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Berta Schrems: Verstehende Pflegediagnostik

Rezensiert von Prof. Dr. Michael Schilder, 27.11.2018

Cover Berta Schrems: Verstehende Pflegediagnostik ISBN 978-3-7089-1688-0

Berta Schrems: Verstehende Pflegediagnostik. Grundlagen zum angemessenen Pflegehandeln. Facultas Verlag (Wien) 2018. 2., überarbeitete Auflage. 256 Seiten. ISBN 978-3-7089-1688-0. D: 28,10 EUR, A: 28,90 EUR, CH: 35,60 sFr.

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Autorin

Die österreichische Autorin des vorliegenden Werks ist eine Gesundheits- und Krankenpflegerin mit Studium der Soziologie und Philosophie, Habilitation in Pflegewissenschaft, mit Weiterbildungen im Bereich der Personal- und Organisationsentwicklung sowie Qualitäts- und Projektmanagement. Sie ist freiberuflich in Lehre, Beratung und Forschung mit den Schwerpunkten Pflegediagnostik, Wissenschaftstheorie und QM tätig. Außerdem ist Berta Schrems Privatdozentin der Universität Wien, Mitherausgeberin der Zeitschrift Pflege und Mitglied des Gesundheits- und Krankenpflegebeirats des Bundesministeriums für Gesundheit in Österreich.

Entstehungshintergrund

Im Rahmen ihrer Forschungs-, Lehr- und Publikationstätigkeit verfügt Berta Schrems über eine langjährige Expertise in dem Bereich der Pflegediagnostik. Das vorliegende Werk stellt die zweite Auflage ihres grundlegenden Werkes der Verstehenden Pflegediagnostik dar, das im Jahr 2008 erstmals veröffentlicht wurde (vgl. die Rezension). Es steht in der Fortführung ihrer langjährigen Beschäftigung mit der Pflegediagnostik und der Fallarbeit in der Pflege. Diese Publikation richtet sich in erster Linie an Lehrende, Forschende und Studierende pflegeorientierter Studiengänge und weniger an Pflegende in der praktischen Pflege sowie an alle an den theoretischen und philosophischen Grundlagen der Pflegediagnostik interessierte Personen.

Aufbau und Inhalt

Der Aufbau des Buches stellt sich nach einer Einleitung wie folgt dar (Unterkapitel sind an dieser Stelle nicht aufgeführt, vgl. das vollständige Inhaltsverzeichnis bei der Deutschen Nationalbibliothek):

  1. Verstehende Pflegediagnostik
  2. Subjektives Erleben und andere Beschreibungen der ersten Person
  3. Wissenschaftliche Erkenntnisse und andere Beschreibungen der dritten Person
  4. Verstehen und andere Beschreibungen der zweiten Person
  5. Angemessenheit als Ziel der Verstehenden Pflegediagnostik

Das erste Kapitel beinhaltet die grundlegende einführende Darstellung des Ansatzes der Verstehenden Pflegediagnostik im Überblick. Auf der Basis wesentlicher Ausführungen zum zentralen Kern des Verstehens, zur Pflegediagnostik als spezifischer Anwendungsform im Besonderen und dessen Grundlagen, wird der Ansatz der Verstehenden Pflegediagnostik zunächst im Groben ausgeführt. Verstehende Diagnostik, von Schrems als deskriptives Strukturmodell konzeptualisiert, versteht sich als „ein Zugang zu einer Pflegesituation, in der die Probleme nicht allein aus der objektivierenden Sicht der professionell oder privat Helfenden, sondern auch aus der der betreffenden Person definiert werden“ (Bartholomeyczik et al. 2006: 61 in Schrems 2018: 25). Über die bereits aus der ersten Auflage des Werks bekannten Inhalte hinausgehend, führt Schrems weitere Zusammenhänge der Verstehenden Pflegediagnostik in Form der Gesundheitskompetenz und Adhärenz als Weiterentwicklung von Coping und als „Messgröße“ für die Angemessenheit fachlicher Pflege auf. Zum Verständnis der teils recht abstrakten und auf hohem Niveau liegenden Ausführungen, verdeutlicht Schrems ihre wissenschaftlichen und philosophischen Ausführungen anhand konkreter Pflegephänomene im Zusammenhang mit Demenz, wie BPSD, herausforderndes Verhalten, NDB, Schmerz und weiteren einschlägigen Studien. Intensive Beachtung finden auch die fachlichen und personellen Voraussetzungen der Verstehenden Pflegediagnostik. Dies verdeutlicht die geforderte hohe Qualifikation der Diagnostikerin mit sowohl fachlichen als auch persönlichen Voraussetzungen für die Implementation der Verstehenden Pflegediagnostik in die Pflegepraxis. So fordert die fall- und situationsspezifische Anwendung überindividueller Wissensbestände, wie z.B. Forschungsstudien, Richtlinien, standardisierter Pflegediagnosen und Assessmentinstrumente, vor allem auch eine ethische Grundhaltung zur systematischen und gezielten Einbindung der Klienten in den diagnostischen Prozess und in die Aushandlung über die Strategie der Zielerreichung im Sinne von Adhärenz, was letztlich als Zieldimension der Verstehenden Pflegediagnostik zur Angemessenheit in der Situationsbewältigung führt. Der Text wird didaktisch durch Kästchen mit zentralen Aussagen aufgelockert, die die Lesbarkeit des Textes maßgeblich steigern. Auch die Abbildungen visualisieren komplexe Sachverhalte anschaulich und tragen zum Verständnis bei.

