Julia Prieß-Buchheit (Hrsg.): Drei grundlegende Fragen der empirischen Sozialforschung
Rezensiert von Prof. Dr. Nicole Biedinger, 02.08.2018

Julia Prieß-Buchheit (Hrsg.): Drei grundlegende Fragen der empirischen Sozialforschung. Ergebnisse eines transdisziplinären Diskurses. Waxmann Verlag (Münster, New York) 2018. 52 Seiten. ISBN 978-3-8309-3749-4. 12,90 EUR.
Thema
Das Buch behandelt grundlegende Fragen der empirischen Sozialforschung und stellt dabei die Vorträge eines Abschlusstreffens einer diesbezüglich eingerichteten Forschungseinheit „Aspekte der Empirischen Sozialforschung“ in einzelnen Kapiteln dar. Die Kapitel orientieren sich an den folgenden drei Hauptfragen:
- Gilt eine Erfahrung grundsätzlich nur für jene Person, die diese Erfahrung selbst gemacht hat?
- Ist in den Erfahrungswissenschaften ein methodisch gesicherter Übergang von partikularen empirischen Aussagen zu allgemeinen empirischen Aussagen durchführbar?
- Unter welchen Bedingungen ist dabei eine Erfahrung Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zugänglich, die außerhalb der Kultur stehen, innerhalb derer eine Person diese Erfahrung gemacht hat?
Herausgeberin
Julia Prieß-Buchheit studierte Pädagogik, Psychologie und Kriminologie und promovierte und habilitierte am Lehrstuhl für Berufs- und Wirtschaftspädagogik der Christian-Albrechts-Universität Kiel.
Entstehungshintergrund
Von 2013 bis 2015 wurde in fünf europäischen Ländern das EU-Projekt „Domestic Violence Met by Educated Women“ durchgeführt (Grundtvig-Projekt). Auslöser war eine neue Konvention zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen. Das Projekt wurde in Kooperation von Frauenverbänden in Deutschland, Finnland, Rumänien, Slowenien und Schweden durchgeführt. Es sollten vor allem zwei Fragestellungen bearbeitet werden: erstens sollte geklärt werden, was in den beteiligten Ländern unter häuslicher Gewalt gegen Frauen verstanden wird und zweitens wie diese vermieden oder minimiert werden können.
Aufbau
Das Buch umfasst sieben Kapitel, die zwar in sich eigenständig scheinen, aber sehr eng verknüpft sind, sodass sich eine gemeinsame Lektüre empfiehlt. Die Deutsche Nationalbibliothek bietet Einblick in das https://d-nb.info/1151898465/04 vollständige Inhaltsverzeichnis.
Inhalt
Julia C. Prieß-Buchheit: Erfahrungswissenschaftliches Forschen. Gegenwärtige Probleme bei einer Fragebogenerhebung zum Thema Gewalt und Julia C. Prieß-Buchheit: Wissenschaftstheoretische Aspekte der Empirischen Sozialforschung. Diese eher einleitenden und strukturierenden Beiträge stellen zunächst den Anlass des Gesamtprojekts vor, mit den zwei Zielen, das Verständnis von Gewalt gegen Frauen in der Familie herauszuarbeiten und nach Vermeidungsmöglichkeiten zu suchen. Trotz der Einigung auf eine gemeinsame Gewaltdefinition im Projekt ergaben sich Problemfelder. Zunächst wurde in Frage gestellt, ob eine Befragung in der Lage sei, erfahrungswissenschaftlich nachvollziehbare Aussagen zu machen, zumal es um Handlungen in verschiedenen Ländern ginge, die zudem außerhalb der Wahrnehmungs- und Wertemuster der Forschungsteams lagen. Ausgelöst wurde diese fundamentale Kontroverse aufgrund einer Unterredung zweier Personen, die sich nicht einigen konnten, ob Schläge im häuslichen Rahmen gemäß der Istanbul-Konvention als gewalttätige Handlung zu sehen seien oder als Akt der Anerkennung. Diese Auseinandersetzung, bei der keine Einigung hergestellt werden konnte, wurde als Beleg für den fehlenden prädiskursiven Konsens angeführt.
Johannes Peter Petersen: Teil 1: Reichweite der Geltung und Übertragbarkeit von Erfahrungen. Der Autor geht der ersten Hauptfragestellung nach, ob man jede Erfahrung grundsätzlich auch selbst gemacht haben muss. Hierzu stellt er Folgefragen auf, die nacheinander beantwortet werden:
- Was heißt: Eine Person macht eine Erfahrung?
- Was bedeutet Geltung der Erfahrung?
- Können sich mehrere Personen eine Erfahrung teilen, oder anders formuliert: haben mehrere Personen eine gleiche Erfahrung?
- Und was heißt Gleichheit der Erfahrungen?
Peter Krope: Teil 2: Von partikularen zu allgemeinen empirischen Aussagen. Der Autor geht der zweiten Hauptfragestellung nach der Verallgemeinerungsfähigkeit kurz nach. Er kommt zu dem Schluss, dass eine eher naturwissenschaftliche Denkweise dazu führen wird, dass beide subjektiven Darstellungen als tatsächliche Gewalt in der Familie zu interpretieren sind. Dies unterscheidet sich jedoch von einem methodisch-konstruktivem Hintergrund, hierzu wird der Begriff der „dialogischen Iteration“ eingeführt.
