Horst Dreier: Staat ohne Gott. Religion in der säkularen Moderne
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 06.04.2018
Horst Dreier: Staat ohne Gott. Religion in der säkularen Moderne. Verlag C.H. Beck (München) 2018. 256 Seiten. ISBN 978-3-406-71871-7. 26,95 EUR.
Thema
„Der Umgang mit moralischer und religiöser Vielfalt ist eine der größten Herausforderungen, mit denen unsere Gesellschaften gegenwärtig konfrontiert sind.“ In der „globalen Ethik“, der Menschenrechtsdeklaration der Vereinten Nationen, heißt es eindeutig: „Jedermann hat das Recht der Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit“. Damit gilt das nicht relativierbare Prinzip: Glauben und glauben lassen; wie ebenso: Nichtglauben und nicht glauben lassen! Keine gesellschaftliche und politische Macht, keine Weltanschauung und keine Ideologie darf Glauben oder Nichtglauben verordnen oder verbieten! Die Laizität als strikte Trennung von staatlicher und religiöser Macht und Institutionalisierung soll diese Freiheiten garantieren. Doch diese Vision ist umstritten. Das zeigt nicht nur ein Blick auf die Historie, sondern auch auf die Gegenwart: Das Prinzip der gleichen Achtung und der Gewissensfreiheit und der Verfahrensmodi zur Verwirklichung der Trennung von Kirche und Staat, sowie Neutralität des Staates gegenüber den Religionsgemeinschaften wird immer wieder durch Ideologien, Machtpositionen und Fundamentalismen durchbrochen und verhindert.
Die kanadische Regierung hat 2007 eine Kommission eingesetzt mit dem Ziel, Antworten auf die kontroversen Diskussionen und Positionen zu finden, welche Bedeutung Religion in der Gesellschaft und Öffentlichkeit haben solle und wie eine Neubestimmung einer laizistischen Politik vorgenommen werden solle. Das Ergebnis ist kein Diktat, sondern die Herausforderung zum Perspektivenwechsel in zweierlei Hinsicht: Zum einen die von Unverständnis, Misstrauen und Intoleranz geprägten Beziehungen zwischen religiösen und nichtreligiösen Personen zu überwinden, zum anderen dafür einzutreten, dass die Staaten der Erde in selbstverständlicher und grundsätzlich demokratischer Weise anerkennen und verwirklichen, die innerhalb der Gesellschaft bestehende moralische und spirituelle Diversität anzuerkennen, ermöglichen und verteidigen. Es geht darum, „die soziale Kooperation in durch Diversität gekennzeichneten Gesellschaften in der möglichen Einigung zwischen vernünftigen Bürgern über die Grundprinzipien ihrer politischen Gemeinschaft (zu) verankern“ (Jocelyn Maclure / Charles Taylor, Laizität und Gewissensfreiheit, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12786.php).
Bei der Betrachtung der Begriffe „Säkularität“ und „Säkularismus“ ( vgl. dabei auch die im christlich-islamischen Dialog vorgenommenen, religionswissenschaftlichen und -philosophischen Unterscheidungen: Richard Heinzmann / Peter Antes / Martin Thurner / Mualla Selcuk / Halis Albayrak, Hrsg., Lexikon des Dialogs. Grundbegriffe aus Christentum und Islam, 2013, www.socialnet.de/rezensionen/16646.php) muss auch bedacht werden, welche individuellen und kollektiven Einflüsse und Wirkungen religiöses (dogmatisches) Denken und Handeln auf Menschen haben können (Ines-Jacqueline Werkner, Hrsg., Religion in der Friedens- und Konfliktforschung. Interdisziplinäre Zugänge zu einem multidimensionalen Begriff, 2016, www.socialnet.de/rezensionen/20487.php), und welche Möglichkeiten des „Selbstdenkens“ sich um Aufklärung bemühende Menschen haben ( Maxi Berger / Tobias Reichardt / Michael Städtler, Hrsg., „Der Geist geistloser Zustände“. Religionskritik und Gesellschaftstheorie, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/13711.php).
Entstehungshintergrund und Autor
Die Forderung nach „Staat ohne Gott“ heißt nicht: Welt ohne Gott, und auch nicht: Gesellschaft ohne Gott; vielmehrwird mit diesem säkulären Anspruch zum Ausdruck gebracht: „Religionsfreiheit der Bürger und weltanschaulich-religiöse Neutralität des Staates sind die beiden Säulen, auf denen die Säkularität des freiheitlichen Verfassungsstaates ruht“. Diesen Grundsatz gilt es, in das freiheitlich-demokratische Bewusstsein der Menschen zu bringen und allen Versuchen von populistischen Kakophonien Paroli zu bieten.
