Werner Thole, Björn Milbradt u.a.: Wissen und Reflexion. Der Alltag in Kindertageseinrichtungen (...)
Rezensiert von Carina Fischer, 20.06.2018

Werner Thole, Björn Milbradt, Sabrina Göbel, Michaela Rißmann: Wissen und Reflexion. Der Alltag in Kindertageseinrichtungen im Blick der Professionellen.
Springer VS
(Wiesbaden) 2016.
186 Seiten.
ISBN 978-3-658-11698-9.
D: 29,99 EUR,
A: 30,83 EUR,
CH: 31,00 sFr.
Kasseler Edition soziale Arbeit, Band 4.
Thema
Das zunehmende öffentliche, politische wie wissenschaftliche Interesse an frühkindlicher Bildung, Erziehung und Betreuung sowie die damit einhergehende Aufmerksamkeit auf die pädagogische Qualität in den bundesdeutschen Kindertageseinrichtungen, rückten ebenfalls Fragen der Professionalisierung der dort tätigen Fachkräfte in den Fokus. Die diesbezüglichen Diskurse und Aspirationen umfassen nicht nur die Akademisierung der frühpädagogischen Arbeitsfelder, die Etablierung von Studiengängen an den Hochschulen und Reformen der fachschulischen Ausbildung, sondern betreffen auch den Sektor der Fort- und Weiterbildung, wie beispielsweise die »Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte (WiFF)« illustriert. Zudem werden seit einigen Jahren vermehrt Studien in der kindheitspädagogischen Professionalisierungsforschung verwirklicht. Nichtsdestotrotz muss für Deutschland konstatiert werden, dass weiterhin ein hoher Bedarf an empirischen Erkenntnissen über Kompetenzen, Wissen und Handeln der Fachkräfte besteht.
Entstehungshintergrund
Das dem Buch »Wissen und Reflexion« zu Grunde liegende Forschungsprojekt »Wissensbasierte Deutungs- und Handlungskompetenzen von pädagogischen MitarbeiterInnen in Kindertageseinrichtungen« leistet einen wichtigen Beitrag zur Schließung bestehender Desiderate. Die von 2011 bis 2014 an der Universität Kassel und der Fachhochschule Erfurt durchgeführte Studie knüpft an Werner Tholes bisherigen Forschungsinteressen im Bereich der Professionalisierung an und macht sich die Identifizierung von Wissen zur Zielsetzung, das die Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen zur „Herstellung, Gestaltung und Modulation unterschiedlicher Alltagssituationen heranziehen“ (S. 156).
Untersuchungsanlage
Die Untersuchung besteht aus zwei Teilprojekten und basiert auf einem multidimensionalen Forschungsdesign von sowohl qualitativen als auch quantitativen Methoden (vgl. Kapitel 7). Der Zugang zu Thematisierungsweisen des eigenen Alltags, die darin eingelagerten Ordnungs- und Orientierungsmuster der Sprachpraxis sowie das herangezogene Wissen der Fachkräfte wurde über 22 Video-Stimulated-Recall-Interviews in zehn Kindertagestätten realisiert. Dabei erfolgte mit Hilfe ethnographischer Videographie zunächst die Dokumentation von pädagogischen Situationen. Diese fungierten schließlich als Stimuli für die Interviews, indem die teilnehmenden Fachkräfte mit sie betreffende Aufnahmesequenzen konfrontiert und mittels offener und erzählgenerierender Fragestellungen zur Kommentierung, Deutung und Reflexion der eigenen pädagogischen Praxis aufgefordert wurden. Die Auswertung fand durch eine sequenzanalytische Rekonstruktion von ausgewählten Passagen des audioaufgezeichneten Datenmaterials statt. Dem Erkenntnisinteresse an Fort- und Weiterbildungsaktivitäten der pädagogischen Fachkräfte in den beteiligten Einrichtungen wurde hingegen durch eine standardisierte Fragebogenerhebung mit 119 gültigen Fragebögen, Audio- resp. Videoaufzeichnungen von zehn Teamgesprächen sowie zwei durchgeführten Gruppendiskussionen nachgegangen. Diese Daten wurden deskriptiv ausgewertet.
Herausgeber_innen und Autor_innen
- Werner Thole, Professor für »Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Soziale Arbeit und außerschulische Bildung« an der Universität Kassel.
