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Christian Mürner: Autobiografie und Behinderung

Rezensiert von Prof. Dr. Manfred Jödecke, 14.11.2018

Cover Christian Mürner: Autobiografie und Behinderung ISBN 978-3-7799-3783-8

Christian Mürner: Autobiografie und Behinderung. Markante Lebensberichte seit 1950. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2018. 219 Seiten. ISBN 978-3-7799-3783-8. D: 16,95 EUR, A: 17,50 EUR, CH: 23,90 sFr.

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Thema

„Autobiografie und Behinderung“ versammelt 55 Rezensionen des Autors zu „markanten Lebensberichten“, die zwischen 1950 und 2017 geschrieben wurden.

Aufbau

Das Buch als solches ist in sechs Teile gegliedert. Die Deutsche Nationalbibliothek bietet Einblick in das vollständige Inhaltsverzeichnis.

Inhalt

Der I. Teil leitet ein mit „Aktualität, Intention und Begriffsklärung“.

Im II. Teil werden vom Autor Überlegungen zur Auswahl der rezensierten Autobiografien angestellt. Besonderes Augenmerk widmete er dabei, „den Begleitumständen, die die Aufmerksamkeit auf die Autobiografien lenken“ (S. 17). „Paratexte“, zu ihnen werden Vorankündigungen des Verlags, Verlagsort, Erscheinungsjahr, Zitate, Mottos, Widmungen, Danksagungen, Klappentext, Text auf Umschlagrückseite, Titelgestaltung inclusive fotografische Portraits, Titelformulierung u.a. gezählt, bilden „das Beiwerk“ der Lebensberichte. Obwohl diese nicht zum Manuskript der Autobiografie selbst gehören, bestimmen sie doch deren Rahmen.

Der III. Teil des Buches ist das Kernstück des Buchs und enthält die oben genannten Kurzrezensionen von Autobiografien und autobiografischen Sachbüchern. Mürner ging es bei der Vorstellung und Diskussion von „Selbsterlebensbeschreibungen“ nicht so sehr um Vollständigkeit als um das Exemplarische des Unternehmens und um die Beantwortung grundlegender Fragen (S. 13):

„Wie schreiben behinderte Autorinnen und Autoren selbst über ihre Erfahrungen und ihr Leben? Welches sind die Leitmotive? Was ist die Motivation für die Abfassung einer Autobiografie oder eines autobiografisch orientierten Sachbuchs mit dem thematischen Schwerpunkt der Darstellung und Erfahrung mit Behinderung?“

Der IV. Teil enthält längere Textpassagen aus den Autobiografien von

  • Adrien Turel (1976),
  • Ortrun Schott (1983),
  • Hanns Dieter Hüsch (1990),
  • Gerald Metroz (2002),
  • Tilmann Kleinau (2009),
  • Susanne Krahe (2011),
  • Heidi Fischer (2016) sowie
  • Mirjam Brandenerger,
  • Andreas Meyer,
  • Lea Fadenlauf,
  • Simon Diriwächter (2015),

deren Auswahl auf der Grundlage solcher „Schlagwörter, Brennpunkte und Nuancen“, wie „Selbstkritik und Konkurrenz“, „Selbstverständlichkeit und Ausnahmesituation“, „Verletzlichkeit und Widerstandskraft“ getroffen wurde (vgl. S. 163 f.).

Der V. Teil befasst sich mit der theoretisch- konzeptionellen Rahmung von „Autobiografie und Behinderung“. So stelle die Einführung der Disability studies in Deutschland 2001, die im selben Jahr von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) beschlossene „Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit“ (ICF) sowie die UN- Behindertenkonvention (2006), die Anerkennung und Autonomie zu Leitbegriffen mache und das „»künstlerische und intellektuelle Potenzial« behinderter Menschen als »Bereicherung der Gesellschaft«“ würdige, für die Sammlung eine (historische) Zäsur dar. Und tatsächlich: „Behinderung“ lässt sich mit den 29 rezensierten Autobiografien seit 2002 auf neue Weise auf den Begriff bringen- etwa als „verkörperte Differenz“ und „verkörperte Ambivalenz“ (vgl. S. 184 f.). Auf der Umschlagrückseite wird dazu festgehalten: „Im Gegensatz zum 20. Jahrhundert wird im 21. Jahrhundert zunehmend eine direkte Darstellung des Themas und der Autorin oder des Autors wegweisend. Ausdruck der veränderten Sichtweise ist auf persönlicher Ebene weniger ein Makel oder eine Abweichung. Im Vordergrund stehen vielmehr die Fähigkeiten, Aktivitäten und Werke“.