Der Ordinarius für Rechtsphilosophie, Staats- und Verwaltungsrecht an der Juristischen Fakultät der Julius-Maximilians-Universität in Würzburg, Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Horst Dreier, betont zeit- und situationsgerecht (sic!) in seiner Analyse „Staat ohne Gott“, dass „die säkulare Grundrechtsdemokratie des Grundgesetzes mit jedweder Form eines Gottesstaates, einer Theokratie, einer sakralen Ordnung oder eines christlichen Staates gänzlich unvereinbar ist“. Denn es gilt: „Im freiheitlichen Verfassungsstaat ist die Autorität des Rechts von der Autorität eines bestimmten Glaubens oder einer bestimmten Weltanschauung abgekoppelt“.
Der Rezensent nimmt diese Prämisse zum Anlass, zum aktuellen gesellschaftspolitischen Kakophonismus die Mahnung einzubringen: „Höret und Beachtet, ihr Politiker, ihr Ideologen und Populisten, was es zu hören und zu beachten gilt im Diskurs zur Bewahrung und Verteidigung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung“: Denn: Säkularisierung bedeutet nicht Freiheits- und Selbstbestimmungsverlust, sondern Gewinn! Nach diesem, zugegebenermaßen subjektivem, von der Überzeugung eines Demokraten getragenem, emotionalem Zwischenruf wieder zur Analyse des Rechtsphilosophen.
Aufbau und Inhalt
Der Autor gliedert sein Essay, neben der Einführung mit der Überzeugung, dass „der säkulare Staat als religiöser Freiheitsgewinn“ verstanden werden sollte, in sechs Kapitel.
- Im ersten formuliert er „Facetten der Säkularisierung“;
- im zweiten legt er eine „kurze Verfassungsgeschichte der Religionsfreiheit in Deutschland“ vor;
- im dritten thematisiert er Konzepte, Kritik und Kontroversen zur „religiös-weltanschauliche(n) Neutralität des Staates“;
- im vierten geht es um die Frage: „Sakrale Elemente im säkularen Staat?“;
- im fünften um die „Präambel Gott“; und
- im sechsten Kapitel schließlich setzt er sich mit dem berühmt gewordenen „Böckenförde-Diktum“ auseinander.
Die unterschiedliche Benennung und Zuordnung des Begriffs „Säkularisierung“ – als individuelle und kollektive Zustandsbeschreibung, als „Verweltlichung“, „Neutralisierung“ oder Loslösungen von Bindungen und Zugehörigkeiten – macht es notwendig, im verfassungspolitischen Diskurs sich im Klaren zu sein, „auf welcher Ebene man Säkularisierung eigentlich verortet: auf staatlicher und gesamtgesellschaftlicher Ebene, auf der Ebene der Individuen oder auf einer relativ diffusen Zwischenebene des öffentlichen Wirkens“. Es ist deshalb wichtig und notwendig, dass Dreier seine Analyse mit einer Begriffsdiskussion und -herleitung beginnt. Er nimmt dabei die Positionen auf, wie sie der Philosoph Hans Blumenberg (1920 – 1996) in seinem geistes- und philosophiegeschichtlichen Werk der „Metaphorologie“ eingeführt hat und setzt sich kritisch mit der Metapher „christliches Erbe“ auseinander. So kommt er schließlich zu einer Definition, die beim weiteren Diskurs grundgelegt sind: „Säkular … ist derjenige Staat, der Religionsfreiheit für alle Bürger gewährleistet und sich selbst weltanschaulich-religiöser Neutralität befleißigt, sich also nicht mit einem bestimmten Glauben identifiziert“.
Diese Idealvorstellung freilich fällt nicht vom Himmel. Sie wird weder auf dem Berg Sinai (vor)geschrieben, noch per Ordre du Mufti diktiert, sondern muss intellektuell und gesellschaftlich immer wieder neu begründet und verteidigt werden. Das zeigt die skizzierte Verfassungsgeschichte der Religionsfreiheit in Deutschland in den unterschiedlichen historischen, repräsentativen und repressiven Stationen.
Die Verfassheit der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates ist zwar im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland nicht begrifflich festgelegt, doch der Bedeutungsgehalt und die gesamte ethische und rechtliche Bestimmung der Verfassung weist aus, dass „die für alle geltenden Gesetze ( ) so beschaffen sein (müssen), dass sie nicht bestimmte Glaubenssätze einer Religion oder Weltanschauung voraussetzen oder allein zu deren Durchsetzung dienen“.
