Brigitte Schumann: Streitschrift Inklusion
Rezensiert von Prof. i.R. Manfred Baberg, 13.05.2019
Brigitte Schumann: Streitschrift Inklusion. Was Sonderpädagogik und Bildungpolitik verschweigen. Debus Pädagogik Verlag (Schwalbach/Ts.) 2018. 112 Seiten. ISBN 978-3-95414-106-7. D: 14,90 EUR, A: 15,40 EUR.
Autorin und Entstehungshintergrund
Die Autorin Brigitte Schumann war 16 Jahre Lehrerin an einem Gymnasium und zehn Jahre Bildungspolitikerin im Landtag von Nordrhein-Westfalen. Sie promovierte mit einer Studie über die Sonderschule für Lernbehinderte als Schonraumfalle und setzt sich als Bildungspolitikerin in zahlreichen Artikeln für die Umsetzung von Inklusion ein.
Adressat*innen
Adressat*innen sind alle an Bildungspolitik interessierten Lehrer*innen, Wissenschaftler*innen, Vertreter*innen von Gewerkschaften und Fachverbänden sowie Politiker*innen.
Aufbau und Inhalte
1. Warum diese Streitschrift?
In acht Kapiteln stellt die Verfasserin dar, wie Bildungspolitik und Sonderpädagogik in Deutschland das in der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) verankerte Recht auf inklusive Bildung verfälschen und diskreditieren. Geschichtsbelastete sonderpädagogische Kontinuitäten werden ebenso fortgeschrieben wie aussondernde Strukturen des deutschen Bildungssystems. „Armut, Behinderung, Migration, das sind die Grundkategorien, entlang derer sich soziale Ungleichheit im deutschen Bildungssystem abzeichnet und stabilisiert“ (7) [1].
Mit ihrer Streitschrift möchte Schumann erreichen, dass das Recht auf inklusive Bildung endlich verwirklicht wird.
2. Allianz des Verschweigens
Nach Schumann haben sowohl die Kultusministerkonferenz (KMK) als auch der Verband Sonderpädagogik (vds) nur wenig unternommen, um die Verstrickung der Hilfsschulen in das Sterilisierungsprogramm (Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses) und das Euthanasieprogramms in der Zeit des Nationalsozialismus aufzuklären. Sie führt dies darauf zurück, dass es dem 1998 gegründeten Hilfsschulverband in der NS-Zeit gelungen ist, die schon früher geforderte Loslösung der Hilfsschulen (für gemäß der NS-Ideologie noch „brauchbare“ Schüler*innen) von der Volksschule durchzusetzen, an der nach dem 2. Weltkrieg festgehalten wurde. Dies hat dazu geführt, dass Kinder mit Lern- und Verhaltensstörungen in Deutschland im Unterschied zu allen anderen westlichen Industrieländern als „Behinderte“ klassifiziert wurden – eine Fehlentwicklung, zu deren Aufhebung auch eine Aufarbeitung der Geschichte der Sonderpädagogik hätte beitragen können.
3. Die Allianz für das Sonderschulsystem
Die Allianz für das Sonderschulsystem setzte sich in den Jahrzehnten nach Kriegsende fort. Peter Wachtel, Schriftleiter der Verbandszeitschrift des vds, fasst dies wie folgt zusammen: „In den zurückliegenden fünf Jahrzehnten haben die Kultusministerkonferenz und der Verband Deutscher Sonderschulen – oftmals im Zusammenwirken und in Personalunion – auf den Aufbau, den Ausbau und den Umbau des Systems der sonderpädagogischen Hilfen eingewirkt. Die Konzepte und Modelle der KMK und des Verbandes waren oft identisch oder stimmten hoch überein“ (29). Zu diesen Konzepten zählt auch, dass „Hilfsbedürftige“ von der Sonderpädagogik für die Gesellschaft brauchbar gemacht werden müssen. „Sie weisen einen Mangel an Begabung und Eignung auf, in den Volksschulen werden sie den normal begabten Mitschüler*innen gefährlich und entwickeln sich zu schwer Erziehbaren und Kriminellen. Sie sind in ihrer Bildbarkeit eingeschränkt, aber die Hilfsschule kann sie zu einer ‚einigermaßen selbstständigen Lebensführung und zu einem ausreichenden Broterwerb‘ befähigen“,… (31) [2].
