Alexander Birken (Hrsg.): ZukunftsWerte
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 14.06.2018

Alexander Birken (Hrsg.): ZukunftsWerte. Verantwortung für die Welt von Morgen. Steidl (Göttingen) 2018. 448 Seiten. ISBN 978-3-95829-436-3. D: 40,00 EUR, A: 41,20 EUR.
Zukunft ist Heute und Morgen
„Es ist etwas schief gegangen, die ganze Welt ist ein rotes Warnlicht, ein Alarmzeichen. Bittere Armut, Umweltkatastrophen, Epidemien und Kriege: Überall leuchten die Signale und mahnen uns, endlich die Zukunftsfragen der Menschheit in Angriff zu nehmen“. Es sind nicht die Kassandrarufe und fatalistischen oder ideologischen Weltuntergangsprophezeiungen, die die Aufmerksamkeit erfordern, dass die Menschen verantwortungsbewusst damit umgehen müssen, dass den Menschen nicht die Erde, sondern der Mensch zur Erde gehört. Es geht darum das Bewusstsein zu wecken, dass die Menschheit vor der Herausforderung steht, umzudenken, sich umzuorientieren und gesellschaftlich umzuorganisieren, kurz: neue Lebensformen zu finden (Weltkommission „Kultur und Entwicklung“, 1995). Dafür sind Faktenwissen und Empathie gefragt, Realismus und Visionen angeraten und die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel erwünscht (Matthias Horx, Das Buch des Wandels. Wie Menschen Zukunft gestalten, 2009, www.socialnet.de/rezensionen/9735.php).
Entstehungshintergrund
In den Zeiten der sich immer interdependenter, entgrenzender und globaler entwickelnden Welt wird eine Frage immer bedeutsamer: Wie kann es gelingen, dass sich die ökonomische, ökologische und humane Entwicklung gerechter und menschenwürdiger gestaltet und wir tatsächlich von der vielberufenen EINEN WELT reden und in ihr leben können. Die gegenwartsbezogenen, zukunftsorientierten und generationenbewussten Herausforderungen sind spätestens seit der im ersten Bericht an den Club of Rome 1971 erfolgten Warnung präsent: Die Grenzen des (ökonomischen) Wachstums sind erreicht, wie auch die seitdem immer wiederkehrenden Prognosen, dass es ein „business as usual“ nicht weiter geben dürfe, sondern dass die Menschheit sich auf eine gegenwartsbezogene, zukunfts- und generationenorientierte tragfähige Entwicklung besinnen müsse. Zum Paradigmenwechsel rufen deshalb seit langem Theoretiker und Praktiker als Weltzustands-Analysten auf: „Die Globalisierung wird nur neu begründet werden können, wenn die Wohlstandsgewinne gerechter verteilt werden“. Es sind (auch) die wachstumsorientierten VertreterInnen, die fordern, dass „Wachstum … immer weniger mit einem zunehmenden Verbrauch an Ressourcen verbunden“ werden muss.
Herausgeber, Autorinnen und Autoren
Der Vorstandsvorsitzende des Hamburger Handels- und Dienstleistungskonzerns, Otto Group, Alexander Birken, gibt den Sammelband „ZukunftsWerte“ mit dem Bewusstsein heraus, dass „unsere Welt, wie wir sie kennen, ( ) vor zahlreichen Umbrüchen (steht), die Chancen und für unsere und für nachfolgende Generationen bereithalten“. Er lässt darin 35 Autorinnen und Autoren zu Wort kommen, und er präsentiert 22 Künstlerinnen und Künstler, die mit ihren Werken kreative Fragen und Antworten stellen.
Aufbau und Inhalt
In sechs Kapiteln werden die Fragen thematisiert, „ob wir als Unternehmen und Gesellschaft smarter werden und intelligente Lösungen entwickeln, die das Zusammenleben einer wachsenden Bevölkerung auf immer kleinerem Raum ermöglichen, die Klimakatastrophe verhindern, endlich den Hunger besiegen und allen Menschen eine Perspektive der Teilhabe eröffnen“.
