Thomas Bauer: Die Vereindeutigung der Welt
Rezensiert von Prof. Dr. Heinz-Jürgen Voß, 12.06.2018

Thomas Bauer: Die Vereindeutigung der Welt. über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt. Philipp Reclam jun. Verlag GmbH (Stuttgart) 2018. 104 Seiten. ISBN 978-3-15-019492-8. D: 6,00 EUR, A: 6,20 EUR.
Thema
Im Buch „Die Vereindeutigung der Welt“ betrachtet Thomas Bauer die Bedeutung von Ambiguität – und wie Ambiguität seit der europäischen Moderne in zunehmendem Maße getilgt wird. Ambiguität bedeutet dabei Widersprüchlichkeit, Widerspenstigkeit und Uneindeutigkeit – also, wie sich Dinge und Menschen einer klaren Einordnung und Kategorisierung entziehen. In seiner kritischen Reflexion wendet sich Bauer dabei zentralen gesellschaftlichen Bereichen wie Ökologie, Politik, Religion und Kunst zu.
Autor und Entstehungshintergrund
Thomas Bauer, geb. 1961,ist Arabist an der Universität Münster. Seine Veröffentlichungen fanden vielfach Beachtung, darunter der Band „Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams“ (2011). Im Jahr 2013 wurde Bauer mit dem Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Preis ausgezeichnet.
Aufbau
Im Buch werden nacheinander verschiedene Themenbereiche im Hinblick auf ihre Ambiguität und Ambiguitätsreduktion durchleuchtet. Das Inhaltsverzeichnis:
- „Alles so schön bunt hier“ – Ein Zeitalter der Vielfalt?
- Auf der Suche nach Eindeutigkeit
- Kulturen der Ambiguität
- Religionen zwischen Fundamentalismus und Gleichgültigkeit
- Kunst und Musik auf der Suche nach dem Eindeutigen
- Kunst und Musik auf der Suche nach Bedeutungslosigkeit
- Der Authentizitätswahn
- Vereindeutigung durch Kästchenbildung
- Authentischer Wein und authentische Politik
- Auf dem Weg zum Maschinenmenschen
Ein Anhang mit den Quellennachweisen und einer kurzen biografischen Einordnung des Autors schließen sich an.
Inhalt
Der vorliegende Band, erschienen in der „Universal-Bibliothek“ des Reclam-Verlags, stellt eine Einführung zu den wissenschaftlichen Fragen der Ambiguität dar und zielt auf einen größeren Leser_innenkreis. Gleichwohl enthält er auch für wissenschaftlich interessierte Leser_innen Informationen, die etwa über die Ausführungen Bauers im Buch „Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams“ (2011) hinausgehen. Das zeigt sich schon bei der anschaulichen Einführung ins Thema:
Entgegen der derzeit oft postulierten These, dass die aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen in Richtung einer Pluralisierung der Lebensweisen und allgemein der Möglichkeiten (und Möglichkeitsräume) für Menschen zielen würden, weist der Autor auf sich aktuell abzeichnende Verringerungen von Vielfalt und von Möglichkeitsräumen hin. Das gelte für die Biodiversität ebenso wie für kulturelle Leistungen der Menschen. Wie sich die Zahl der Tier- und Pflanzenarten in den letzten Jahrzehnten deutlich reduziere, so sei etwa bei den Sprachen der Menschen ein ähnlicher Rückgang zu verzeichnen – ein Drittel der Sprachen sei aktuell vom „Aussterben“ bedroht. Während sich dabei historisch zeige, dass in menschlichen Gesellschaften Ambiguität – Widersprüchlichkeit, Widerspenstigkeit, Uneindeutigkeit –, wenn auch in wechselnder Intensität, toleriert wurde, so habe sich heute sowohl in der „modernen Wissenschaft“ als auch in den Religionen der Wahrheitsanspruch durchgesetzt.
