Meinolf Peters: Das Trauma von Flucht und Vertreibung
Rezensiert von Prof. Dr. Margret Dörr, 08.03.2019
Meinolf Peters: Das Trauma von Flucht und Vertreibung. Psychotherapie älterer Menschen und der nachfolgenden Generationen. Klett-Cotta Verlag (Stuttgart) 2018. 224 Seiten. ISBN 978-3-608-96205-5. D: 30,00 EUR, A: 30,80 EUR.
Thema
Meinolf Peters beschäftigt sich in seinem Buch mit den Folgen von Flucht und Vertreibung während und nach dem Zweiten Weltkrieg. Zahlreiche Untersuchungen haben gezeigt, dass die extremen Belastungen, denen Menschen auf der Flucht und Vertreibung ausgesetzt waren, sie mehrheitlich stark verwundet haben. Schmerzhafte Erinnerungen daran kehren im Alter oft mit großer Heftigkeit zurück und erschweren es ihnen, mit den besonderen Anforderungen des Alters umzugehen. Um hilfreich zu sein ist es erforderlich, dass Fachkräfte um die spezifischen Traumata dieser Altersgruppe aber auch um die Auswirkungen auf die Nachfolgegeneration der Flüchtlinge und Vertriebenen wissen.
Entstehungshintergrund
Den persönlichen Entstehungshintergrund des vorliegenden Buches legt der Autor, der ein in der ambulanten und stationären Behandlung älterer Menschen sehr erfahrener psychoanalytischer Psychotherapeut ist, in seinem Vorwort mit folgenden Worten offen: „Das Thema dieses Buches beschäftigt sich mit den Folgen dessen, woran mein Vater beteiligt war, und sich über diesen persönlichen Hintergrund Rechenschaft abzulegen halte ich für eine unverzichtbare Voraussetzung, um sich einer solchen Arbeit mit dem erforderlichen Engagement, aber auch der gebotenen Distanz widmen zu können.“ (9f) Damit macht Peters auf eine zu häufig missachtete Regel in der Wissenschaft aufmerksam: Nicht nur in der psychotherapeutischen und psychosozialen Praxis, sondern auch im wissenschaftlichen Arbeiten ist es erforderlich über die persönliche Hintergründe und Motive des eigenen Nachdenkens zu reflektieren.
Das Buch basiert auf eine Vorlesungsreihe, die Meinolf Peters 2017 während der Psychotherapiewochen in Lindau gehalten hat. Die große Nachfrage und positive Resonanz motivierten ihn zu diesem Buchprojekt.
Autor
Meinolf Peters, Prof. Dr. phil., geb. 1952, Diplom-Psychologe, psychologischer Psychotherapeut, Psychoanalytiker, Honorarprofessor an der Universität Marburg. Mitinhaber und Geschäftsführer des Instituts für Alternspsychotherapie und Angewandte Gerontologie, Leitung der Abteilung Psychosomatik und Psychotherapie in der Klinik am Hainberg in Bad Hersfeld (bis Ende 2017), jetzt wissenschaftlicher Berater der Klinik, Supervisor und Berater in mehreren Kliniken, niedergelassen in eigener Praxis, Mitherausgeber der Zeitschrift Psychotherapie im Alter. (Angaben im Buch)
Aufbau
Das Buch ist nach dem Vorwort und der Einleitung in IV Teile, mit insgesamt 14 Kapitel einschließlich Unterpunkte, gegliedert.
I. Das historische Geschehen
In Teil I (S. 19-72) thematisiert der Autor entlang drei Kapitel unter den Überschriften:
- „Flucht und Vertreibung der Deutschen“ (Kap. 2);
- „Die Flucht von Frau A. – ein Erfahrungsbericht“ (Kap. 3) und
- „Das Schicksal der Kinder und Jugendlichen“ (Kap. 4).
Historisch informiert zeichnet der Verfasser nach, in welcher Weise – zusätzlich zur Massenvernichtung von jüdischen Mitbürger_innen und Angehörige von Minderheiten (z.B. Sinti und Roma) – Flucht und Vertreibung zur wesentlichen Strategie der Nazi-Politik gehörten. Hatten Deutsche zunächst Millionen Menschen aus Polen, der Ukraine, Weißrussland und Russland … als Zwangsarbeiter nach Deutschland verschleppt, war zum Zeitpunkt, als die Niederlage Deutschlands absehbar wurde, die Flucht und Vertreibung der Deutschen, vornehmlich aus den Ostgebieten, unvermeidlich. Seine Beschreibung der perversen Dimension massenhafter Fluchtbewegung – in der Zeit des „Dritten Reiches“, des Zweiten Weltkriegs sowie während der Umsiedlungsprozesse in den Nachkriegsjahren (bis 1948) – vergegenwärtigen die unsäglich leidvollen Überlebensbedingungen der betroffenen Männer, Frauen und Kinder. Peters erinnert auch an die hohen Todesraten aufgrund von Misshandlungen und/oder Mangelernährung, an die massenhaften Vergewaltigungen von Frauen, aber auch an das zusätzliche Leid der Menschen, denen offener Fremdenhass bei der Ankunft an eigentlich rettende Orte von Deutschen entgegenschlug.
