Yascha Mounk: Der Zerfall der Demokratie
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 16.04.2018
Yascha Mounk: Der Zerfall der Demokratie. Wie der Populismus den Rechtsstaat bedroht. Droemer Knaur (München) 2018. 350 Seiten. ISBN 978-3-426-27735-5. D: 19,99 EUR, A: 20,60 EUR.
Anti-Demokratie ante portas?
Der Mensch ist ein zôon politikon (Aristoteles). So heißt es, seit Menschen bewusst geworden ist, dass alles, was sie denken und tun politisch ist, also allgemeinverbindlich und sozial verstanden werden muss. Die Suche nach einer Lebens- und Regierungsform, die diesen Anspruch in die Wirklichkeit des individuellen und lokal- und global-gesellschaftlichen Daseins aller Menschen auf der Erde überträgt, hat die Menschheit in ihrer Entwicklung auf viele Wege geführt: autoritäre, hierarchische, diktatorische, fundamentalistische und demokratische. Die Irrungen, Ideologien, Imponderabilien, Instrumentalisierungen, Illusionen und Ideale haben zu der ethischen Auffassung geführt, dass, wie es in der „globalen Ethik“, der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, unmissverständlich und eindeutig heißt, die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt bildet. Dieser Grundsatz verwirklicht sich in der Demokratie, die als Macht und Herrschaft des Volkes bezeichnet wird. Als ideale, erstrebenswerte Lebens- und Regierungsform schafft sie die Werte und Voraussetzungen, die allen Menschen auf der Erde ein gutes, gelingendes Leben ermöglichen. Mit „Good governance“ wird diese Bedingung eingefordert (Pierre Rosanvallon, Die gute Regierung, 2016, www.socialnet.de/rezensionen/20955.php). Die Frage „Wer regiert die Welt?“ (Ian Morris) ist deshalb relevant; und es bedarf des ständigen, anstrengenden, intellektuellen Bemühens, nach den Bedingungen Ausschau zu halten „Wer (warum) überlebt?“ (Ben Sherwood) und der Suche nach dem Idealzustand eines demokratischen Daseins. Dazu ist die aktive Verteidigung der Demokratie notwendig, wie auch die Kritik daran (Pierre Rosanvallon, Die Gegen-Demokratie. Politik im Zeitalter des Misstrauens, 2017, www.socialnet.de/rezensionen/23619.php). Demokraten sind überzeugt: Bei der Etablierung und Weiterentwicklung der Regierungsform der Demokratie dürfen die Grundgedanken der gleichberechtigten Herrschaft des Volkes keinen Schaden nehmen (vgl. dazu: Horst Dreier, Staat ohne Gott. Religion in der säkularen Moderne, 2018, www.socialnet.de/rezensionen/24165.php).
Entstehungshintergrund und Autor
„Wer nicht sagen kann, was demokratisch ist, muss populistisch denken“, dies verkündet der an der US-amerikanischen Princeton-University lehrende Politikwissenschaftler Jan-Werner Müller. Er zeigt auf, dass populistische Einstellungen und Aktivitäten überwiegend auf einfachen, moralisch motivierten Unterscheidungskriterien beruhen, die Populisten zu Demokratiefeinden machen: „Das entscheidende Kriterium ist …, dass sich im Diskurs der Populisten ein dezidierter Antipluralismus findet und dass sie sich stets auf das Volk als eine eindeutig moralische Größe beziehen“. Sie lassen sich auf drei Denk- und Handlungsstrategien reduzieren: „Die Vereinnahmung des gesamten Staates; Loyalitätsbeschaffung durch Massenklientelismus; Unterdrückung der Zivilgesellschaft und, wenn möglich, der Medien“ („Lügenpresse“). Sind Populisten an der Macht – das zeigt sich in mehreren Ländern – richten sie diese Macht ganz schnell darauf aus, eigene, populistische Gesetze und Verfassungen zu erlassen und damit den „Volkswillen“ geradezu auszuhebeln (siehe dazu die Politik in Ungarn, in Polen, in der Türkei … ). Populistische Einstellungen, die sich in Haltungen zeigen wie: „Mir passt die ganze Richtung nicht“, lassen sich nicht einfach abtun in Denk- und Verhaltensweisen von ewig Gestrigen, von Nationalisten, Faschisten oder Rassisten. Denn das ist der entscheidende Wert demokratischen Denkens und Handelns: Die demokratische Auseinandersetzung mit Argumenten und legitimierten Rechtsmitteln auch gegenüber Demokratiegegnern und -feinden immer wieder neu zu führen. Das aber kann nur gelingen, wenn ich selbst auf festem, demokratischem Boden stehe! (Jan-Werner Müller, Was ist Populismus?, 2016, www.socialnet.de/rezensionen/21338.php).