Nicolaus Wilder: Teil 3: Über die Bedingungen der Möglichkeit eines interkulturellen Erfahrungsaustausches. Nicolaus Wilder geht der dritten Hauptfragestellung nach der kulturellen Differenz nach. Er definiert zunächst den Kulturbegriff. Danach hält er auf Basis der Ethnologie und Ethnografie fest, dass es eine Herausforderung ist, die abweichende Deutung des Geschlagenwerdens als eine kulturbedingte Differenz zu beschreiben. Daraus wird mit Rückbezug auf die Hermeneutik und den divinatorischen Akt der zentrale Akt des Verstehens betont. So dass der Autor damit abschließt, dass „…diese nur dann angemessen interpretiert werden können, wenn versucht wird, dass je kulturspezifische Bedeutungsgewebe zu rekonstruieren und die zu messende Erfahrung darin einzubetten, sie also im Kontext ihrer lebensweltlichen Zusammenhänge zu deuten.“ (S. 37)
Jürgen Mittelstraß: Teil 4: Theorie und Empirie. Dieser Beitrag versucht, die drei gestellten Fragen nun methodisch und soziologisch zu beantworten. Mittelstraß kommt mit seinem Beitrag zu dem Ergebnis, dass man zwischen zwei Erfahrungsbegriffen unterscheiden muss, nämlich einer lebensweltlichen (vor-theoretischen) und einem methodisch vermittelten (wissenschaftlichen) Erfahrungsbegriff.
Nicolaus Wilder, Jochen Schäfer, Wilhelm T. Wolze und Julia C. Prieß-Buchheit: Fragen zu den Grundlagen der empirischen Sozialwissenschaften – Versuch eines Resümees. Dieser abschließende Beitrag versucht ein Resümee aus den vorherigen zu ziehen. Grundsätzlich fühlen sich die meisten Beteiligten dem methodischen Konstruktivismus nahe und resümieren drei zentrale Folgefragen: Wie lassen sich adäquate theoretische Mittel für die empirische Sozialforschung bestimmen bzw. entwickeln? Wie lassen sich empirische Resultate verallgemeinern? Und Lassen sich empirische Untersuchungen und deren Interpretationen kulturunabhängig durchführen? Darüber hinaus wird hervorgehoben, dass „…Theorien nicht als Allgeneralisierungen empirischer Aussagen zu betrachten sind, sondern als Mittel zur Problemidentifikation, -explikation und -lösung.“ (S. 51)
Diskussion
Der Beitrag gibt einen kurzen Überblick über eine wissenschaftstheoretische bzw. empirische Kontroverse, die in einem interdisziplinären Forschungsprojekts aufgetreten ist. Dabei werden Beiträge eines Abschlusstreffens verschriftlicht. Als projektunbeteiligter Leser ist der Mehrwert dieses Werkes relativ gering, da es sich um grundsätzliche Diskussionen handelt, die meiner Meinung nach schon längst beantwortet sind bzw. niemals beantwortet werden können (z.B. quantitative vs. qualitative Sozialforschung).
Ein Mehrwert wäre es gewesen, wenn die einzelnen Beiträge konkrete Erklärungsansätze lehrbuchartig beschrieben hätten, doch leider bleibt dies an den meisten Stellen aus. Dies lässt sich jedoch auch dadurch erklären, dass es sich um eine Verschriftlichung von Vorträgen des Abschlusstreffens handelt. Leider führt dies dazu, dass viele Beiträge keine in sich eigenständige Fragestellung bearbeiten und dem Leser die Antworten auf die ohnehin oft vagen Fragen nicht ersichtlich werden und somit oft der rote Faden fehlt. Nichtsdestotrotz handelt es sich um einen eindrucksvollen Beleg dafür, welche Schwierigkeiten und grundsätzlichen Diskussionen bei transdisziplinären Projekten auftreten können.
Fazit
Das vorliegende Buch stellt die Ergebnisse der Forschungseinheit „Aspekte der Empirischen Sozialforschung“ eines interdisziplinären Forschungsprojekts vor. Dabei werden drei grundlegende Fragen der empirischen Sozialforschung in den Vordergrund gestellt:
- Gilt eine Erfahrung grundsätzlich nur für jene Person, die diese Erfahrung selbst gemacht hat?
- Ist in den Erfahrungswissenschaften ein methodisch gesicherter Übergang von partikularen empirischen Aussagen zu allgemeinen empirischen Aussagen durchführbar?
- Unter welchen Bedingungen ist dabei eine Erfahrung Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zugänglich, die außerhalb der Kultur stehen, innerhalb derer eine Person diese Erfahrung gemacht hat?
Die Antworten werden in Form einzelner Kapitel gegeben, die eine Verschriftlichung von Vorträgen der Abschlussveranstaltung sind.
Rezension von
Prof. Dr. Nicole Biedinger
Empirische Sozialforschung und Soziologie
Website
Mailformular
Es gibt 5 Rezensionen von Nicole Biedinger.