Im ersten Kapitel reflektieren und analysieren fünf Experten – Ernst Ulrich von Weizsäcker, Chandran Nair, Joachim Schellnhuber, Eberhard Brandes und Michael Otto – Aspekte zum „Klimawandel“ und entwickeln Perspektiven für globale Nachhaltigkeit. In dem das Kapitel abschließenden Portfolio I werden künstlerische Arbeiten von drei Künstlern dem Themenkomplex zugeordnet: Das textile Werk „The Waiting Hours“ der französisch-US-amerikanischen Bildhauerin Louise Bourgeois (1011 2010), zwei Bilder des Künstlers Anselm Kiefer aus dem Werkzyklus „Die Ungeborenen“ und zwei Werke des britischen Künstlers Matthew Ritchie: „The Planet Buyer“ (1999) und „Parents and Children“ ((2000).
Im zweiten Kapitel beziehen vier Wissenschaftler – Paul Msason, Harold James, Wilhelm Heitmeyer und Peter Bofinger – Stellung zur Frage: „Ist die Globalisierung am Ende?“. Im Portfolio II werden mit der Feststellung, dass die Globalisierung auch eine Geschichte der globalen Umbrüche ist, die Arbeit „Mappa“ (1988) des italienischen Graphikers, Malers und Objektkünstlers Alighiero Boetti (1940 – 1994), zwei Bilder der US-amerikanischen Malerin Inka Essenhigh: „Arrow of Fear“ und „Red Satanic Flames“ (2002), und die Abbildung „Podium“ (2000) des Medien—Illusionisten Thomas Demansd, einbezogen.
Mit der Frage „Muss die Wirtschaft ihre Werte überdenken?“ setzen sich Harald Welzer, Reinhard Kardinal Marx, Wolfgang Huber und Nicola Leibinger-Kammüller auseinander. Die Feststellung, dass „auf der Schattenseite unseres Wirtschaftssystems ( ) Armut und Ausweglosigkeit (herrschen)“, wird im Portfolio III mit der Fotoserie „Trona – Armpit of America“ (2008) des Fotokünstlers und Filmemachers Tobias Zielony charakterisiert.
Die Prognose, dass wir durch „Digitalisierung und … Aufstieg der künstlichen Intelligenz“ am Beginn einer vierten industriellen Revolution stehen, wird im vierten Kapitel vom Informatiker Chrisatian Bauckhage, vom Gewerkschafter Reiner Hoffmann, dem Journalisten Evgeny Morozov und dem Zeitungsverleger Mathias Döpfner diskutiert. Das Portfolio IV verdeutlicht bildhaft, dass sich durch die Digitalisierung die Grenzen zwischen dem Virtuellen und dem Materiellen immer weiter auflösen, aufgezeigt durch die Installation des Medienkünstlers Matthew Barney: „CREMASTER4“, mit Thomas Demands „Copyshop“ (1999), den Darstellungen der „Neuen Sachlichkeit“ durch den Industriefotografen Albert Renger-Patzsch (1897 – 1966), den seriellen Abbildungen des Foto- und Konzeptkünstlers Christopher Williams und den Installationen der südkoreanischen Künstlerin Haegue Yang.