Seit Ende der sechziger Jahre gibt es Gegenbewegungen und alternative Konzepte. Zu den Gegenbewegungen zählt, dass sich nach dem gesellschaftlichen Umbruch von 1968 Elterninitiativen gegründet haben, die ihre Kinder mit Behinderungen nicht mehr verstecken wollten und selbstbestimmt auf die Normalisierung der Lebensverhältnisse für ihre Kinder hingewirkt haben. Sie haben sich zur Bundesarbeitsgemeinschaft „Gemeinsam leben – gemeinsam lernen“ zusammengeschlossen und durch politischen Druck integrierte Schulversuche durchgesetzt. Sie konnten dabei auf die Abschaffung der Sonderschulen in Italien verweisen, die der Vorsitzende des sonderpädagogischen Verbandes noch 1981 als „italienische Seuche“ diffamierte (37).
Zu den veränderten Konzepten zählte das unter maßgeblicher Beteiligung von Jakob Muth entwickelte Gutachten des Deutschen Bildungsrates, in welchem 1973 die gemeinsame Unterrichtung für Kinder mit Behinderungen höher bewertet wurde als der Sonderschulbesuch. Das „Entlastungsargument“ im Interesse der Nichtbehinderten bezeichnete Muth als Einfluss des faschistischen Erbes. Ein weiteres wichtiges Konzept war die 1994 von der UNESCO Weltkonferenz in Spanien verabschiedete „Erklärung von Salamanca“, die als Leitprinzip festlegt, „ dass Schulen alle Kinder, unabhängig von ihren physischen, intellektuellen, sozialen, emotionalen, sprachlichen oder anderen Fähigkeiten aufnehmen sollen“ (40).
Obwohl diese Konferenz mit deutscher Beteiligung stattfand, hielt die KMK in der Folgezeit unverändert am Erhalt der Sonderschule fest.
4. Die Allianz gegen Inklusion und
5. Die Allianz gegen den UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen in mehreren Akten
Die von der im Jahre 2008 beschlossenen UN-BRK geforderte Inklusion stößt nach wie vor auf massiven Widerstand der KMK, die sich mit rechtlich fragwürdigen Argumenten weigert, die Sonderschulen abzuschaffen. Sie wird dabei vom vds unterstützt, der auch Förderschulen und Förderklassen als Inklusionsformen definiert und den Erhalt eigenständiger sonderpädagogischer Studiengänge fordert.
Eine weitere Maßnahme zur Stabilisierung des Sonderschulsystems ist die Einführung des Elternwahlrechts, obwohl dieses in der UN-BRK gar nicht vorgesehen ist. Dieses Recht wurde von Eltern von Kindern mit Behinderung jahrzehntelang vergeblich eingefordert, jetzt jedoch wird es zur Aufrechterhaltung der Sonderschulen missbraucht, denn es ist nur möglich, wenn die Wahl zwischen einer allgemeinen und einer Sonderschule erhalten bleibt. Faktisch führt es zu einer mangelhaften Ausstattung der inklusiven Schulen, weil für parallele Strukturen keine ausreichenden personellen und sächlichen Mittel bereitgestellt werden. Damit wird das Menschenrecht auf inklusive Bildung ausgehebelt, das kein Sonderrecht für Menschen mit Behinderungen darstellt, sondern für alle Kinder gleichermaßen gilt. Der von den zuständigen Ausschüssen der UN mehrfach geforderten Einhaltung der UN-BRK kann das deutsche Schulsystem nur gerecht werden, wenn es sowohl das segregierende Sonderschulsystem als auch das selektive und gegliederte allgemeine Schulsystem abschafft und stattdessen eine Lernkultur einführt, die Schüler*innen in ihrer Unterschiedlichkeit akzeptiert und keine Anpassung an Normalitätserwartungen fordert. Hierzu ist die KMK aber nicht bereit, weswegen sie sich auch bemühte, kritische Kommentare der UN Kommissionen tot zu schweigen.