Verknüpfungen zur aktuell dramatischen Situation der Kriegsflüchtlinge, die wir in der christlich-westlichen Welt durch menschenverachtende politische Entscheidungen im Mittelmeer ertrinken lassen, und/oder sie am angeblich ‚sicheren Ort‘ mit fremdenfeindlichen Übergriffen und Parolen schikanieren, sind augenfällig.
In Kap. 3 gibt Peters der Leserin einen Einblick in einen erschütternden Erfahrungsbericht einer Mutter mit zwei kleinen Kindern auf der Flucht aus Ostpreußen. Mit diesen Materialauszügen werden die Todesgefahren und die Not im Überlebenskampf dieser Frau bebildert. Und zugleich – worauf auch der Autor in seinem Kommentar hinweist – irritieren diese Schilderungen durch ihre Beschränkung auf äußere (dramatische) Ereignisse und lassen einen Blick auf das zwischenmenschliche Geschehen, einschließlich der Kontakte zu den Kindern, weitestgehend vermissen. So wird in diesen Auszügen auch der Verlust der elterlichen Fähigkeit deutlich, ihre Kinder während einer Gefahr emotional zu erreichen und ihnen ein Gefühl des Schutzes, der Sicherheit und der Hoffnung zu vermitteln. Gefühle, die „für Kinder unverzichtbar sind, wenn sie traumatische Erlebnisse ohne tiefgreifende Folgewirkungen überstehen sollen.“ (46)
In Kap. 4 schließt Peters mit der Überschrift „Das Schicksal der Kinder und Jugendlichen“ an diese Thematik an. Er wirft eine differenzierte Sicht auf jene Traumakonzepte, die für ein vertieftes Verständnis der Betroffenen hilfreich sind und betont dabei den darin enthaltenen Anspruch, die komplexen und unterschiedlichen Erfahrungen Geflüchteter und Vertriebener zu beachten. Einen weiteren Fokus legt er auf die Vielfachbelastung der Fluchterlebnisse für Frauen einschließlich erwartbarer Wirkungen auf die Kinder und trägt aktuelle empirische Ergebnisse aus Forschungsprojekten zusammen, die den folgenreichen Verlust des Vaters im kindlichen Aufwachsen und das Erbe der nationalsozialistischen Zeit (u.a. am Beispiel damaliger – bis heute wirkreicher – Erziehungskonzepte) untersucht haben. Dem Autor gelingt es, seine theoretischen Ausführungen durch zahlreiche Selbstzeugnisse und Behandlungsberichte auch in Hinblick auf das Schweigen der Nachfolgegeneration und deren Anpassungs- und Identitätskonflikte zu verdichten. Aufschlussreich sind zudem seine kritischen Diskussionen über Grenzen der Traumakonzepte sowie über Schutz- bzw. Resilienzfaktoren während des Aufwachsens von Flüchtlings- und Vertriebenenkinder, die einmal mehr die Forderung an Fachkräfte begründen, offen für das historische Gewordensein der anvertrauten und sich anvertrauenden Menschen zu sein und in Anamnese, Therapie und Begleitung zu berücksichtigen.
II. Zu den Folgen von Flucht und Vertreibung
In Teil II (75- 139) „steht das Schicksal der damaligen Kinder- und Jugendlichen [im Mittelpunkt, M.D.], weil es sich um diejenige Kohorte handelt, die sich heute in einem höheren und hohen Lebensalter befindet und in erheblichen Maße unter den Folgewirkungen leidet.“ (76). Darauf hinweisend, dass psychische Störungen bei älteren Menschen in einem erheblichen Ausmaß unterdiagnostiziert sind, kritisiert der Autor die unpassenden ICD 10 Diagnosen für diese Personengruppe. Zumal darin sowohl altersspezifische Kriterien fehlen als auch historische und traumabezogene Zusammenhänge ignoriert werden.