Der an der Harward University lehrende Politikwissenschaftler Yascha Mounk zeigt auf, dass im Wesentlichen zwei Gründe dafür verantwortlich sind, dass die Regierungsform(en) der Demokratie in den demokratischen Staaten durch populistische, antidemokratische Politik bedroht sind: Da ist zum einen die Tendenz, dass die politischen Eliten, wie etwa in Frankreich, Italien oder Deutschland, Politik als technokratische Lösungsmöglichkeiten betrachten und damit zunehmend die Volksnähe verlieren; zum anderen, wie in den USA, in Ungarn, Polen und in der Türkei, immer mehr Macht und Zustimmung im Volk finden und den Rechtsstaat bedrohen.
Aufbau und Inhalt
Die Studie gliedert der Autor, neben den Einleitung, die er titelt mit „Losing our Illusions“, und der Schlussbemerkung mit der Aufforderung „Für unsere Überzeugung kämpfen“ versieht, in drei Kapitel:
- Im ersten geht es um „die Krise der liberalen Demokratie“;
- im zweiten werden „die Gründe für die Krise“ thematisiert;
- und im dritten Teil präsentiert Mounk „Gegenmittel“ gegen Populismen.
Wie kann es dazu kommen, dass Menschen, die in Demokratien leben, die garantierten persönlichen und kollektiven Freiheiten genießen, sich auf das demokratische Recht berufen können, Verlockungen und Versprechen nachlaufen, die von Autokraten, Diktatoren und Demokratiefeinden verfasst werden und bereit sind, ihr Demokratiebewusstsein und -verständnis „auf den Müllhaufen der Geschichte“ zu werfen? Wie kommt es, dass mehr als zwei Drittel der vor 1950 geborenen Amerikaner es als sehr wichtig empfinden, in einer Demokratie zu leben, während bei den nach 1980 Geborenen es weniger als ein Drittel sind? Dass noch vor zwei Jahrzehnten einer von sechzehn US-Amerikaner ein Militärregime als ein gutes Regierungssystem hielt, während heute jeder sechste ein solches begrüßen würde? Dass noch vor zwanzig Jahren sich jeder sechste Deutsche einen starken Anführer im Staat vorstellen konnte, während sich heute jeder dritte eine solche „Heilsfigur“ wünscht? Dass diese Vorstellungen von Regierungsführung und Macht jeder dritte Franzose und jeder zweite Italiener hat?
Mounkanalysiert die deutlich erkennbaren und wirkenden Veränderungsprozesse beim theoretischen und praktischen demokratischen Denken und Handeln der Menschen, indem er den historischen Verlauf im öffentlichen Bewusstsein und Verständnis über die Vorteile und Errungenschaften in der demokratischen Entwicklung national und global thematisiert. Er zeigt auf, dass die im lokalen und globalen Demokratisierungsverlauf unverbrüchlich und selbstverständlich zusammengedachten Werte „Liberalismus“ und „Demokratie“ brüchig geworden sind und es eines neuen Nachdenkens über wirtschaftliche, gesellschaftliche und soziale Entwicklung in der sich immer interdependenter und entgrenzender (Einen?) Welt bedarf: Eine Reform der lokalen und globalen (kapitalistischen) Wirtschaftspolitik; eine Neudefinition des modernen Nationalstaates in einer multiethnischen Demokratie; ein neues Wagnis der individuellen, kollektiven und medialen Freiheit und Sicherheit.
Die sichtbaren und für Demokraten schmerzhaften Anzeichen, dass Autokraten und Demokratiefeinde in vielen Regionen in der Welt mit ihren einfachen Ja-Nein-Parolen Erfolg haben und Mehrheiten gewinnen können, macht es dringend notwendig, sich über die Werte, die eine Demokratie – und nur sie – garantiert, im Klaren zu sein: Freie Wahlen, allgemeines Wahlrecht, Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit, Gewaltenteilung. Nur auf der Grundlage dieses demokratischen Bestandes ist es möglich, Fehlentwicklungen und Aushebelungen der Demokratie, etwa in den verbrämten Formen einer „illiberalen Demokratie“ oder eines „undemokratischen Liberalismus“, erkennen und entgegen treten zu können. Nur dann lässt sich nachweisen, in welche Deckmantel und Masken sich Populismus verkleidet, um den Anschein von „Volkswillen“ zu erzeugen.