6. Wie sich Diskriminierung, Ungleichheit und Segregation unter dem Vorzeichen von Inklusion entwickeln
Trotz des Anstiegs von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf in allgemeinen Schulen ist gleichzeitig ein Anstieg der Anzahl von Schüler*innen mit Behinderungen in Sonderschulen festzustellen. Ursache ist eine erhebliche Zunahme sonderpädagogischer Überprüfung von Kindern, um auf diese Weise zusätzliche Fördermittel zu erhalten. Problematisch ist dies vor allem deswegen, weil die damit verbundene Etikettierung und Kategorisierung diskriminierend ist und dem Ziel der Inklusion widerspricht.
Zentrales Problem des deutschen Schulsystems, das sowohl die Inklusion von Kindern mit Behinderungen als auch die Aufhebung von Benachteiligung aufgrund sozialer Herkunft behindert, ist die Gliederung in unterschiedliche Zweige in der Sekundarstufe und die damit verbundene Selektion. Obwohl durch zahlreiche Studien nachgewiesen ist, dass leistungsstärkere Schüler*innen durch eine heterogene Zusammensetzung der Klassen nicht benachteiligt werden, wehren sich insbesondere Gymnasien gegen die Aufnahme von solchen Kindern mit Behinderungen, die zieldifferent unterrichtet werden müssten. Hintergrund ist, dass die sozialen Milieus der Ober- und Mittelschicht sich gegen untere soziale Schichten abgrenzen. Mit Eltern aus den oberen sozialen Schichten möchte sich die Politik aber nicht anlegen.
Statistiken weisen nach, dass neben integrierten Schulformen vor allem Hauptschulen Kinder mit besonderem Förderbedarf aufnehmen. Damit nähern sich diese, da sie ohnehin kaum noch freiwillig gewählt werden, den Sonderschulen Lernen an, weil die Unterschiede in der Zusammensetzung der Schülerschaft abnehmen.
Ebenso problematisch für Inklusion ist die sich vor allem in Nordrhein-Westfalen abzeichnende Tendenz, Schüler*innen mit sonderpädagogischen Förderbedarf nicht mehr auf alle Klassen der allgemeinen Schule zu verteilen, sondern spezielle Integrationsklassen zu bilden. Damit wird die Aussonderung dieser Kinder festgeschrieben.
7. Den menschenrechtlichen Blick schärfen – die Weichen für Inklusion stellen!
Wenn man den inklusionsfeindlichen Tendenzen in den Schulen und in der Öffentlichkeit entgegentreten will, muss man die menschenrechtliche Perspektive von Inklusion, das Recht durch gemeinsames Lernen Lernfreude zu entwickeln und den Wunsch der Kinder, in ihrer Unterschiedlichkeit als Mitglied der Lerngemeinschaft geschätzt zu werden, in den Mittelpunkt stellen.
Der Elternverein Mittendrin e.V. macht sich für diese Perspektive stark, indem er Hilfen zur Teilhabe nicht mehr an einzelne Kinder mit Behinderungen bindet, sondern die gesamte Klasse als Lerngemeinschaft unterstützt. Das Miteinander der Kinder steht im Mittelpunkt und die Lehrkraft wird bei Teamarbeit unterstützt.
Notwendig ist weiter, die bisherige getrennte Ausbildung von Lehrer*innen in allgemeiner Pädagogik und Sonderpädagogik aufzuheben. Sonderpädagogische Theorie und Praxis darf nicht in allgemeinbildende Schulen transplantiert werden, weil dadurch subtile Formen der Aussonderung geschaffen werden.
Für Inklusion ist die Abschaffung des selektiven gegliederten Schulsystems ebenso notwendig wie die Aufhebung der traditionellen Aufteilung in pädagogische und sonderpädagogische Aufgaben, weil nur so die gleichberechtigte Teilhabe aller Kinder mit unterschiedlichen Fähigkeiten sowie unterschiedlicher sozialer und kultureller Herkunft möglich ist.