Einführend stellt Peters ein Belastungs-Entwicklungs-Modell (Kap. 5) von Flucht und Vertreibung vor. Damit gibt er einen Überblick über die relevanten Einflussfaktoren und bietet zugleich eine „Orientierung im Hinblick auf die Darstellung des Geschehens in diesem Buch.“ (77) Die Dynamiken in Bezug auf „Familiärer Umgang“; „Trauma-Weitergabe und Formen belasteter Entwicklung“; „Anpassung und posttraumatisches Wachstum und Vulnerabilität im Alter“ werden unter der Überschrift Psychische Langzeitfolgen von Flucht und Vertreibung (Kap. 6) sowohl unter Verwendung empirischer Forschungsergebnisse als auch vermittelt über Selbstzeugnisse und Behandlungsberichte erkenntnisreich und verständlich dargelegt.
Unter der Überschrift „Der Schatten auf den nachfolgenden Generationen“ (Kap. 7) geht der Autor auf die Relevanz transgenerationaler Weitergabe von Traumata ein und zeigt auf, dass dieses Thema zwar klinisch relevant, aber die entsprechende (nach wie vor mangelhafte) Befundlage wenig eindeutig ist. Zudem akzentuiert der Verfasser mögliche positive Einflüsse, die frühe traumatische Folgen überschreiben und dass auch diese weitergegeben würden. Einen wesentlichen Anteil an der transgenerationalen Weitergabe von Traumata hat nach Peters der Prozess der unbewussten Identifizierung der Kinder mit den „stummen Zonen“ ihrer verwundeten Eltern. Zugleich betont er aber gut begründet, dass auch hierbei mit der Wirksamkeit von Resilienzfaktoren zu rechnen ist: Dieses Wissen verhindert eine einseitige Opferperspektive in Hinblick auf Angehörige der nachkommenden Generation und eröffnet den Blick auf die mögliche Mitgestaltung der eigenen Entwicklung, u.a. durch aktives Befragen der älteren Generation und ihrer Verstrickungen.
In „Verlust, Trauma und der Prozess des Alterns“ (Kap. 8) plausibilisiert der Autor zahlreiche Aspekte die dazu beitragen, dass „die Vergangenheit im Alter näherrückt“ (111). Dabei wird der interaktive Prozess zwischen Altern und frühe Traumata entlang differenter Modelle anschaulich aufgegriffen und die hohe Bedeutung der Aktivierung des Bindungssystems im Alter dargestellt. Auch die für dieses Kapitel ausgewählten Fallvignetten leuchten das Spannungsfeld von Alter, Verlust und Trauma facettenreich aus.
Mit einem „kritischen Zwischenruf“ (Kap. 9) macht Meinolf Peters vehement auf den oft unreflektiert verwendeten Begriff „Kriegskinder“ in diesem Diskurs aufmerksam. Unter Bezugnahme auf zahlreiche Autor_innen verweist der Autor auf die mit diesem Begriff verbundene eklatante Reduktion komplexer Zusammenhänge auf einen einzigen Faktor. So werden weitere belastende Einflüsse durch die Eltern infolge damaliger Erziehungspraxis verdunkelt. Besonders relevant ist die Beachtung der wahrscheinlichen Identifikation der Kinder mit ihren Eltern, die sich für die nationalsozialistische Ideologie sehr wohl (zumindest in den Anfängen) begeistert hatten. Ebenso kann mit dem Begriff „Kriegskinder“ die Suche von Jugendlichen nach Vorbildern und Idolen außerhalb der Familie, die sie bei den Nazi-Größen finden konnten und gefunden haben, in ihrer nachhaltigen Wirkmächtigkeit nicht thematisiert werden. Und, ein kritischer Diskurs über die Kinder und Jugendlichen der NS-Zeit vermag auch jenes, in der Rede vom „Wirtschaftswunder“ der Nachkriegszeit eingewobene, Widerspruchspotenzial aufdecken, das mit einer enormen Verdrängungsleistung einherging, die zu einer „pathologischen Normalität“ führte.
III. Psychotherapeutische und andere Hilfen
Teil III (143-211) stellt den Stand der „Psychotherapie bei Älteren mit Flucht- und Vertreibungshintergrund“(Kap. 10) dar. Peters informiert darin über zentrale Grundlagen der Alterspsychotherapie, erläutert die Besonderheiten und Spezifika vor dem Hintergrund der allgemeinen Psychotherapie, diskutiert traumatherapeutische Ergänzungen und betont die Konvergenzen von Alterspsychotherapie und Traumapsychotherapie.