Demokratie ohne Recht, Recht ohne Demokratie und Fake News in den Sozialen, Print- und virtuellen Medien sind die Totengräber der Demokratie. Es sind ökonomische Abstiegs- und Ausschlussängste, und es sind nicht zuletzt Zukunftsängste, die von populistischen Untergangsszenarien geschürt und gesteuert werden. Die aktuellen Wahrnehmungen der politischen Instabilität zeigen sich in den Enttäuschungen und Frustrationen, dass die (gewohnten) Versprechen und Erwartungshaltungen in einem demokratischen Regime (scheinbar) nicht mehr gelten: Soziale Aufstiegsmöglichkeiten, Sicherheit, Verlässlichkeit und Wahrhaftigkeit der politischen und gesellschaftlichen Informationen, (scheinbar) homogene Bürgerschaft.
Wenn es so ist, dass die Mehrheiten in einer demokratisch sich verstehenden Gesellschaft (immer noch) für demokratische Werte eintreten und Demokratiefeinde eine Minderheit darstellen, kommt es darauf an, dass die Demokraten eindeutig, selbstbewusst und unmissverständlich demokratische Rechte vertreten. „Um korrupte oder populistische Regierungen aus dem Amt zu jagen, müssen die Bürger Verstöße gegen demokratische Regeln und Normen aufdecken. Sie müssen auf die Straße gehen, um zu zeigen, dass die Populisten nicht in ihrem Namen sprechen“. Diese Zivilcourage und dieser soziale Mut ist nicht im Elfenbeinturm, auch nicht im stillen Kämmerlein und nicht als Robinson, sondern nur als demokratische Bewegung zu erwerben. Es gilt, den „Nationalismus (zu) zähmen“, etwa mit einem „inklusiven Patriotismus“, der auf den freiheitlich-demokratischen Menschenrechten gründet. Es gilt, der ungezähmten Wirtschaft demokratische Zügel anzulegen und so das uneingeschränkte und nicht relativierbare Recht auf ein gutes, gelingendes Leben für alle Menschen zu ermöglichen.
Nur wenn es gelingt, das Vertrauen in die Politik herzustellen, Politik als eine allgemeinverpflichtende Herausforderung für alle Individuen und Gesellschaften zu begreifen, wird Demokratie als die beste aller möglichen Lebensformen akzeptiert und angestrebt werden können. Dazu braucht es den mündigen und aufgeklärten Bürger, der durch Bildung und Erziehung zum Demokraten wird. Politische Bildung darf kein(Lehr-)Fach sein, sondern muss als ganzheitliche Aufgabe verstanden werden. Es gilt die Herausforderung zu erkennen, wie es gelingen kann, die Menschen davon zu überzeugen, dass sie gebildet und aufgeklärt sein wollen!
Fazit
Man sagt, dass jeder Mensch die Sehnsucht nach Freiheit in sich trägt. Ein demokratisches Bewusstsein fällt weder vom Himmel, noch liegt es in den Genen. Es ist nicht in Stein gemeißelt; und es darf schon gar nicht per Ordre du Mufti oder ideologisch diktiert werden. Vielmehr bedingt demokratisches Denken und Handeln ein stetiges, lebenslanges, anstrengendes Bemühen danach. Demokratie beruht demnach darauf, dass beim echten, ehrlichen, gefühlvollen Miteinander und Gegenüber der Menschen es sowohl notwendig ist, Augen, Ohren und Herzen aufzumachen, wie ebenso die Augen zu schließen, um den Anderen sehen zu können. Als Jean-Paul Sartre und Albert Camus in den 1940er Jahren der „Verlorenheit des sinnsuchenden Individuums in einem gleichgültigen, stummen Universum“ mit ihrem Existentialismus entgegen traten, da appellierten sie an die Verantwortung des Einzelnen, um damit eine „globale Verantwortungsethik“ einzufordern ( vgl. dazu: Christoph David Piorkowski, Fremde in der Welt und frei im Leben, Programm, DLF, April 2018, S. 79 ).
Der Aufruf von Yascha Mounk, sich gegen den „Zerfall der Demokratie“ zur Wehr zu setzen, mit den wirksamen Mitteln und Argumenten der Demokratie den Populisten Paroli zu bieten und ihr menschenfeindliches Denken und Tun aufzudecken, ist eine Ermunterung und Verpflichtung zugleich. Nur wenn es gelingt, dass die Demokraten in Bildung, Erziehung und Aufklärung die demokratischen Werte und Errungenschaften zu Gesicht und zu Gehör bringen und die Überzeugung vertreten, vermitteln und leben, dass nur die Demokratie das höchste und beste Gut der Menschen möglich macht – die Bewahrung der Menschenwürde – können wir populistische und Fake News-Verirrungen verhindern!
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 16.04.2018 zu:
Yascha Mounk: Der Zerfall der Demokratie. Wie der Populismus den Rechtsstaat bedroht. Droemer Knaur
(München) 2018.
ISBN 978-3-426-27735-5.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/24188.php, Datum des Zugriffs 25.01.2025.
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