Die „Zukunft der Bildung“ wird sich durch die Digitalisierung der Wirtschaft in neuen Herausforderungen zeigen. Weil Wissen künftig immer besser von Algorithmen aufbereitet wird, muss es künftig nicht mehr mit traditionellen Mitteln erworben werden: „In den Mittelpunkt treten stattdessen die Vermittlung von Kulturtechniken und der Umgang mit künstlicher Intelligenz“. Diesen radikalen Kurswechsel in der Bildungspolitik reflektieren die Berliner Soziologin und Sozialforscherin Jutta Allmendinger, der Politiker und Finanzminister Olaf Scholz und der Ökonom Axel Plünnecke. Im Portfolio V werden blinde Fortschritts-, unreflektierte Wachstums- und gedankenlose Gefolgschaftsgläubigkeit mit der bearbeiteten Abbildung des Leipziger Fotografen Andreas Gursky: „Union Rave“ (1995), den Buchstaben- und Zahlenbildern des griechischen Arte-Povera-Künstlers Jannis Kounellis (1936 – 2017), mit der ironischen und vieldeutigen Bildhaftigkeit des Fotos von Rodney Graham: „Allegorie of Folly“ (2005) und der Collage „Announcement Yet“ (2005) der polnischen Künstlerin Paulina Olowska. ins Bild gebracht
„Die Metropolen sind globale Gravitationszentren und werden zu Bühnen der internationalen Aufmerksamkeitsökonomie“. Mit dieser Charakterisierung wird im sechsten Kapitel nach der „Zukunft der Metropolen“ gefragt. Der britische Historiker Peter Frankopan stellt die „Geschichte der globalen Stadt“ dar; der Volkswirtschaftler Bernd Hansjürgens präsentiert mit dem „Risikolebensraum Megastadt“ Strategien für eine nachhaltige Entwicklung; der britisch-kanadische Journalist und Kolumnist Doug Saunders reflektiert über das „Jahrhundert der Städte und die Herausforderung der Nachhaltigkeit“. Der Stuttgarter Architekt Jürgen Mayer H. macht sich Gedanken über die „Stadt heute“, als Möglichkeitsraum für die Stadt von Morgen. Der Journalist Andrian Kreye fragt mit dem Beitrag „Die Freiheitsstatue Deutschlands“ nach der Symbolik und Aussagekraft der Hamburger Elbphilharmonie als „neue Kathedrale der Musik“. Der Dirigent Kent Nagano setzt sich mit dem Mäzenatentum auseinander und will darin gemeinwohlorientiertes Denken und Handeln erkennen. Der Dramaturg und Intendant des Hamburger Thalia-Theaters, Joachim Lux, erhofft sich für die „Zukunft des Theaters auf der Bühne der Metropole“ ein soziales und solidarisches Mittel zur Überwindung der zunehmenden gesellschaftlichen und politischen Spaltung der Gesellschaft. Im Portfolio VI wird mit der Fotoserie von Stan Doughlas der Kontrapunkt von Fortschritt und Verfall, von fehlgeschlagener Utopie und den Grenzen der Euphorie und Moderne in und um Detroit/Michigan (1997/98) dokumentiert. Der kanadische Fotokünstler Jeff Wall illustriert mit der Abbildung „Restoration“ (1993) die Arbeiten von Restauratoren am Bourbaki-Panoramabild in Luzern.
„Die Zukunft des Konsums“ wird im siebten Kapitel thematisiert. Der Philosoph Peter Sloterdijk weist mit seinem Beitrag „Der Mensch und seine Dinge“ darauf hin, dass eine „Entdeckung des Überflüssigen“ angesagt ist und wirksam werden sollte. Der an der Universität in London lehrende Alltags- und Konsumgeschichtler Frank Trentmann zeigt das Dilemma auf, dass Konsum uns zu dem macht, wie wir sind; andererseits unser Konsumdenken und -handeln bewirkt, die humane Weiterexistenz der Menschheit zu zerstören. Der Kommunikationswissenschaftler Peter Wippermann macht deutlich, dass wir eine Konsumethik und eine neue ökonomische Vernunft entwickeln müssen. Die österreichische Konsum- und Marktforscherin Helene Karmasin thematisiert die sich wandelnden und verändernden Motive und Verlockungen der Haben- und Kaufmotive im digitalen Zeitalter. Der Marketingexperte Florian Heinemann zeigt die Chancen und Fallstricke auf, wie sie sich bei internationalen Start-up- und Innovationsprojekten ergeben. Im Portfolio VII wird aufgezeigt, dass und wie Konsum gesellschaftlichen Status verschafft. Die mexikanische Fotografin Daniela Rossell bringt das mit ihrer Bildserie „Third World Blondes“ (2000) zum Ausdruck. Der US-amerikanische Maler Lari Pittman öffnet die (verschlossenen) Innenräume. Die Fotografin und Filmemacherin Taryn Simon zeigt mit dem Foto „U.S.Customs and Border Protection“ das Gewirr der Gegenstände, Produkte und Lebensmittel, die der US-amerikanische Zoll innerhalb von 48 Stunden am Terminal 4 des Flughafens JFK beschlagnahmt hat. Andreas Gurksy irritiert mit dem Foto vom aufgeräumten und sauberen „Times Square“ in London (1992) und den Blick in einen diskreten Tresorraum einer Züricher Bank; und die amerikanische Künstlerin Laurie Simmons vermittelt mit dem Foto „Walking Purse“ (1989) sogar den Eindruck, dass Dinge, Taschen, weglaufen können.