Der „Religious turn“, wie er sich in den Geistes- und Kulturwissenschaften zeigt (vgl. dazu z.B. auch: Reinhard Mehring, Die Erfindung der Freiheit. Vom Aufstieg und Fall der Philosophischen Pädagogik, 2018, www.socialnet.de/rezensionen/24040.php), lässt die Frage laut werden, ob es, und wenn ja welche sakrale Elemente im säkularen Staat gibt und wie sie im wissenschaftlichen, lokalen und globalen Diskurs thematisiert werden (siehe z.B.: Hans Joas, Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12425.php). Der Autor weist solche Begründungszusammenhänge zurück: „Für ein angemessenes Verständnis des freiheitlichen, demokratischen Verfassungsstaates müssen wir weder die verfassungsgebende Gewalt zu einem Mythos stilisieren, noch die mit umfänglichen Freiheitsrechten ausgestatteten Mitglieder eines politischen Gemeinwesens mit dem Attribut der Heiligkeit versehen“.
Diesen Einwand gilt es zu begründen, beginnt doch das Grundgesetz mit dem Satz: „Im Bewusstsein vor Gott und den Menschen…“. Mit der Überschrift „Präambel-Gott“ unternimmt Dreier eine Bestandsaufnahme, in der er den Diskussions- und Entstehungsverlauf zum Gottesbezug in der deutschen Verfassung nacherzählt. Er weist nach, dass es ungerechtfertigt wäre, „aus der Erwähnung Gottes in der Präambel ein Staatsziel mit dem Inhalt der Durchsetzung christlichen Gedankenguts zu deduzieren und eine individuelle wie staatliche Verpflichtung auf den christlichen Schöpfergott einzufordern“.
Das „Böckenförde-Diktum“, eine im öffentlichen, gesellschaftspolitischen Standortbestimmungen als „unwidersprechlich und fundamental“ bezeichnete Wahrheit, stammt von einer Rede, die der Staats- und Verwaltungsrechtler, Rechtsphilosoph und Richter am Bundesverfaasungsgericht Ernst-Wolfgang Böckenförde 1967 beim wissenschaftlichen „Ebracher Ferienseminar“ mit dem Titel „Säkularisation und Utopie“ gehalten hat. Mit diesem, auf den Ergebnissen des Zweiten Vatikanischen Konzils 1962 fußendem Text. Er wird in der Bedeutung und Rezeption so ausgelegt, dass er „als Aufforderung an die Katholiken in Deutschland zu verstehen gewesen (sei), die Distanz zum demokratischen pluralen Staat aufzugeben und stattdessen sein Freiheitsgebot anzunehmen, also aktiv in ihm mitzuwirken“. Die unterschiedlich interpretativ sich anbietenden und in der wissenschaftlichen und allgemeingesellschaftlichen Diskussion kontrovers verstandenen Textstellen – insbesondere der Satz: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann“ – lassen nur die eine Überzeugung übrig, „uns beharrlich daran zu erinnern, dass das politische Gemeinwesen seine Dauerhaftigkeit weder allein aus dem reibungslosen Funktionieren der staatlichen Institutionen noch aus der Gewährleistung beliebigen Freiheitsgebrauchs seiner Bürger gewinnen kann, sondern dass es eines gesellschaftlichen ‚Surplus‘ bedarf“.
Fazit
Der mehrdeutige Titel „Staat ohne Gott“ führt nicht hin zu einer „gottlosen Gesellschaft“, sondern ordnet Religiosität und Weltanschauung den Bereichen zu, in die sie gehören, als persönliche Entscheidung, ob Menschen an einen Gott glauben wollen oder nicht, und welche Göttlichkeit es sein soll. Die Analyse über die Bedeutung von Religion in der säkularen Moderne ist kein Plädoyer für Gottlosigkeit oder Atheismus, sondern soll hinführen zur Erkenntnis, dass Säkularität kein Glaubensverbot, noch ein Glaubensdiktat ist, bewirkt oder verhindert, sondern Glaubensfreiheit garantiert. Diese Auffassung ist in den Zeiten der politischen Unsicherheiten, der Fundamentalismen und Populismen wichtiger und notwendiger denn je!
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 06.04.2018 zu:
Horst Dreier: Staat ohne Gott. Religion in der säkularen Moderne. Verlag C.H. Beck
(München) 2018.
ISBN 978-3-406-71871-7.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/24165.php, Datum des Zugriffs 12.09.2024.
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