Das zweite Kapitel beinhaltet die bereits aus der ersten Auflage bekannten Aspekte des subjektiven Erlebens und anderer Beschreibungen der ersten Person bzw. die Person, auf die die Verstehende Pflegediagnostik bezogen ist. Die Erschließung des Erlebens fordert von der Fachperson spezielle Kompetenz und Reflexion, da „Erleben […] ein in spezieller Form an Personen gebundenes Wissen [ist], das einer ebenso speziellen Erschließung bedarf, wobei die Erinnerung und die Erfahrung eine zentrale Rolle spielen“ (Schrems 2018: 43). Diese Begriffe stehen daher zur weiteren Untermauerung des Ansatzes der Verstehenden Pflegediagnostik im Zentrum der Betrachtung, um deren Bedeutung und ihren erkenntnistheoretischen Wert für die Verstehende Pflegediagnostik und die Möglichkeiten der Erschließung zu ergründen. Dazu werden philosophische und phänomenologische Bezüge des Erlebens als subjektives und bedeutungsvolles Ereignis beleuchtet und pflegepraktische Bezüge zum Phänomen Schmerz hergestellt, bevor dann die Erinnerung und das Gedächtnis als „Brücke zwischen Erleben und Erfahrung“ aufgegriffen werden, die zum Teil erklärt, wie und wodurch das Erleben eines Phänomens Bedeutung erhält (Schrems 2018: 56). Im weiteren werden die Begriffe Erfahrung und Introspektion ausgeführt.

Das dritte Kapitel ist der Darlegung der Wissenschaftlichen Erkenntnisse und anderer Beschreibungen der „dritten Person“, also dem forschungsbasierten und fachlich überindividuellen abstrakten Wissen, das im Rahmen der Verstehenden Pflegediagnostik insofern Bedeutung erlangt, als sie „die Erfassung eines Phänomens dem jeweiligen Erkenntnisstand entsprechend leiten, Erklärungen bieten und die Bedeutungs- und Relevanzstrukturen der diagnostizierenden Person neutralisieren“ (Schrems 2018: 99). Hiermit ist auf das Wissen der Wissenschaft und der institutionellen Erkenntnisse bzw. Erfahrungswissen verwiesen. In diesem Zusammenhang wird auch der klinische (naturwissenschaftliche) und der phänomenologische Evidenzbegriff (Evidenzen der Lebenswelt) im Verhältnis zueinander geklärt und im Zusammenhang der Verstehenden Pflegediagnostik insofern aufgelöst, als im Ansatz der Verstehenden Pflegediagnostik die Bedeutung eines Problems für die Betroffenen als gleichwertige Form von Evidenz begriffen wird. Außerdem wird im Rahmen dieser Auflage ausführlicher auf die Bedeutung von Assessmentinstrumenten, Pflegediagnosen und auf EBN eingegangen.

Das vierte Kapitel beinhaltet Verstehen als Kunst der Auslegung bzw. im Ansatz der Verstehenden Pflegediagnostik „die Vermittlung der Beschreibungen der ersten und der dritten Person vor dem Hintergrund des jeweiligen Erfahrungshorizonts“ (Schrems 2018: 143). Verstehende Pflegediagnostik beinhaltet auf dieser Basis „den Prozess der Transformation zweier Erlebnisse zu einer Erkenntnis“ als deren dritte Kerndimension, die im Ergebnis zum Verstehen führt. Die für diesen Vorgang der Sinndeutung notwendigen Elemente sind Gegenstand dieses Kapitels, wie die Hermeneutik, das Konzept Bedeutung, welches in Bezug auf Krankheit, die Pflegetheorie von Rizzo Parse und die Salutogenese und den Symbolischen Interaktionismus reflektiert wird. Aspekte der objektiven Hermeneutik werden unter Ergänzung des hypodeduktiven Problemlösungsansatzes in den Kontext der Pflege gestellt und anschaulich am Beispiel des verstehenden Zugangs zu Menschen mit Demenz präzisiert und im Setting der interpretativen Fallarbeit aufgelöst, deren Ziel das Verstehen der Bedeutung eines Problems ist, um auf dieser Basis zu einer „fachlich angemessenen und für die betroffenen Personen optimalen Lösung zu gelangen“ (Schrems 2018: 195). Das Ergebnis der Auslegung im Rahmen der interpretativen Fallarbeit liegt in dem „gemeinsamen Verständnis zur Situation und daraus abgeleitet eine dem Problem fachlich angemessene und für die betroffene Person optimale Lösung“ vor (Schrems 2018: 204).