- Sabrina Göbel, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsprojekt »Young People’s Transitions out of Residential and Foster Care (TransCare)« der University of Luxembourg.
- Björn Milbradt, Leiter der Fachgruppe »Politische Sozialisation und Demokratieförderung« am Deutschen Jugendinstitut in Halle (Saale).
- Michaela Rißmann, Professorin für »Erziehungswissenschaften, Erziehung und Bildung von Kindern« an der Fachhochschule Erfurt.
Aufbau und Inhalt
Im Hinblick auf den inhaltlichen Aufbau des 187 Seiten umfassenden und in sieben Kapitel gegliederten Werkes ist anzumerken, dass die Reihenfolge der Kapitel partiell unplausibel erscheint.
Zudem liegt die Mutmaßung nahe, dass die Autor_innen des Bandes die Zielsetzung verfolgten, jedes Kapitel für sich alleinstehend verständlich zu machen, was für den/die selektive_n Rezipient_in sicherlich bestimmte Vorteile hat, für den Rest der Leserschaft ergeben sich jedoch hieraus einige Wiederholungen.
Die Deutsche Nationalbibliothek bietet Einblick in das vollständige Inhaltsverzeichnis.
Im einleitenden Kapitel wird ein Überblick über den derzeitigen Stand der kindheitspädagogischen Professionalisierungsforschung gegeben sowie Forschungsdesiderate formuliert, um sich sodann in diesen zu verorten. Ferner werden die Zielsetzungen und zentralen Ergebnisse aus der durchgeführten Studie kurz zusammengefasst.
Ausgehend von der empirischen Schwierigkeit betreffend der domänenspezifischen Wissenskategorisierung sowie der Unterscheidung von Wissen und Nichtwissen am Datenmaterial, mit denen sich Thole et al. im Projektverlauf konfrontiert sahen, wird im zweiten Kapitel ihr Suchprozess hinsichtlich der Möglichkeiten einer Operationalisierung von Wissen skizziert. Dieser führt über die theoretische Auseinandersetzung mit Wissenstermini in der Sozial- und Erziehungswissenschaft zu Überlegungen zur Konzeption einer theoretisch fundierten sowie empirisch gestützten Heuristik für die Wissensforschung in der Pädagogik und endet mit der Beschreibung des eigenen relationalen und praxistheoretischen Wissensbegriffs, der als wissensbasierte Deutungs- und Handlungskompetenzen bestimmt wird und zu verstehen ist als „eine Praxis (…), eine bestimmte Art und Weise, sich zu einem Gegenstand in Beziehung zu setzen. Wissen kann so gedacht werden als eine Relation von Wissendem, Wissen und Gewusstem“ (S. 31).
Durch die Rekonstruktionen der Video-Stimulated-Recall-Interviews kristallisierten sich sowohl Thematisierungsweisen der Kindergartenpraxis heraus (vgl. Kapitel 3) als auch sie ergänzende Ordnungs- und Orientierungsmuster (vgl. Kapitel 4). Erstere sind vier differente „Formen des Sprechens über und des Reflektierens des Alltags“ (S. 83) und spiegeln beispielsweise Aspekte des individuellen Verständnisses der eigenen Berufsrolle, des professionellen Handelns sowie der pädagogischen Zielsetzungen und Aufgaben wider, tangieren aber auch die Kindheitsbilder der Fachkräfte. Letztere sind drei eruierte „Muster in Bezug auf den Umgang mit Unterscheidungen im Sprechen über die Praxis“ (S. 97). Sie divergieren bezüglich der Häufigkeit und Geschlossenheit bzw. Offenheit von Differenzsetzungen sowie deren Reflexion.
