Simon Bohn: Die Ordnung des Selbst
Rezensiert von Folke Brodersen, 11.05.2018
Simon Bohn: Die Ordnung des Selbst. Subjektivierung im Kontext von Krise und psychosozialer Beratung. transcript (Bielefeld) 2017. 266 Seiten. ISBN 978-3-8376-3794-6. D: 29,99 EUR, A: 30,90 EUR, CH: 36,80 sFr.
Thema
Das Subjekt in der Krise. Mit seiner Dissertationsschrift bearbeitet Simon Bohn zwei Leerstellen der Subjektivierungsforschung. Betrachtet diese bisher insbesondere produktive Prozesse der Herstellung von Selbst- und Weltdeutungen, Integrität und Kongruenz steht das Scheitern eben dieser Strukturierungen des Selbst im Zentrum des Bandes. Die Situation der Krise universitärer Ausbildung und daran ansetzende Umgangsstrategien untersucht Bohn auf die darin entstehenden Ordnungen des Selbst. Mit der Verschränkung der professionellen Adressierungen und Gestaltung psychosozialer Beratung mit den Selbsterzählungen beratener Studierender beleuchtet Bohn darüber hinaus die bisher wenig untersuchte Ebene der Praxiseffekte. Er unternimmt damit eine empirische Erweiterung und Prüfung der Thesen etwa des unternehmerischen Selbst (Ulrich Bröckling) oder des Optionalisierungsdispositivs (Boris Traue). In den Erzählungen des Scheiterns zeigen sich sodann divergierende Selbst- und Fremdanforderungen die in komplexer Weise zu Ansprüchen neoliberaler Lebensführung und Bildungsgestaltung ins Verhältnis gesetzt werden.
Aufbau und Inhalt
Der Band ‚Die Ordnung des Selbst‘ gliedert sich in sechs Abschnitte, wobei die ersten drei in die Situation Studierender an Hochschulen und der psychosozialen Beratungsstellen (1.), die Historie und Theoretisierung der kulturellen Schemen der Selbstreflexion und -erzählung (2.) sowie die methodische Anlage der Arbeit (3.) einführen. Darauf folgen zwei Teilstudien, denen jeweils eine eigene Darstellung der Rekrutierungs- und Erhebungspraxis vorangestellt ist. In der ersten Teilstudie werden sechs Expert_inneninterviews mit Beratenden und Leitungskräften psychosozialer Beratungsstellen der Studentenwerke inhaltlich in Bezug auf die Strategien und Ziele, die Prinzipien der Beratungspraxis sowie die darin enthaltenen Adressierungen des Subjekts untersucht (4.). Die zweite Teilstudie umfasst je zwei Interviews mit studierenden Besucher_innen der psychosozialen Beratungsstellen im Abstand von minimal drei Monaten. Diese werden hinsichtlich der narrativen Selbsterzählung der Krise, des Scheiterns und deren Bewältigung im Rahmen von Fallrekonstruktionen dargelegt (5.). Das Fazit nimmt eine Einordnung innerhalb neoliberaler Arbeits- und Gesellschaftsordnung vor (6.). Das Buch findet seinen Abschluss in einem umfassenden Anhang aus u.a. Teilnahmeaufrufen, Interviewleitfäden und weiteren Interviewsequenzen.
Die Deutsche Nationalbibliothek bietet Einblick in das vollständige Inhaltsverzeichnis.
In seiner theoretischen Einführung beleuchtet Bohn die Paradoxie der Krise: So sei die Benennung des Scheiterns gerade nicht der Abbruch aller möglicher Handlungsstrategien und das Ende der Subjektivität. Im Unterschied zu derartigen Selbstdeutungen setze die Formulierung der Krise auf einem hocheffizienten und komplexen Prozess der Selbstthematisierung auf. „Insofern ist die Selbsterzählung [der Krise] nicht eine Erzählung des tatsächlichen Lebens, kein Beleg der vollständigen Selbsterkenntnis, sondern eine Möglichkeit das Gute zu konstituieren und Rechenschaft von sich zu geben.“ (S. 41) Einer Subjektivierung sei deshalb auch in diesem Kontext nachzuspüren und als Aushandlungspraxis zwischen der Alltagserfahrung der Krise und den Deutungsangeboten der normativen Ordnungen von Leistung und Scheitern zu fassen. Diese zu analysieren, bedeute sodann, nach den feldspezifischen Möglichkeiten der Selbst-Rationalisierung zu fragen: Bohn tritt an, „die Mechanismen [zu] rekonstruieren, durch die die Beobachtungen, Gefühle und Denkweisen den Interviewten evident erscheinen“ (S. 57).
Die erste Teilstudie mit Professionellen der Beratungspraxis untersucht den Rahmen der Selbsterkundung und der Prozessierung der Krise. So erfahre die als ausweglos erlebte Situation der Beratenen eine Rekonfiguration: Das scheinbar reaktive Verhalten wird zu einem entscheidungsgestützten, aktiven Handeln transformiert. „Der sozial-emotionale Vorteil einer solchen Annahme prinzipieller Gestaltbarkeit liegt vor allem darin begründet, dass aus ihr die Möglichkeit zur Kontrollierbarkeit erwächst.“ (S. 93) Entgegen der Lethargie der Krisendeutung setze die Beratung, so die Professionellen, dann weniger neue Anforderungen, sondern leite zur reflexiven Selbsterkundung an. Das Credo der Aufrichtigkeit und Distanznahme erlaube eine weiterführende Selbsterkenntnis, die teilweise durch das Aufzeigen unbekannter Handlungsmöglichkeiten sowie die Bearbeitung dysfunktionaler kognitiver Selbstdeutungen zu stützen sei. Erarbeitet würden dabei zwei divergierende, aber komplex ineinander greifende Selbstverhältnisse: Einerseits würden Autonomie, Selbstorganisation und Zielstrebigkeit als Bedingungen des aktiven und eigenständigen Subjekts anvisiert. Andererseits würde mit diesen einhergehen, sich nicht den normativen Leistungsanforderungen der Institution Hochschule zu unterstellen, sondern durch kritische Zielselektion, Achtsamkeit, Selbstakzeptanz und Selbstwertschätzung eigene Bedürfnisse zu priorisieren.