Für den Katholizismus stellt Bauer die Veränderungen exemplarisch dar – hier sei erst durch das beim Ersten Vatikanischen Konzil von 1870 durchgesetzte „Unfehlbarkeitsdogma“ Eindeutigkeit und Rigorosität durchgesetzt wurden; das „Zweite Vatikanische Konzil vermittelte“ demgegenüber „zwar in manchen Bereichen ein Gefühl des Aufbruchs, etwa im Verhältnis zu den Juden und zur Religionsfreiheit, bot aber nicht überall eine Öffnung zu mehr Ambiguitätstoleranz“ (S. 23) – etwa im Hinblick auf die Stellung von Frauen. Auch im Islam zeige sich bis ins 20. Jahrhundert hinein viel Ambiguität und Ambiguitätstoleranz, die dann aber – in Nachahmung der europäischen Moderne – einer Rigorosität weiche. Selbst der Grundüberzeugung im Islam, dass Menschen „Gottes Wort“ unterschiedlich interpretieren könnten, und der damit verbundenen Toleranz gegenüber verschiedenen Lesarten, wurde nun von einigen Religionsführern mit Rigorosität widersprochen. Sowohl für die christlichen als auch die islamischen Religionen hält Bauer fest, dass eigentliche Religiosität zurückgehe, gleichzeitig aber ein rigoroser Fundamentalismus, der vorgibt, selbst über „die Wahrheit“ zu verfügen, ansteige.
Neben der Biodiversität sowie den Sprachen und Religionen betrachtet Thomas Bauer auch Musik und Kunst. Auch in ihnen zeige sich die Suche nach Eindeutigkeit, wenn auch – traditionell – Kunst und Musik eher die Bereiche seien, die ambigue Räume eröffneten. Schließlich gelangt Bauer zur Herausbildung von Kategorien: Etwa im Sexuellen ergebe sich durch die klare Benennung „sexueller Orientierungen“ eine Begrenzung der Möglichkeiten der konkreten Menschen. Damit würden sich in Gesellschaften, die zwar gleichgeschlechtlichen Sex und homoerotische Umgangsweisen kennten, aber keine fest gefasste „Homosexualität“, gesellschaftliche Entwicklungen ergeben, in denen sich gleichzeitig mit der fest gefassten „Homosexualität“ auch „Homophobie“ etabliere. Bauer hält hierzu fest: „Der Versuch, Eindeutigkeit in einer uneindeutigen Welt wenigstens dadurch herzustellen, dass man die Vielfalt in der Welt möglichst präzise in Kästchen einsortiert, innerhalb derer größtmögliche Eindeutigkeit herrscht, ist eher dazu geeignet, Vielfalt zu verdrängen als sie zu fördern.“ (S. 81)
Auf den den Band beschließenden Seiten reflektiert der Autor den aktuellen Zustand der deutschen Gesellschaft: Wenn es bei Politiker_innen darum gehe, dass sie möglichst „authentisch“ sein sollten, so lasse das keinen Raum für die eigentliche politische Arbeit in einer demokratischen Gesellschaft – dort müsse die „Authentizität“ eine_r Politiker_in notwendiger Weise gegenüber Aushandlungen und Kompromissen zurückstehen. Direkt und klar sei Politik nicht.
Vernebelt werde diese Einengung von Möglichkeiten, die mit der Rigorosität der Wahrheit und Klarheit verbunden sei, lediglich durch eine Ansammlung von Waren in der kapitalistischen Gesellschaft.
Diskussion und Fazit
Mit verständlichen Beispielen anschaulich „bebildert“, eröffnet das vorliegende Buch einen Zugang zu den aktuellen Forschungen, die Kategorisierungen und klare Zuordnungen von Menschen und Dingen kritisch reflektieren. Es ist zu wünschen, dass sich Lesende nicht melancholisch in eine Vergangenheit sehnen, sondern dass das Buch dazu anregt, dass wir miteinander auch Uneindeutigkeiten und Widersprüche aushalten und dass wir es eher als freundliche Erweiterung, statt als Makel begreifen, wenn sich Menschen und Dinge ganz widerspenstig unseren gewohnten Leserastern entziehen. „Die Vereindeutigung der Welt: Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt“ regt diesen Prozess auf jeden Fall an, gut lesbar und engagiert in der Argumentation.
Rezension von
Prof. Dr. Heinz-Jürgen Voß
Professur Sexualwissenschaft und sexuelle Bildung
Hochschule Merseburg
FB Soziale Arbeit. Medien. Kultur
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