Die in den Portfolios dar- und den Texten gegenübergestellten künstlerischen Arbeiten stammen alle aus der privaten Kunstsammlung Goetz. Die Kunstsammlerin und Kuratorin Invild Eva Regina Goetz gibt in dem von Thomas Huber mit ihr geführtem Gespräch ihre Motive, Motivationen und Zielsetzungen auf: „Ein Sammler ist nur dann ein Sammler, wenn seine Leidenschaft sein Kalkül überwältigt“. Mit mehr als 4.200 künstlerischen Werken ist die Sammlung Goetz eine der weltweit größten Kunstsammlungen für Gegenwartskunst. Das Foto „Walking Cake II“ mit der Aufschrift „Happy Birthday“ von Laurie Simmons soll auf das Schenkungs- und Mäzenatentum der Sammlerin hinweisen.
Der konzernunabhängige Verleger Gerhard Steidl tritt mit seinem Schlusstext des Sammelbandes für „Print Local“ ein, für ein verantwortungsbewusstes Büchermachen, das sich künstlerisch und handwerklich (nicht feindselig) abgrenzt von den digitalen Produktionen: „Leserinnen und Leser sind nämlich etwas anderes als User oder Nutzer, sie sehen im physischen Buch mehr als eine Quelle von Information oder Unterhaltung. Es ist ihnen mehr wert“. Er informiert über „Informationsquellen zu nachhaltiger Buchproduktion“, und er stellt in dem „Glossar zu Papierproduktion und -verarbeitung“ vor, wie eine verantwortliche und nachhaltige Buchherstellung aussieht.
Fazit
Wie nicht anders zu erwarten, beruhen die vielfältigen, kooptiven und konträren Argumentationen, wie werteorientiertes wirtschaftliches Denken und Handeln in der Zukunft aussehen soll, nicht vordergründig auf revolutionärem Bombardement, sondern sie werden eher mit evolutionären Bandagen geführt. Die Autorinnen, Autoren und Künstler jedoch sind sich in ihren Argumenten, Analysen, Anamnesen und Akklamationen einig darin, dass es eines verstandes- und emotionsbewussten Perspektivenwechsels und Retourprogramms bedarf, um die protektionistischen, neoliberalen, nationalistischen, ausbeuterischen, fundamentalistischen und populistischen Tendenzen eines autoritären, demokratie- und menschenfeindlichen Kapitalismus zu überwinden. Die ehrliche und verantwortungsbewusste Suche nach einer Wirtschafts-, Haben/Sein- und Konsumethik hin zu einer „Wertschöpfung des Humanen“ (Hans Lenk, Human zwischen Öko-Ethik und Ökonomik, 2018, www.socialnet.de/rezensionen/23859.php) bedarf der Aufmerksamkeit, der Anerkennung und des Mittuns.
Das Buch „ZukunftsWerte“ sollte auf den Arbeits- und Präsentiertischen derjenigen liegen, die sich der individuellen und kollektiven, lokalen und globalen Verantwortung bewusst sind, an der Gestaltung einer gerechteren, friedlicheren, also humanen EINEN WELT mitzuwirken!
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 14.06.2018 zu:
Alexander Birken (Hrsg.): ZukunftsWerte. Verantwortung für die Welt von Morgen. Steidl
(Göttingen) 2018.
ISBN 978-3-95829-436-3.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/24175.php, Datum des Zugriffs 30.09.2023.
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