Marc Engelhardt: Weltgemeinschaft am Abgrund
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 03.04.2018

Marc Engelhardt: Weltgemeinschaft am Abgrund. Warum wir eine starke UNO brauchen. Ch. Links Verlag (Berlin) 2018. 272 Seiten. ISBN 978-3-86153-984-1. D: 18,00 EUR, A: 18,50 EUR.
Thema
„Auf unserer Welt herrscht Alarmstufe Rot“. Das ist kein Ausruf eines Verschwörungstheoretikers, auch keine Bußbotschaft eines religiösen Eiferers, sondern stammt aus der Neujahrsansprache 2018 des Generalsekretärs der Vereinten Nationen, António Guterres. Es ist ein Aufruf, dass die Menschen endlich begreifen sollten, dass Frieden (eigentlich) der natürlichste Zustand im individuellen und kollektiven Dasein der Menschheit, und Unfrieden das größte, menschenunwürdige Übel ist. Es ist eine Warnung, die Menschheit vor den Geiseln des Krieges, des Unrechts, von Ungerechtigkeit und Unmenschlichkeit zu bewahren. Zahlreiche Bemühungen, Lehren und Konsequenzen aus den Gräueln der zwei Weltkriege zu ziehen, haben 1945 eine Gruppe von 26 Staaten veranlasst, mit der „Charta der Vereinten Nationen“ die Voraussetzungen dafür zu schaffen, „künftige Geschlechter vor der Geisel des Krieges zu bewahren…, unseren Glauben an die Grundrechte des Menschen, an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit… zu bekräftigen, Bedingungen zu schaffen, unter denen Gerechtigkeit und die Achtung vor den Verpflichtungen aus Verträgen und anderen Quellen des Völkerrechts gewahrt werden können, den sozialen Fortschritt und einen besseren Lebensstandard in größerer Freiheit zu fördern“. Nachdem 51 Staaten am 24. Oktober 1945 die Charta ratifizierten, begann die UNO an ihrem Sitz in New York ihre Arbeit. Im ersten Artikel der UN-Verfassung werden die wesentlichen Ziele formuliert: Den Weltfrieden und die internationale Sicherheit wahren, freundschaftliche, auf der Achtung vor dem Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker beruhenden Beziehungen zwischen den Nationen zu entwickeln, internationale Zusammenarbeit zu fördern.
Entstehungshintergrund und Autor
Die Frage, ob der Mensch qua Menschwerdung ein friedfertiges oder aggressives, feindseliges Lebewesen ist, bestimmt den philosophischen und anthropologischen Diskurs seit Menschen in Gemeinschaften zusammen leben. War es in der evolutionären Entwicklung anfangs die Gruppe, in der, hierarchisch oder einvernehmlich, Regelungen und Ordnungssysteme entstanden sind, werden spätestens seit der Antike der Polis die drei klassischen Definitionselemente – Staatsgebiet, Staatsvolk, Staatsgewalt – zugeschrieben. Ein neues Friedensbewusstsein wird notwendig, wo souveräne Staaten und Nationen sich nicht mehr abgrenzen (können), sondern durch grenzüberschreitende und Grenzen auflösende, globalisierte Entwicklungen im wahrsten Sinne des Wortes „grenzenlos“ werden. In dieser Situation braucht es ein neues, globales Bewusstsein, dass die Menschheit in ihrer Vielfalt eine Einheit darstellt. Der „Weltstaat“ und der „Weltbürger“ sind gefordert (Roland Bernecker / Ronald Grätz, Hrsg., Global Citizenship – Perspektiven einer Weltgemeinschaft, 2017, www.socialnet.de/rezensionen/23073.php).