Der bilanzierende VI. Teil würdigt Ergebnisse und Qualitätsausweise autobiografischen Schreibens im Zusammenhang mit Behinderung. Zu diesen zählt der Autor:

  • Die Absicherung der Information (u.a. Legitimation und Beglaubigung),
  • den Detailreichtum(u.a. sorgfältige Schilderungen, wenige pauschale Charakterisierungen),
  • die Ratschläge zur Aufklärung (u.a. Erkenntnisse als Ermutigungen – belehrend, unterhaltend, humorvoll),
  • die Bestätigung des Beispiels (etwa des eingeschlagenen Lebenswegs, der Leistungsfähigkeit),
  • die Lebensnähe des Wahrheitsanspruchs (sachlicher Vorrang gegenüber dem literarischen Ausdruck),
  • den Sinnzusammenhang der Selbstdarstellung (u.a. Identitätssuche, Selbstbewusstsein, Selbstreflexion, vgl. S. 195/196).

Diskussion

Leben ist alles andere als fortwährendes Glück. Auch das Leiden gehört zum Leben. Dies anzuerkennen, bedeutet noch lange nicht, sich dem Leiden, das mit Krankheiten und Beeinträchtigungen einhergeht, ergeben zu müssen. Besonders eindrucksvoll zeigt dies die Kurzvorstellung der autobiografischen Schrift von Karl Jaspers' „Schicksal und Wille“ im vorliegenden Buch (S. 50-52). Wie dieser schreibt, durfte die Sorge um das seit seiner Kindheit bestehende „körperliche Missbefinden“ (Bronchiektasen) nicht zum alleinigen Lebensinhalt werden, vielmehr musste alles nach der Krankheit gerichtet werden, „ohne ihr zu verfallen“. Mehr noch, das Leiden wandelt sind von einer Schwäche der Ausgangsbedingung (Jaspers wurde u.a. eine sehr niedrige Lebenserwartung prognostiziert) in eine Stärke der Gerichtetheit von Lebensführung. Alfred Adler nannte dies seinerzeit Überkompensation oder „super Plus“.

Autobiografien im Zusammenhang mit Behinderung sind tatsächlich nicht so sehr „Fallbeispiele“ oder „Problemgeschichten im Sinne der Bewältigung von Behinderung“, sondern „Dokumentationen eines Lebensstils“, „Selbstpositionierungen“ zwischen „Anpassung und Widerstand“. Das autobiografische Schreiben und die damit verbundenen literarischen Ideen verhelfen den Autor/-innen dazu, sich vom Leben distanzieren und sich ihm nachfolgend auch wieder annähern zu können- nicht zuletzt dadurch, dass des Lebens innere Tendenz von den Leser/-innen erschlossen und zu einem Ganzen zusammengefügt wird.

Zielgruppen

Studierende und Lehrende kultur-, sozialwissenschaftlicher und (heil-) pädagogischer Fachrichtungen, Interessierte helfender Berufe

Fazit

Das Buch eröffnet der Leserin und dem Leser die faszinierende Möglichkeit der Orientierung und Einordnung von Erkenntnissen aus Innenperspektiven eines (durch Beeinträchtigungen erschwerten) Lebens- jenseits von Beschönigung und (Selbst-) Mitleid.

Es besticht durch seine Tiefe und Unabgeschlossenheit.

Literatur

  • Adler, Alfred (1977), Studie über Minderwertigkeit von Organen. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. Main
  • Jödecke, Manfred, „Mehr als schöne Geschichten…“- zur diagnostischen Relevanz erzählter Behinderung und Inklusion. In: Römer, Susanne (Hg.) (2017): Diagnostik als Beziehungsgestaltung. Beziehungen eingehen, reflektieren und gestalten- Diagnostik in Dialog und Kooperation. Frank & Timme, Berlin (S. 57-80)

Rezension von
Prof. Dr. Manfred Jödecke
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Es gibt 32 Rezensionen von Manfred Jödecke.

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ISSN 2190-9245