüche des Medizinischen ISBN 978-3-8379-2628-6

Katharina Jacke: Widersprüche des Medizinischen. Eine wissenssoziologische Studie zu Konzepten der "Transsexualität". Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG (Gießen) 2016. 391 Seiten. ISBN 978-3-8379-2628-6. D: 36,90 EUR, A: 38,00 EUR.

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Thema

Katharina Jacke befasst sich im vorliegenden Band mit den sich ändernden medizinischen Argumentationsmustern in Bezug auf Transsexualität. Dabei widmet sie sich den Betrachtungen seit den 1950er Jahren und fokussiert auf aktuelle Entwicklungen.

Autorin und Entstehungshintergrund

Der Band „Widersprüche des Medizinischen“ ist zugleich die Dissertationsschrift von Katharina Jacke, die mittlerweile als wissenschaftliche Referentin bei der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe arbeitet.

Die Publikation wurde von der Ernst-Reuter-Gesellschaft und der Hannchen-Mehrzweck-Stiftung ermöglicht.

Aufbau

Der Aufbau des Bandes folgt dem einer theoriebasierten Dissertation. Relativ kleinschrittig werden zunächst die theoretischen Grundlagen erläutert und schließlich einzelne Schwerpunkte fokussiert. Nach der Einleitung (0.) weist die Veröffentlichung folgende Hauptgliederungspunkte auf:

  1. ›Transsexualität‹ als problematische Kategorie des Wissens: Genealogie und Horizont
  2. Diversifikation der Kataloge als Strategie der Stabilisierung
  3. Zeitgenössische Behandlungspraktiken als eigentliche normative Kraft der Theoriebildung
  4. Schlussfolgerungen: Die Aporie im Spiegel vielfältiger Binarismen
  5. Schluss

Den Band beschließen ein Epilog, ein Abkürzungsverzeichnis, ein Glossar und ein Literaturverzeichnis.

Inhalt und Würdigung

Katharina Jacke untersucht in ihrer Arbeit, wie medizinisches Wissen über „Transsexualität“ entsteht. Dabei schließt sie an vorangegangene Arbeiten an, u.a. „Die soziale Konstruktion der Transsexualität“ von Stefan Hirschauer (1993) und „Das Paradoxe Geschlecht: Transsexualität im Spannungsfeld von Körper, Leib und Gefühl“ von Gesa Lindemann (1993). Jacke baut auf der zentralen – und seit Michel Foucault virulent verhandelten – Einsicht auf, dass Medizin als in gesellschaftliche Herrschaftsmechanismen eingebunden und als politische Disziplin zu betrachten ist: „Ob rationalistisches Techno-Modell, Mechanisierung des Menschen oder Biokybernetik – medizinische Prozesse sind nicht ohne die sozialpolitischen Rahmenbedingungen zu denken, in die sie eingebettet sind und auf die sie rückwirken. Die Medizin produziert das alltagsweltliche, wissenschaftliche und subjektive Verständnis vom Körper und seinen Funktionsweisen, sie greift bestehendes Wissen über den Körper auf und transformiert es.“ (S. 18)

Vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Einbindung der Medizin wolle sich die Autorin in Bezug auf Transsexualität mit der Frage befassen, „auf welche Weise und mit welchen Konsequenzen sich das Krankheitsphänomen, die einzelnen medizinischen Fachdisziplinen selbst, vor allem aber die Kategorien Krankheit und Gesundheit, Männlichkeit und Weiblichkeit verändern“ (S. 21). Nach dem Problemaufriss stellt Jacke in den weiteren Teilen der Einleitung einige theoretische Bezugspunkte vor, die einmal den wissenssoziologischen Zugang über Ludwik Fleck transparent machen und sich anschließend über allgemeine Betrachtungen zum „Nature-Nurture-Problem“ der „Transsexualitätsforschung“ zuwenden. Schließlich wird die Literaturauswahl für die diskursanalytisch inspirierte Arbeit erläutert.

Im sich anschließenden ersten Kapitel stellt Jacke die medizinischen Verhandlungen über Transsexualität seit den 1950er Jahren vor. Dabei macht sie Veränderungen aus – weg von somatisch orientierten Disziplinen der Medizin, hin zu einer Psychiatrisierung. Um Transsexualität im Kontext medizinischen Geschlechterwissens fassen zu können, betrachtet die Autorin auch die allgemeinen medizinischen Theorien zu Geschlecht. John Money, Joan und John Hampson nehmen in den Darstellungen einen zentralen Platz ein: „John Money erfand als selbsternannter Pionier des Gender-Begriffs […] die ‚gender role‘ als eine psychosoziale Geschlechtsidentität, die nicht in kausaler Weise an das Körpergeschlecht geknüpft ist“ (S. 50). Abgesehen von der personalen Engführung auf Money, die so nicht aufrecht zu erhalten sein wird – wir erinnern uns an die um 1800 und um 1900 intensiv geführten Auseinandersetzungen um die Emanzipation der Frauen, die eben gegen eine biologische Bestimmung der „Geschlechterrolle“ stritten –, macht die Autorin hier korrekt auf die Bedeutung der Medizin als „Normierungswissenschaft“ aufmerksam. Entsprechend schließen die Darstellungen nahtlos an die theoretische Grundlegung der Einleitung an.