Die zweite Teilstudie mit Teilnehmenden der Beratung zeigt sodann, dass und wie Scheitern zu einem Teil von Selbsterzählungen wird. So werde die Krise einerseits zum Anlass der Reflexion über normative Weltordnungen. Andererseits stehe dadurch die Integrität der Subjektivität auf dem Spiel, die aufrechterhalten werden müsse. Es ließen sich deshalb „Techniken der Selbsterzählung aufzeigen, durch die die Studierenden trotz oder gerade wegen der Krise ein Verständnis von Kontrolle über ihre(n) Gefühle, Denk- und Handlungsmuster behaupten. In der Selbsterzählung versuchen die Studierenden auf je unterschiedliche Weise glauben zu machen, ihre Problemlage überwinden zu können.“ (S. 136; Herv.i.O.) Bohn rekonstruiert die erzählte Geschichte des Scheiterns eines der Interviewten sodann als Widersprüchlichkeit, die Darstellung der eigenen Leistungsfähigkeit aufrecht zu erhalten, während dieser seine mangelnde Leistungserbringung als einen Unwillen zur Systemkollaboration mit der Universität stark macht und sich über beide Aspekte als rebellisches bzw. erfolgreiches Subjekt zu stilisieren versucht (S. 142). Eine Auflösung würden die jeweiligen Problematisierungen im zweiten Interview sodann vor allem im Duktus der weiterführenden Selbsterkenntnis und daran anschließender Nachsichtigkeit gegenüber den eigenen Bedürfnissen erfahren. In seinem Resümee diskutiert Bohn, dass diese Form der Subjektivierung gerade nicht in neoliberalen Arbeits- und Leistungsanforderungen aufgehe, zugleich aber auch keinen Widerstand dagegen leiste, sondern eine sich entziehende, kreative Verschiebung der Alltagspraxis darstelle.
Diskussion
Mit seinem Band liefert Bohn einen konzisen und fokussierten Beitrag. Sowohl die präzise Theorieaufarbeitung als auch die weiterführende Aufschlüsselung der Empirie durch theoretische Versatzstücke ist äußerst gewinnbringend zu lesen. Zugleich bedingt die fokussierte Ausarbeitung des Scheiterns, dass nur wenige darüber hinaus gehende Informationen etwa zur Studienpraxis der Interviewten enthalten sind und die jeweiligen Erzählungen keine holistische Rekonstruktion erfahren.
Die ausführliche Dokumentation im Band wie im Anhang sind als besondere Auszeichnung wissenschaftlicher Praxis zu verstehen. Sie leisten eine Nachvollziehbarkeit der methodischen wie inhaltlichen Entscheidungen, ermöglichen Kritik und setzen damit einen neuen Standard innerhalb qualitativer Sozialforschung.
Die Bearbeitung des Gegenstands in zwei Teilstudien ist diesem ebenso angemessen, wie innovativ und aufwendig. Deren Fokussierung und Ausarbeitung gelingt Bohn dabei überragend strukturiert – sie stellen jeweils einen theoretisierenden Gewinn dar. Eine abschließende empirische Zusammenfassung der Teilaspekte steht aber in Teilen aus – die Beziehung etwa zwischen dem Aufrichtigkeitscredo und den Erzählungen des Scheiterns konnte innerhalb des Bandes nicht abschließend geklärt werden. Auch ist die eher kurz gehaltene Absage an neoliberale Strukturierungen der entwickelten Selbstverhältnisse durch den Verweis auf ihren fehlenden Arbeitsbezug fraglich, zeichnen sich neoliberale Adressierungen doch gerade durch eine Entgrenzung von Freizeit und Beruf aus.
Fazit
Mit seinem Band liefert Simon Bohn einen wichtigen und innovativen Beitrag zur aktuellen Gouvernementalitäts- und Subjektivierungsforschung. Über deren primär diskursorientierte Analysen hinaus spürt er den praktischen Subjektivierungseffekten im Wechselspiel zwischen rahmenden Institutionen und Selbstverhältnissen nach. Seine empirisch fokussierte Betrachtung des Scheiterns des Subjekts zeigt, wie dieses nicht etwa zu einem Abschluss der Subjektivierung wird, sondern die Formierung, Benennung und Bearbeitung durch die Aneignung dieser Rhetorik und die institutionelle Prozessierung in ein Entwicklungsmoment konvertiert werden. Für an Fragen der Subjektivierung interessierte Soziolog_innen wie für Praktiker_innen der Beratung mit einem Wunsch nach konziser, theoretisierender Reflexion sei dieser Band so deutlichst zu Lektüre empfohlen.
Rezension von
Folke Brodersen
M.A., wiss. Mitarbeiter am Deutschen Jugendinstitut e.V. München
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Zitiervorschlag
Folke Brodersen. Rezension vom 11.05.2018 zu:
Simon Bohn: Die Ordnung des Selbst. Subjektivierung im Kontext von Krise und psychosozialer Beratung. transcript
(Bielefeld) 2017.
ISBN 978-3-8376-3794-6.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/24148.php, Datum des Zugriffs 20.09.2024.
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