Auf das Kernstück der Analyse des Datenmaterials aus den Video-Stimulated-Recall-Interviews wird schließlich im sechsten Kapitel eingegangen – die drei finalen Strukturtypen der Wissensverwendung. Diese beruhen wiederum auf den Thematisierungsweisen sowie Ordnungs- und Orientierungsmustern. Jeder Typus weist sich durch einen anderen Umgang mit Wissen resp. Haltung zum Gegenstand des Wissens aus. Als Ideal von Professionalität wird dabei der wissensbasierte Typus konstatiert. Dieser Typus hebt sich durch professionelle Beurteilungen von pädagogischen Situationen ab, die sowohl die Individualität von Personen und die Kontextabhängigkeit berücksichtigen als auch Perspektivwechsel und -übernahmen beinhalten. Ferner findet ein Rückgriff auf fachliches wie wissenschaftliches Wissen statt, das in der jeweiligen Situationsspezifik als sinnvoll angewendet ausgewiesen werden kann. Nicht zuletzt besteht ein reflexiver Umgang mit dem eigenen Wissen sowie der eigenen Standortgebundenheit. Indessen zeichnet sich der situativ-alltagspraktische Typus damit aus, dass weitgehend fehlende fachliche Wissensinhalte oder professionelle Deutungen durch subjektive, alltagspraktische Beschreibungen und (berufs)alltägliches Wissen kompensiert werden. Infolgedessen ist ebenfalls eine starke Tendenz zur unreflektierten Rezeption von organisationalen Routinen, Logiken und Praxen vorhanden. Der hieraus resultierende Wissensrelativismus widerspricht der konzipierten Wissensrelation von den Autor_innen. Der etikettierende Typus hingegen nimmt in seinen Kommentierungen der Videosequenzen nicht nur sehr selten Bezug auf fachliche Inhalte, sondern lässt sich des Weiteren charakterisieren anhand eines geringen Reflexivitätsgrades, des Rückgriffs auf starre Zuschreibungen, essentialistische Festlegungen, Stereotype, Generalisierungen etc., fehlender Multiperspektivität und seltener Berücksichtigung des situationsspezifischen Kontextes sowie der Individualität des Einzelfalls. Die Trias der Relation von Wissendem, Wissen und Wissensgegenstand ist somit nicht gegeben, weil der Gegenstand, auf den sich das Wissen beziehen sollte, keine wirkliche Beachtung findet. Aufgrund dessen handelt es sich für Thole et al. dabei auch nicht um Wissen.
Im fünften Kapitel erfolgt die Berichterstattung über die Ergebnisse des Teilprojekts zu Motiven und Orientierungen für sowie Realisierung von Teilnahmen an Fort- und Weiterbildungsangeboten. In Übereinstimmung mit anderen Selbsteinschätzungsstudien zu subjektiven Sicherheiten bei der Bewältigung von verschiedenen Aufgabenbereichen, zeigt die Fragebogenerhebung, dass sich die Mitarbeiter_innen zwar gut gerüstet für das pädagogische Kerngeschäft fühlen, jedoch darüberhinausgehende Tätigkeitsfelder mit Unsicherheiten behaftet sind. Die größten Herausforderungen erleben die Fachkräfte im Kontext von Beobachtung und Dokumentation, Konzeptionsentwicklung sowie Qualitätsentwicklung und -sicherung, Zusammenarbeit mit Personensorgeberechtigten, Kooperationen im Sozialraum und vor allem im Bereich der Inklusion. Diese unsicherheitsbehafteten Aufgabenfelder sind relativ übereinstimmend gleichfalls diejenigen Themengebiete, in denen Weiterbildungen absolviert wurden oder zu denen sich zusätzliche Angebote gewünscht werden. Auch die Ergebnisse zu kollektiven Orientierungen über Weiterbildungsaktivitäten in den einzelnen Einrichtungen, aus den erhobenen Audio- oder Videoaufnahmen von Teamgesprächen und Gruppendiskussionen, demonstrieren zusammenfassend hohe Bedeutungszuschreibungen und Bereitschaften zu Fort- und Weiterbildungen seitens der Mitarbeiter_innen.
Im abschließenden siebten Kapitel wird nochmals detailliert auf das Forschungsdesign eingegangen, um das eigene methodische Vorgehen zu legitimieren und nachvollziehbar zu machen. Ferner findet eine Reflexion des Verlaufs des Forschungsprozesses und der Generalisierbarkeit der Daten statt.
Diskussion
Forschungsberichte sind stets Gradwanderungen zwischen einer zu detaillierten und einer zu komprimierten Darstellungsweise. Das vorliegende Werk kann als weitgehend gelungener Versuch der Wiedergabe des eigenen Forschungsgangs charakterisiert werden, der dem/der Leser_in auch eine eigene Urteilsbildung über den Ergebnisgewinnungsprozess ermöglicht. So werden zum einen theoretische wie methodologische Fragestellungen diskutiert, methodische Herangehensweisen expliziert und forschungspraktische Herausforderungen reflektiert. Zum anderen werden die vom Forschungsteam vollzogenen Rekonstruktionen und Interpretationen jeweils anhand von Interviewpassagen exemplifiziert und somit transparent gemacht.