Ist die UNO ein Weltstaat? Diese Frage wird immer wieder gestellt; und die Antworten darauf sind eher skeptisch bis negativ. Denn die Vereinten Nationen haben in ihrer Charta sich diesen Anspruch selbst verweigert, wenn es in Artikel 2 (7) heißt: „Aus dieser Charta kenn eine Befugnis der Vereinten Nationen zum Eingreifen in Angelegenheiten, die ihrem Wesen nach zur inneren Zuständigkeit eines Staates gehören, oder eine Verpflichtung der Mitglieder, solche Angelegenheiten einer Regelung auf Grund dieser Charta zu unterwerfen, nicht abgeleitet werden“. Schauen wir uns daraufhin die definierten Grundsätze an, die nach staats- und völkerrechtlichen Auffassungen für einen „Weltstaat“ gelten können, so könnte die UNO dann als „Weltregierung“ fungieren, wenn das „Staatsgebiet“ als der Lebensraum der Menschheit auf der Erde gilt, das „Staatsvolk“ als die Menschheitsfamilie verstanden wird, wie dies in der „globalen Ethik“, der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 postuliert wird: „Die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte bildet die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt“; und wenn es gelänge, die „Staatsgewalt“ auf die Vereinten Nationen zu übertragen. Wie wir wissen, ist zumindest die letztgenannte Forderung nur ansatzweise als „UNO-Recht“ möglich und zudem äußerst umstritten. Dabei wäre es durchaus möglich, die selbstgebaute Hürde zu überwinden. Wir brauchen uns dabei nur das System der Vereinten Nationen anschauen: Zu den Hauptorganen, die die Politik und das Wirken der UNO bestimmen – Generalversammlung, Sicherheitsrat, Sekretariat, Wirtschafts- und Sozialrat, Treuhandrat – gehört auch der „Internationale Gerichtshof“, der immerhin bisher Verbrechen gegen die Menschlichkeit ahnden kann (Benjamin Dürr, Im Namen der Völker. Der lange Kampf des Internationalen Strafgerichtshofs, 2016, www.socialnet.de/rezensionen/21079.php ) und dadurch beweist, dass Ordnungsrecht eine legitime und funktionierende weltstaatliche Aufgabe darstellt.
Der Weltreporter, Journalist und internationale Berichterstatter Marc Engelhardt beobachtet, analysiert und informiert seit mehr als einem Jahrzehnt die Aktivitäten der Vereinten Nationen In der New Yorker Zentrale und begleitet die zahlreichen, internationalen Projekte, wie z.B. die Blauhelmeinsätze im Südsudan und in anderen Krisen- und Kriegsgebieten; und er setzt sich auseinander mit den bürokratischen und politischen Strukturen zur Armuts- und Seuchenbekämpfung und anderen Aktivitäten. Er schreibt keine wissenschaftliche Analyse und Bestandsaufnahme, sondern er erzählt von seinen Erfahrungen. Er lässt so die Leser teilhaben an den Zu- und Unzulänglichkeiten einer institutionalisierten, gebremsten Arbeit der Vereinten Nationen. Den Dilemmata stellt er aber auch Hoffnungen gegenüber, wie es gelingen könnte, mit Hilfe der Vereinten Nationen eine gerechte, friedliche und humane Weltordnung zu schaffen. Kritik und Vision ließe sich sein Bericht über die Lage der Welt titeln, wenn er anhand von zahlreichen konkreten Beispielen die Frage beantwortet: „Warum wir eine starke UNO brauchen“.
Aufbau und Inhalt
Die Titelungen in seiner Erzählung sind gleichsam der rote Faden für seine Analyse, dass sich die Weltgemeinschaft am Abgrund befinde, verweisen bereits auf sein Anliegen:
- „Eine Woche im September“ – Wie Populisten die UN bekämpfen.
- „Berüchtigte Bataillone“ – Wie UN-Blauhelme die Zivilbevölkerung im Stich lassen.
- „Bürokratie ohne Kompass“ – Wie die Angst vor Verantwortung die UN lähmt.
- „Leere Kassen, hilflose Helfer“ – Wie die humanitäre Hilfe der UN kaputt gespart wird.
- „65 Millionen Herausforderungen“ – Wie die UN sich mühen, Flüchtlingen zu helfen.
- „17 Ziele für die Zukunft“ – Wie die UN eine gerechtere Entwicklungspolitik erreichen wollen.
- „Überlebenskampf und Anthropozän“ – Wie globale Umwelt- und Klimapolitik Gerechtigkeit schafft.
- „Gesundheit á la Gates“ – Wie Millionäre die Weltgesundheitspolitik formen.
- „Ich bin zornig!“ – Die UN und die Menschenrechte.
- „Krieg und Frieden und künstliche Intelligenz“ – Die UN und ihre Reformen.
- „Die unerträgliche Langsamkeit des Seins?“ – Die UN und die Notwendigkeit der Diplomatie.
- „Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen die Staaten“.