Welche Produktivität eine Kombination alters- und traumatherapeutische Kenntnisse in der Behandlung von Menschen, die Flucht und Vertreibung noch selbst erlebt haben, entfalten kann, zeichnet der Autor in seiner „Kasuistische[n] Darstellung – das ‚Petticoat-Kind‘“ (Kap. 11) facettenreich, wissenswert und in einer ausnehmend anerkennenden und sensiblen Weise nach. Während in diesem Kapitel zentrale psychotherapeutische und psychodynamische Überlegungen aufgezeichnet sind, erörtert Peters im Weiteren „Flucht- und Vertreibungsfolgen in der Versorgung älterer Menschen“ (Kap.12) und veranschaulicht am Beispiel unterschiedlicher Versorgungssegmente wie Ehe- und Lebensberatungsstellen, Alten- und Seniorenberatungsstellen, Gerontopsychiatrie, Geriatrie und Pflegeheime, welche Hilfe psychosoziale und pflegerische Fachkräfte in der Altenarbeit den ihnen anvertrauten alten Menschen anbieten können, damit diese mit den im Alter oftmals aufbrechenden schmerzhaften (traumatischen) Erfahrungen umzugehen lernen. Auch diese Aspekte werden durch Fallbeispiele versinnbildlicht.
IV. Abschluss
Teil IV (215-222) befasst sich mit der Frage „Dürfen sich Deutsche als Opfer fühlen“ (Kap. 13) und beantwortet diese auch unter Rekurs auf die bereits im Kritischen Zwischenruf (Kap. 9) aufgeworfenen Themen. Keinesfalls – so Peters – können die deutschen Einzelschicksale auf einer Stufe mit etwa jüdischen Opfern gestellt werden. Obgleich auch Deutsche als Opfer Mitgefühl verdienen, so gilt es eindringlich daran festzuhalten, dass der sogenannte Opferstatus von Deutschen immer im Kontext der nationalsozialistischen Verbrechen reflektiert werden muss. Wesentlich hierbei ist, sich gegen die leider nach wie vor weit verbreitete Haltung zu stellen, man könne eine private Erinnerungskultur von einer öffentlichen Erinnerungskultur trennen. Das letzte Kapitel stellt sich der Frage „was wir aus der Geschichte lernen können“ (Kap. 14). In den allgemeinen kurzen Antworten hebt der Autor u.a. den bedeutenden Beitrag der Flüchtlinge und Vertriebenen zur gesellschaftlichen Entwicklung und Modernisierung in der deutschen Nachkriegszeit hervor und regt an, das historische Bewusstsein über gelungene Integrationsprozesse zu nutzen, um in der aktuellen politischen Situation mehr Gelassenheit und Zuversicht zu bewahren.
Diskussion
Das Buch verbindet historische Kenntnisse über das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen während des Zweiten Weltkrieges und danach mit aktuellen Kenntnissen über Psycho- und Traumatherapie. Wissensbestände, die sowohl in der psychotherapeutischen, der psychosozialen und pflegerischen Praxis mit älteren und alten Menschen, die damals Kinder oder Jugendliche waren, ohne Zweifel sehr hilfreich sind. Zusätzlich bebildern die in den einzelnen Kapiteln ausgewählten Selbstbezeugungen und Fallgeschichten hervorragend das Spannungsfeld von Alter, Verlust und Trauma. Auch seine elaborierten Überlegungen zum Belastungs- und Entwicklungsmodell gibt einen hervorragenden Überblick über relevante Einflussfaktoren, die die Dynamiken von psychischen Langzeitfolgen negativ oder positiv prozedieren.
Mit seiner konsequent durchgehaltenen und gut begründeten Trennung zwischen den Phänomenen Flucht und Vertreibung, die beide historisch different zu bewerten sind, stellt sich der Autor vehement gegen die in der Nachkriegszeit entwickelten Verschmelzung, wie sie beispielsweise im Vertriebenengesetz von 1950 zementiert wurde. Es ist befreiend in dieser Klarheit vor Augen geführt zu bekommen, dass diese begriffliche Reduktion (wenn die Gruppe der Flüchtlinge stillschweigend der Gruppe der Vertriebenen zugeschlagen wird) entschlossen als Ausdruck der Verleugnung von Schuld bzw. Selbstverantwortung der Deutschen gelesen werden muss. Eine Verleugnung, die unter anderem auch den Konflikt um die Einrichtung eines Dokumentationszentrums „Flucht und Vertreibung“ in Deutschland lange Jahre genährt hat.