Nachdem Jacke auch Kritiken an diesem medizinischen Konzept vorgebracht hat, konstatiert sie für „[d]ie zeitgenössische Sexualforschung“, dass dort dieses medizinische Konzept weiterhin vertreten werde: „Der Grundgedanke einer Differenzierung von ‚gender role‘, ‚gender identity‘ und ‚sexual identity/orientation‘, deren Summe als psychosexueller Geschlechtsausdruck gewertet wird, gilt der medizinischen ‚Inter- und Transsexuellenforschung‘ heute als selbstverständlich“ (S. 55), führt die Autorin unter Bezug auf Hertha Richter-Appelt an. „Richter-Appelt folgt mustergültig den Prinzipien, die Money in den 1950er Jahren zu seiner Idee einer ‚freien Geschlechtswahl‘ geführt hatten, allerdings erweitert sie diese um die Kategorien des ‚Kulturellen‘ und des ‚variablen Konstrukts‘ […]. Die ‚gender role‘ wird Richter-Appelt folgend lediglich ‚herangetragen‘ […], nicht mehr eingeprägt. Die ‚gender identity‘ hingegen ist nach wie vor zwischen Selbst und Sozialem, zwischen ‚Innen‘ und ‚Außen‘ lokalisiert; sie orientiert sich auch weiterhin an Körperformen und Einschreibungsideen.“ (S. 56) Die Beschreibung dieser starren Kontinuität für „die“ zeitgenössische Sexualforschung würde der Intention der Arbeit von Katharina Jacke zuwiderlaufen, da sie ja gerade Veränderungen untersuchen möchte. Entsprechend setzt sie im weiteren Verlauf der Arbeit weitere Stimmen aus der Sexualforschung hinzu, die einen differenzierteren Blick eröffnen, etwa Martin Dannecker, Milton Diamond und Timo O. Nieder (der auch gemeinsam mit Hertha Richter-Appelt Publikationen verfasst hat).

Zum Abschluss des 1. Kapitels befasst sich Jacke ausführlicher mit den aktuell verhandelten biologischen Theorien der Geschlechtsdetermination und -differenzierung, um sich im Kapitel 2 mit der Veränderung der medizinischen Diagnose-Klassifikationen im Hinblick auf Geschlechtlichkeit und insbesondere auf Transsexualität auseinanderzusetzen.

Kapitel 3 liefert dann eine Zusammenschau der medizinischen Eingriffe, um im Kontext Transsexualität „Weiblichkeit“ und „Männlichkeit“ zu konstruieren. Auch hier wird der gesellschaftliche Kontext deutlich, in dem die jeweiligen operativen, hormonellen, logopädischen, psychologischen etc. Behandlungen stattfinden. In diesem Kontext kommen auch Fragen zu Gehirn und biologische Zuschreibungen an Regionen des Gehirns, sich „typisch weiblich“ oder „typisch männlich“ auszuprägen, zur Sprache; mit Betrachtungen zu „Biologismus“ (S. 295ff) beschließt die Autorin das Kapitel und thematisiert dabei einerseits, wie in Teilen der Trans*-Community teilweise positive Bezüge zu biologischen Erklärungen von Transsexualität vorgenommen würden und wie solche biologisch-deterministisch orientierten Betrachtungen auch in der aktuellen Forschung vertreten seien, wenn auch mit Argumenten zur möglichen und wünschenswerten Selbstbestimmung Betroffener angereichert. Unter anderem unter Rückgriff auf Magnus Hirschfeld stellt Katharina Jacke ganz zu Recht fest, dass „die erneute Hinwendung zum Primat der Biologie, eben die Naturalisierung der ‚Transsexualität‘, gar nicht mehr neu“ ist (S. 302).

Die den Band beschließenden Betrachtungen wenden sich der Bedeutung von binären Kategorien im Kontext der Medizin zu und binden den medizinischen Diskurs noch einmal in die Gesellschaft ein, konkret in die aktuellen neoliberalen Macht- und Herrschaftsverhältnisse (vgl. S. 347ff).

Fazit

Das Buch „Widersprüche des Medizinischen“ wendet sich den Weisen der Generierung von Wissen in der Medizin und einigen ihrer Disziplinen im Hinblick auf Transsexualität zu. Die Autorin zeigt dabei einige Veränderungen auf. Allerdings fällt es mitunter schwer, tatsächlich nachzuvollziehen, ob es sich um Veränderungen handelt. Das ist etwa der Fall, wenn biologisch-deterministische Zugänge abschließend als „gar nicht mehr neu“ (S. 302) ausgewiesen und damit um Jahrzehnte zurückverlegt werden, in eine Zeit, in der die Autorin aber zentral das Sozialisations-Konzept der ‚gender role‘ beschreibt und mit John Money verbindet. Die Verwirrung wird mitunter dadurch verursacht, wenn Aussagen an einzelnen Punkten sehr absolut gesetzt werden – etwa für „die Sexualforschung“ an einer Stelle das eine absolut ausgesagt wird, kurz darauf aber widersprechenden Stimmen aus der Sexualforschung Raum gegeben wird. Bei der Fokussierung auf zeitliche Veränderung wäre es für die Darstellung der Forschungsergebnisse günstig gewesen, jeweils abgegrenzte zeitliche Kontexte in einzelnen Kapiteln vorzustellen – mit einem Gesamtbild von Gesellschaft, Stand der allgemeinen Perspektiven der und auf die Medizin sowie die spezifischen medizinischen Betrachtungen zu Transsexualität.

Rezension von
Prof. Dr. Heinz-Jürgen Voß
Professur Sexualwissenschaft und sexuelle Bildung
Hochschule Merseburg
FB Soziale Arbeit. Medien. Kultur
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Es gibt 61 Rezensionen von Heinz-Jürgen Voß.

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Zitiervorschlag
Heinz-Jürgen Voß. Rezension vom 07.03.2018 zu: Katharina Jacke: Widersprüche des Medizinischen. Eine wissenssoziologische Studie zu Konzepten der "Transsexualität". Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG (Gießen) 2016. ISBN 978-3-8379-2628-6. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/24120.php, Datum des Zugriffs 15.10.2024.


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