Ein Kritikpunkt besteht jedoch darin, dass Thole et al. sich zwar einerseits wiederholt im Kontext erziehungswissenschaftlicher Professionalisierungsforschung dafür aussprechen nicht jedes aktivierte Wissen von pädagogischen Fachkräften auch als professionelles Wissen zu billigen und Grenzziehungen vorzunehmen sind, weil diese sich „nicht einfach darauf zurückbeziehen kann, lediglich heuristisch, normativ oder deskriptiv festzustellen, was in den Professionen als Wissen gilt, sondern sich mit der fachlichen Notwendigkeit und der gesellschaftlichen Erwartung konfrontiert sieht, nähere Angaben dazu zu machen, ob etwas auch tatsächlich als Wissen gilt oder als solches ausgewiesen werden kann“ (S. 149; vgl. hierzu auch S. 7, 11, 13, 26). Andererseits bleibt dennoch relativ offen wie in empirischen Rekonstruktionen resp. in der vorliegenden Studie, solche Abgrenzungen begründet werden können. Wie ist also die Definition einer situativ adäquaten „Relationierung von Wissendem, Wissen und dem Gegenstand des Wissens“ (S. 132) von Seiten des Forschungsteams zu legitimieren? Oder auch weshalb sind die ausgewiesenen Merkmale des wissensbasierten Typus als Ideal eines professionellen Umgangs mit Wissen zu bestimmen? Wünschenswert wäre folglich eine umfassendere Explikation der Fundierung der hierzu herangezogenen Kriterien im Auswertungsprozess gewesen sowie die Reflexion (unumgänglicher) normativer Setzungen von Professionalität, wenn eben nicht „einfach alles empirisch Vorfindliche als Wissen bezeichnet“ (S. 11) werden kann und soll.
Gleichwohl leistet die Studie von Thole et al. einen bedeutenden Beitrag zur Professionalisierungsforschung der Pädagogik der Kindheit. Neben dem Zuwachs an empirischer Datenlage, zeichnet sich dieser insbesondere durch die methodologischen und methodischen Auseinandersetzungen zur Eruierung von Wissen ebenso wie durch die herausgearbeitete Wissensheuristik aus. Der entwickelte Wissensbegriff stellt eine praxistheoretische Operationalisierung für die Wissensverwendungsforschung in der Erziehungswissenschaft zur Verfügung und bietet eine vielversprechende Alternative zu den bisher dominierenden Versuchen der Identifizierung von pädagogischem Wissen in vorweg festgelegten Wissensdomänen oder -bereichen, deren Problematiken und Schwächen auch ausführlich im vorliegenden Band aufgezeigt werden konnten.
Das vorliegende Werk ist aufgrund dessen nicht nur lesenswert für beteiligte Akteure am Professionalisierungsprojekt der Kindheitspädagogik, sondern ist auch für Forscher_innen der Wissensverwendung anderer Disziplinen von Interesse, um weiterhin den noch offenen Herausforderungen praxistheoretischer Konzeption von professionellem Wissen zu begegnen.
Fazit
Die Publikation trägt die Ergebnisse des Forschungsprojekts »WissensbasierteDeutungs- und Handlungskompetenzen von pädagogischen MitarbeiterInnen in Kindertageseinrichtungen« zusammen. Die Schwerpunkte des Werkes liegen auf den methodologischen und methodischen Auseinandersetzungen zur Eruierung von Wissen sowie der Generierung einer Wissensheuristik für die Wissensverwendungsforschung.
Rezension von
Carina Fischer
Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Sozialpädagogik an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg.
Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte: Theorie und Praxis der Kinder- und Jugendhilfe; Professionalisierungsforschung; Gender & Queer Studies.
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Zitiervorschlag
Carina Fischer. Rezension vom 20.06.2018 zu:
Werner Thole, Björn Milbradt, Sabrina Göbel, Michaela Rißmann: Wissen und Reflexion. Der Alltag in Kindertageseinrichtungen im Blick der Professionellen. Springer VS
(Wiesbaden) 2016.
ISBN 978-3-658-11698-9.
Kasseler Edition soziale Arbeit, Band 4.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/24141.php, Datum des Zugriffs 04.12.2023.
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