Festzuhalten bleibt, dass Meinolf Peters Überlegungen zur Psychotherapie mit älteren und alten Menschen, die Flucht und Vertreibung während des Zweiten Weltkrieges und danach erlebten, unbestritten auch eine hohe Relevanz für die Soziale Arbeit und die Pflege haben. Erkenntnisreich ist der, an den vielen Fallvignetten zusätzlich deutlich gewordene Sachverhalt, dass für diese Altersgruppe eine Biografiearbeit unter besonderer Berücksichtigung möglicher traumatischer Erlebnisse, die immer im Kontext des Nationalsozialismus zu betrachten sind, ausgesprochen hilfreich sein können. Eine traumasensible Biografiearbeit kann helfen, mit den neuen Anforderungen des Älter- und Altwerdens umgehen zu können und alte Verletzungen selbst noch im hohen Alter zu bearbeiten. Zugleich wird darüber ein fachlich notwendiges Gegengewicht gegen eine einseitig medicozentristische und pathogenisierende Sichtweise auf das Zusammenspiel von Alter und Trauma hergestellt, das in der Lage ist, eine Reduktion auf den Opferstatus vermeidet.
Auch die Reflexionen, die der Autor in seinen verschiedenen Kapiteln „Folgen für die klinische Praxis“ verfasst, können uneingeschränkt als konstruktive Angebote für bio-psycho-soziale Fachkräfte in der Altenarbeit genutzt werden. Seine differenzierten Aufforderungen, an die eigene Person Fragen zu stellen, die sich insbesondere auf das notwendige Wissen und die reflexive Haltung von psychosozialen Fachkräften beziehen, um die erforderliche Offenheit und Bereitschaft zur Empathie mit Flüchtlingen und Vertriebenen aufbringen zu können, lassen sich zugleich als konstruktive Hinweise für die notwendige Selbstfürsorge der Professionellen lesen. Dazu gehören Fragen des eigenen Altersbildes ebenso wie die Reflexion der eigenen lebensgeschichtlichen Erfahrung mit älteren Menschen.
Als grundlegend betrachte ich auch seine Analogie zwischen einer potenziell spannungsreichen Kommunikation zwischen den Generationen und jener zwischen Mitgliedern unterschiedlicher Kulturen. So wie in der interkulturellen Psychotherapie und interkulturellen sozialen Altenarbeit es erforderlich ist, dass sich Fachkräfte mit der Kultur vertraut machen, aus der die sich ihnen anvertrauenden und anvertrauten Menschen stammen, so gilt dies gleichermaßen für eine professionelle Praxis mit Menschen aus anderen Generationen. Das bedeutet sich immer eine Vorstellung von den Gebräuchen, Gewohnheiten, Einstellungen und der Lebensart der Menschen zu machen sowie sich über die gesellschaftliche und politische Situation ihres Aufwachsens zu informieren.
Fazit
Der vorliegende Band von Meinolf Peters „Das Trauma von Flucht und Vertreibung“ bietet einen hervorragenden, kritischen Überblick über historische Hintergründe, inter- und intrapsychische Dynamiken und fachlich versierte Überlegungen für eine mögliche Hilfe bei der Verarbeitung von Flucht- und Vertriebenenerfahrungen älterer Menschen in klinischer, psychotherapeutischer, pflegerischer, pädagogischer und sozialarbeiterischer Praxis. Die theoretischen Wissensbestände werden in einer klaren, gut verständlichen Sprache vermittelt, und die zahlreichen bewegenden Selbstzeugnisse und Fallvignetten tragen zu einem vertieften Verständnis möglicher Konflikte, Leidens- und Aufklärungsprozesse der Zielgruppe bei. Eine unbedingte Pflichtlektüre für Professionelle und Laien, die mit älteren Menschen arbeiten und ein äußerst anregendes Lesebuch für diejenigen, die sich für die (auch aktuelle) Situation von Menschen mit Flucht- und Vertriebenenerfahrungen einschließlich der Auswirkungen auf die Nachfolgegeneration politisch und privat interessieren.
Rezension von
Prof. Dr. Margret Dörr
Professorin (i. R.) für Theorien Sozialer Arbeit, Gesundheitsförderung an der Katholischen Hochschule in Mainz, Fachbereich Soziale Arbeit und Sozialwissenschaften.
Arbeitsschwerpunkte: Affektabstimmungsprozesse in der Sozialpsychiatrie (BMBF-Projekt)‚ Psychoanalytische (Sozial)Pädagogik, Gesundheitsförderung.
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Es gibt 27 Rezensionen von Margret Dörr.
Zitiervorschlag
Margret Dörr. Rezension vom 08.03.2019 zu:
Meinolf Peters: Das Trauma von Flucht und Vertreibung. Psychotherapie älterer Menschen und der nachfolgenden Generationen. Klett-Cotta Verlag
(Stuttgart) 2018.
ISBN 978-3-608-96205-5.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/24153.php, Datum des Zugriffs 13.12.2024.
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