8. Das Wir neu gestalten in einer inklusiven Schule für Alle!
Die zunehmende soziale Ungleichheit und der Anstieg von Armut trotz sinkender Arbeitslosigkeit führen zu einer Spaltung der Gesellschaft, die sich in der Zunahme von „gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“ gegenüber sozial schwachen Gruppen wie Obdachlosen, Langzeitarbeitslosen, zugewanderten Menschen und Behinderten manifestiert, die abgewertet und ausgegrenzt werden, weil sie nicht den Nützlichkeitskriterien des „marktförmigen Extremismus“ entsprechen.
Diese soziale Spaltung der Gesellschaft wird durch das Bildungssystem verschärft, das Kinder nach sozialen Schichten unterschiedlichen Schulformen zuweist. Kinder und Jugendliche aus den oberen sozialen Schichten haben deswegen keine Möglichkeit, Kontakte zu Gleichaltrigen aus „abgehängten“ Milieus aufzunehmen. Wenn die soziale Spaltung der Gesellschaft bekämpft werden soll, ist die inklusive Schule deswegen alternativlos.
Diskussion
Zehn Jahre nach Übernahme der UN-BRK durch den Deutschen Bundestag ist Deutschland – wie Martin Spiewag es in der ZEIT formuliert – „Weltmeister im Ausgrenzen“ geblieben. „Seit zehn Jahren versucht Deutschland weitgehend erfolglos, Förderschüler in die Regelschule zu integrieren. Dabei ist längst klar, wie dies besser gehen könnte“ (61) [3].
Die Gründe hierfür hat Schumann in ihrer Streitschrift präzise dargelegt. Hervorzuheben ist insbesondere das selektive und gegliederte Schulsystem, das im Widerspruch zu Inklusion steht. Wichtig ist aber auch der geschichtliche Aspekt: Während die skandinavischen Länder aus den Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus nach dem 2. Weltkrieg die Konsequenz gezogen haben, Kinder mit Behinderungen in Regelschulen zu integrieren, ist Deutschland den umgekehrten Weg gegangen und hat das Sonderschulwesen weiter ausgebaut und mit den „Lernbehinderten“ eine weitere Gruppe von Behinderten konstruiert, die es in anderen Ländern nicht gibt. Dort werden sie allenfalls als „slow learners“ bezeichnet. Der Begriff „lernbehindert“ ist jedoch im deutschen Schulsystem nicht völlig falsch. Spiewag hat es ironisch auf den Punkt gebracht, wenn er feststellt: „In der Inklusionsdebatte erwies sich das deutsche Schulsystem als ziemlich lernbehindert“ (61).
Fazit
Schumann hat nicht nur eine notwendige Streitschrift verfasst, sondern diese auch zum richtigen Zeitpunkt veröffentlicht, weil die Mitverantwortung des Bildungssystems für die Aufrechterhaltung sozialer Ungleichheit mit all ihren negativen sozialen und ökologischen Konsequenzen nicht mehr geleugnet werden kann. Zehn Jahre nach Verabschiedung der UN-BRK besteht sowohl im Bildungssystem als auch in der Gesellschaft insgesamt dringender Handlungsbedarf zur Änderung der Strukturen.
[1] Vorwort von Theresia Degener
[2] Denkschrift des Verbandes von 1954
[3] Martin Spiewag: Weltmeister im Ausgrenzen. DIE ZEIT Nr. 14 vom 28. 3. 2019, S. 61-62
Rezension von
Prof. i.R. Manfred Baberg
Hochschule Emden/Leer, Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit. Arbeitsgebiete u.a. Behindertenarbeit und Integrationspädagogik in den Studiengängen Soziale Arbeit/Sozialpädagogik und Integrative Frühpädagogik
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Zitiervorschlag
Manfred Baberg. Rezension vom 13.05.2019 zu:
Brigitte Schumann: Streitschrift Inklusion. Was Sonderpädagogik und Bildungpolitik verschweigen. Debus Pädagogik Verlag
(Schwalbach/Ts.) 2018.
ISBN 978-3-95414-106-7.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/24123.php, Datum des Zugriffs 16.09.2024.
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