Bei den eindrucksvollen, aufwühlenden und verzweifelten Schilderungen über das Unvermögen der Menschen, alle „unsere Kräfte zu vereinen, um den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren“ wie dies die Charta der Vereinten Nationen zum Ausdruck bringt, drängt sich die Frage auf, die sich in vielfältiger Weise HIER und HEUTE stellt: „Wie kann es gelingen, die Menschen davon zu überzeugen, dass sie aufgeklärt sein wollen?“. So fragt der Rezensent mit dem Autor: „Wie kann es gelingen, die Menschheit davon zu überzeugen, dass wir eine neue, gerechtere und humane Weltordnung brauchen?“ (vgl. dazu: www.sozial.de ). Diese aufgeklärte Tugend fällt nicht als Postament vom Himmel; es ist nicht zu erwarten, dass sie als Poem vorgetragen oder als Pokal überreicht wird, auch nicht als überzeugende Politik auf der Straße liegt, und schon gar nicht polyzentrisch diktiert werden darf. Es braucht die Aufmerksamkeit und das Engagement von Einzelnen und Gesellschaften. Dass dies keine Unmöglichkeit und auch keine Illusion ist, zeigen eine Reihe von Aktivitäten, etwa die von einzelnen Friedensaktivisten ausgehende Ottawa-Konvention (1997), die den Einsatz, die Produktion, Lagerung und Weitergabe von Landminen weltweit untersagt. Es sind weiterhin die Bemühungen, einen Atomwaffensperrvertrag als internationale Vereinbarung zustande zu bringen, Cybersicherheit zu gewährleisten; und es sind nicht zuletzt die Aktivitäten für „good governance“ (Pierre Rosanvallon, Die gute Regierung, 2016, www.socialnet.de/rezensionen/20955.php), die dazu auffordern, sich individuell und kollektiv als Friedens-, Freiheits- und Demokratiefreund zu betätigen.
Im Anhang seiner Erzählung, wie es gelingen kann, die Menschheit vor dem Abgrund zu bewahren und als Mittel dafür eine starke UNO zu schaffen, liefert der Autor das notwendige Abkürzungsverzeichnis, mit dem die im Bericht genannten Institutionen, Einrichtungen und Phänomene erläutert werden. Mit dem Quellen- und Literaturverzeichnis verweist er auf weitere Literatur. Die historische Entwicklung der Vereinten Nationen skizziert der Autor in einer tabellarischen Darstellung. Obwohl die Zugangsmöglichkeiten zur Charta der Vereinten Nationen und zur Menschenrechtsdeklaration digital heute leicht möglich sind, ist es für den Gebrauch des Buches bei Informations-, Aufklärungs- und Bildungsaktivitäten hilfreich, sie auch im Buch vorzufinden. Die Schaubilder „UN-Friedensmissionen und humanitäre Krisen in der Welt“ und „Die wichtigsten UN-Organisationen mit ihren Hauptsitzen“ eignen sich auch für den didaktischen und methodischen Einsatz in schulischen und außerschulischen Lehrveranstaltungen.
Fazit
Die von den Vereinten Nationen als verbesserte Initiative der (gescheiterten) mittelfristigen Millenniumsziele 2015 ausgerufene „Agenda 2030“ betont die dringende Notwendigkeit, dass die Menschheit einen Perspektivenwechsel hin zu einer nachhaltigen Entwicklung vollzieht und gemeinsame Anstrengungen unternommen werden müssen, Armut und Hunger in der Welt abzuschaffen, durch ein verändertes, verantwortliches Denken und Verhalten den menschengemachten Klimawandel und dessen Folgen für die Gegenwart und Zukunft abzumildern, Fortschritt und Entwicklung im Einklang mit der Natur zu gestalten, Frieden, Gerechtigkeit und Menschenwürde zu sichern, und zu einer globalen, gleichberechtigten und solidarischen Partnerschaft beizutragen. Das Plädoyer von Marc Engelhardt für eine Weltgemeinschaft ist es wert, gehört und getan zu werden!
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 03.04.2018 zu:
Marc Engelhardt: Weltgemeinschaft am Abgrund. Warum wir eine starke UNO brauchen. Ch. Links Verlag
(Berlin) 2018.
ISBN 978-3-86153-984-1.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/24143.php, Datum des Zugriffs 04.10.2023.
Urheberrecht
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