Das fünfte Kapitel schließlich enthält das Thema Angemessenheit als Ziel der Verstehenden Pflegediagnostik, das im Vergleich zur ersten Auflage um das Unterkapitel Konzepte zur maßgeschneiderten Gesundheitsversorgung erweitert wurde. Angemessenheit wird als „maßgeschneiderte Pflege“ begriffen, die aber der betroffenen Person nur dann „wie angegossen sitzt“, wenn die Situation der am Aushandlungsprozess beteiligten Personen mitbedacht und in die „Maßarbeit“ einbezogen wird (Schrems 2018: 205). Neben Aspekten der personalisierten Gesundheitsversorgung und Pflege werden Facetten der Personen- und Patientenzentrierten Gesundheitsversorgung und Pflege aufgegriffen, wie Kitwoods Ansatz, die für die Verstehende Pflegediagnostik eine beispielhafte Grundlage für die Schaffung angemessenen Pflegehandelns bieten. Dann wird näher auf Konzepte zur Angemessenheit eingegangen. In der direkten Pflege findet die Prüfung auf Angemessenheit im Rahmen der Evaluation des Pflegeprozesses statt, wobei die Pflegediagnose im Verhältnis zum Pflegeziel im Sinne von Zielerreichung oder Problemlösung den Maßstab dafür bietet. Auch weitere Ebenen von Angemessenheit werden aufgegriffen.

Diskussion

Das in der zweiten Auflage überarbeitet vorliegende Buch Verstehende Pflegediagnostik bündelt bezugs- und pflegewissenschaftliche sowie auch philosophische Zugänge, deren Kenntnis und Reflexion für die Umsetzung des hoch anspruchsvollen Vorgangs der Situationsdeutung und -bewältigung im Kontext der Pflegediagnostik als voraussetzend anzusehen ist. Insbesondere Lehrenden bietet dieses zentrale Grundlagenwerk ein umfangreiches Hintergrundwissen. Schrems versteht es, komplexe aber auch grundlegende Dimensionen der Verstehenden Pflegediagnostik zusammenzubinden und immer wieder Theorie-Praxis-Transfers anhand konkreter Pflegephänomene herzustellen. Damit ist die Lektüre dieses Buches für all diejenigen unverzichtbar, die diese Zusammenhänge verstehen und anderen vermitteln wollen. Dabei ist dieses Werk sehr facettenreich, insofern auch die Umsetzung der Verstehenden Pflegediagnostik in der Fallarbeit thematisiert wird. Im Vergleich zu anderen Lehrbüchern zur Pflegediagnostik geht das Werk Schrems gerade in den philosophischen, wissenschaftstheoretischen und ethischen Bereichen wesentlich mehr in die Tiefe.

Fazit

Auch in der zweiten Auflage liegt mit diesem Werk eine unverzichtbare Lektüre für Lehrende und Lernende der Pflegediagnostik sowie auch für Praktiker, die in Einrichtungen des Gesundheitswesens die Grundlagen für die Implementierung der Verstehenden Pflegediagnostik schaffen müssen, vor. Ich wünsche dem Werk daher eine weite Verbreitung, insbesondere auch mit den in der zweiten Auflage neu aufgenommenen Inhalten.

Rezension von
Prof. Dr. Michael Schilder
Professor für klinische Pflegewissenschaft an der Evangelischen Fachhochschule Darmstadt
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Es gibt 17 Rezensionen von Michael Schilder.

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Zitiervorschlag
Michael Schilder. Rezension vom 27.11.2018 zu: Berta Schrems: Verstehende Pflegediagnostik. Grundlagen zum angemessenen Pflegehandeln. Facultas Verlag (Wien) 2018. 2., überarbeitete Auflage. ISBN 978-3-7089-1688-0. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/24173.php, Datum des Zugriffs 13.09.2024.


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